TE Vwgh Erkenntnis 2022/4/5 Ra 2021/21/0151

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 05.04.2022
beobachten
merken

Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E02100000
E3L E05100000
E3L E19100000
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
25/04 Sonstiges Strafprozessrecht
32/07 Stempelgebühren Rechtsgebühren Stempelmarken
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht
41/02 Staatsbürgerschaft

Norm

AsylG 2005 §24
AVG §56
BFA-VG 2014 §9
EURallg
FrÄG 2009
FrPolG 2005 §66
MRK Art8
NAG 2005 §51 Abs1 Z1
NAG 2005 §51 Abs1 Z2
NAG 2005 §54 Abs5
NAG 2005 §54 Abs5 Z5
NAG 2005 §54 Abs6
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
32004L0038 Unionsbürger-RL Art13 Abs2 litd

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel, die Hofrätinnen Dr. Julcher und Dr. Wiesinger sowie den Hofrat Dr. Chvosta als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des A D, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Singerstraße 6/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. März 2021, W220 2238378-1/3E, betreffend Ausweisung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Guinea, hält sich nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts im angefochtenen Erkenntnis seit Mai 2013 durchgehend in Österreich auf. Am 15. November 2013 heiratete er eine in Österreich lebende polnische Staatsangehörige. Im Hinblick darauf wurde dem Revisionswerber mit Gültigkeit ab 3. Juni 2014 eine Aufenthaltskarte für Angehörige eines EWR-Bürgers ausgestellt. Am 1. Februar 2015 wurde der Sohn des Revisionswerbers und seiner Ehefrau in Österreich geboren; er ist polnischer Staatsangehöriger.

2        Die Ehe wurde mit 3. Oktober 2016 rechtskräftig geschieden. Am 9. Mai 2016 hatten der Revisionswerber und seine geschiedene Frau im Rahmen des Scheidungsverfahrens eine gerichtliche Vereinbarung über die gemeinsame Obsorge für ihren Sohn getroffen, wobei sich dieser „hauptsächlich im Haushalt der Mutter aufhalten“ werde. Am 7. September 2020 wurde bei der Kinder- und Jugendhilfe eine niederschriftliche Kontaktregelung getroffen, wonach der Revisionswerber seinen Sohn jeden Donnerstag um 11:30 Uhr vom Kindergarten abholen und um 18 Uhr zur Mutter zurückbringen werde sowie ihn jeden Samstag um 10 Uhr von der Mutter abholen und um 18 Uhr zurückbringen werde.

3        Der Revisionswerber hatte die Niederlassungsbehörde am 7. September 2018 von der Scheidung in Kenntnis gesetzt. Das am 27. April 2020 von der Niederlassungsbehörde informierte Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies den Revisionswerber daraufhin mit Bescheid vom 23. November 2020 gemäß § 66 Abs. 1 FPG iVm § 55 Abs. 3 NAG aus dem österreichischen Bundesgebiet aus. Es erteilte ihm gemäß § 70 Abs. 3 FPG einen Durchsetzungsaufschub von einem Monat.

4        Mit Beschluss vom 18. Dezember 2020 sprach das Bezirksgericht Hernals als Pflegschaftsgericht aus, dass der Revisionswerber verpflichtet sei, sein am 7. September 2020 vor der Wiener Kinder- und Jugendhilfe vereinbartes Kontaktrecht zu seinem minderjährigen Sohn ausschließlich im Inland auszuüben. In der Begründung wurde auf § 54 Abs. 5 Z 5 NAG Bezug genommen, wonach das Aufenthaltsrecht erhalten bleibe, wenn dem Betroffenen das Recht auf persönlichen Umgang mit dem minderjährigen Kind zugesprochen werde und das Pflegschaftsgericht zur Auffassung gelange, dass der Umgang ausschließlich im Bundesgebiet erfolgen dürfe. Es entspreche im Hinblick auf das Alter des Kindes, so das Bezirksgericht, jedenfalls nicht dem Kindeswohl, dass das Kontaktrecht des Vaters aus dem Ausland bzw. im Ausland ausgeübt werde.

5        Gegen den Bescheid des BFA vom 23. November 2020 erhob der Revisionswerber mit Schriftsatz vom 22. Dezember 2020 Beschwerde, in der er vorbrachte, dass ihm sein Aufenthaltsrecht nach § 54 Abs. 5 Z 5 NAG erhalten geblieben sei. Die Ausweisung sei gemäß § 66 Abs. 2 FPG auch deswegen unzulässig, weil er sich bereits seit elf Jahren ununterbrochen in Österreich aufhalte. In einer mit 28. Dezember 2020 datierten Beschwerdeergänzung führte der Revisionswerber das Vorbringen zur Aufenthaltsdauer konkretisierend noch aus, dass aus einem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Mai 2014 betreffend Einstellung des Asylverfahrens gemäß § 24 Abs. 2 AsylG 2005 hervorgehe, dass der Revisionswerber in Österreich am 16. Juli 2009 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt und gegen den abweisenden Bescheid des BFA vom 7. April 2010 Beschwerde erhoben habe.

6        Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 19. März 2021 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde - ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab.

7        Das Bundesverwaltungsgericht stellte zusammengefasst fest, dass der Revisionswerber von 29. Mai 2013 bis 5. November 2016 mit seiner nunmehr geschiedenen Ehefrau und seit dessen Geburt auch mit dem gemeinsamen Sohn im selben Haushalt gelebt habe. Seit der Scheidung seiner Eltern lebe der Sohn des Revisionswerbers bei seiner Mutter. Der Revisionswerber habe ein- bis zweimal pro Woche regelmäßigen persönlichen Kontakt mit ihm und leiste finanziellen Unterhalt von bis zu € 200,-- monatlich. Zuletzt sei zwischen dem Revisionswerber und seiner geschiedenen Frau vor der Wiener Kinder- und Jugendhilfe im September 2020 schriftlich eine Kontaktregelung vereinbart worden. Der Revisionswerber verfüge über ein Deutschzertifikat auf dem Niveau A1 und habe einen Freundeskreis in Österreich. Er sei von 1. Juni 2015 bis 18. Dezember 2015 und von 17. Oktober 2016 bis 31. Dezember 2016 geringfügig sowie von 1. Jänner 2017 bis 2. Februar 2018 und von 5. Februar 2018 bis 12. Juni 2020 vollversichert als Arbeiter beschäftigt gewesen. Eine Wiedereinstellungszusage seines letzten Arbeitgebers mit einem Bruttomonatsgehalt von € 1.735,13 liege vor. Derzeit habe der Revisionswerber in Österreich keinen Krankenversicherungsschutz, werde aber durch Freunde mit € 150,-- monatlich finanziell unterstützt und beziehe keine Sozialleistungen.

8        Beweiswürdigend führte das Bundesverwaltungsgericht, soweit hier relevant, aus, dass sich die Feststellungen zum Aufenthalt des Revisionswerbers auf Einsichtnahmen in das Zentrale Melderegister und das Zentrale Fremdenregister gründeten. Für die Behauptung, der Revisionswerber halte sich seit elf Jahren in Österreich auf, gebe es keine Anhaltspunkte; solche seien auch in der Beschwerde nicht substantiiert dargetan worden. Soweit in der Beschwerdeergänzung vom 28. Dezember 2020 auf einen (angeblich im Asylverfahren ergangenen) näher genannten Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 9. Mai 2014 Bezug genommen werde, sei darauf hinzuweisen, dass die in diesem Asylverfahren geführten Identitätsdaten nicht mit jenen des Revisionswerber übereinstimmten. Überdies sei dieses Asylverfahren zunächst mit dem bereits erwähnten Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 9. Mai 2014 wegen unbekannten Aufenthalts eingestellt worden und nach dessen Fortsetzung schließlich mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Mai 2015 endgültig wegen unbekannten Aufenthalts des Revisionswerbers eingestellt worden.

9        In rechtlicher Hinsicht führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass gegen den Revisionswerber, der aufgrund einer für ihn nach dem NAG ausgestellten Dokumentation rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig sei, die Frage der Zulässigkeit einer Aufenthaltsbeendigung anhand des § 66 FPG zu prüfen sei. Da die Ehe des Revisionswerbers bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens nicht bereits für mindestens drei Jahre bestanden hätte und dem Revisionswerber auch nicht die alleinige Obsorge für seinen minderjährigen Sohn übertragen worden sei, sei das Aufenthaltsrecht des Revisionswerbers bei der Scheidung jedenfalls nicht nach § 54 Abs. 5 Z 1 oder Z 3 NAG erhalten geblieben. Auch Anhaltspunkte für das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 54 Abs. 5 Z 4 NAG seien nicht hervorgekommen. Zu prüfen bleibe, ob das Aufenthaltsrecht des Revisionswerbers gemäß § 54 Abs. 5 Z 5 NAG erhalten geblieben sei. Im vorliegenden Fall sei der Tatbestand jedoch nicht erfüllt. Der Revisionswerber und seine geschiedene Ehefrau hätten im Rahmen des Scheidungsverfahrens am 9. Mai 2016 gerichtlich die gemeinsame Obsorge für ihren Sohn vereinbart. Das Recht auf persönliche Kontakte sei (mit der am 7. September 2020 vor der Wiener Kinder- und Jugendhilfe vereinbarten Kontaktregelung) nicht gerichtlich, sondern einvernehmlich geregelt worden. Demnach sei dem Revisionswerber das ihm gemäß § 187 Abs. 1 erster Satz ABGB zukommende Recht auf regelmäßige und den Bedürfnissen des Kindes entsprechende persönliche Kontakte nicht im Sinne des § 54 Abs. 5 Z 5 NAG „zugesprochen“ worden. Daran ändere auch der Beschluss des Bezirksgerichtes Hernals vom 18. Dezember 2020 nichts, in dem ebenfalls kein derartiger „Zuspruch“ bzw. keine Kontaktregelung erfolgt sei. Mangels Erfüllung eines Tatbestandes des § 54 Abs. 5 NAG sei das abgeleitete unionsrechtliche Aufenthaltsrecht des Revisionswerbers als Angehöriger einer unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgerin mit der seit 3. Oktober 2016 rechtskräftigen Scheidung erloschen. Da kein fünf Jahre dauernder rechtmäßiger Aufenthalt als Angehöriger einer unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgerin vorliege, habe der Revisionswerber auch das unionsrechtliche Daueraufenthaltsrecht gemäß § 54a NAG nicht erworben, weshalb das BFA zu Recht den Ausweisungstatbestand des § 66 Abs. 1 erster Satzteil FPG herangezogen habe.

10       In Bezug auf die bei der Prüfung der Zulässigkeit der Ausweisung vorzunehmende Interessenabwägung gestand das Bundesverwaltungsgericht dem Revisionswerber als Vater eines im Bundesgebiet lebenden minderjährigen Sohnes, für den ihm mit der Kindesmutter die gemeinsame Obsorge zukomme, er Unterhaltszahlungen leiste und in regelmäßigem Kontakt stehe, jedenfalls ein schützenswertes Familienleben zu. Die privaten Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib in Österreich seien jedoch nur schwach ausgeprägt, zumal zu seinen Gunsten nur seine rund achtjährige Aufenthaltsdauer und seine lediglich zeitweise Erwerbstätigkeit sprächen. Zudem sei zu berücksichtigen gewesen, dass der Revisionswerber seiner Verpflichtung gemäß § 54 Abs. 6 NAG erst zwei Jahre nach rechtskräftiger Scheidung nachgekommen sei, wodurch eine Befassung des BFA hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung verzögert worden sei. In Anbetracht des Alters des Sohnes des Revisionswerbers sei der lediglich virtuelle Kontakt via elektronischer Kommunikationsmittel möglich und zumutbar, zumal es am Revisionswerber liege, den Verlust des persönlichen Kontakts durch neuerliche Einreise in das Bundesgebiet unter Einhaltung der niederlassungs- und aufenthaltsrechtlichen Vorschriften so kurz als möglich zu halten. In einer Gesamtabwägung wögen die öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts des Revisionswerbers, die sich insbesondere im Interesse an der Einhaltung fremden- und aufenthaltsrechtlicher Vorschriften manifestierten, im vorliegenden Fall schwerer als die familiären und privaten Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib in Österreich. Das BFA sei somit auch unter diesem Gesichtspunkt zu Recht von der Zulässigkeit der Ausweisung ausgegangen.

11       Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG abgesehen werden können, da der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine.

12       Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

13       Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:

14       Der Revisionswerber bringt unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG zusammengefasst vor, dass die Ausweisung gemäß § 66 Abs. 2 FPG - im Hinblick auf seinen Inlandsaufenthalt seit 2009 und unter Berücksichtigung der Auswirkungen auf seinen Sohn - nicht zulässig gewesen und jedenfalls die beantragte mündliche Beschwerdeverhandlung durchzuführen gewesen sei.

15       Die Revision ist aus den genannten Gründen zulässig.

16       Was zunächst die Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers betrifft, war sie im Beschwerdeverfahren strittig. Der Revisionswerber hatte bereits in seiner Beschwerde und in der Beschwerdeergänzung vorgebracht, sich schon seit (damals) elf Jahren im Bundesgebiet aufzuhalten. Das Bundesverwaltungsgericht berief sich für seine Feststellung eines erst knapp achtjährigen Aufenthalts demgegenüber auf das nur Indizwirkung habende Melderegister (vgl. VwGH 19.8.2021, Ra 2021/21/0062, Rn. 30, mwN) und das Fremdenregister. Zur vom Revisionswerber zur Stützung seiner Behauptung ins Treffen geführten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Asylverfahren führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die dortigen Identitätsdaten nicht mit jenen des Revisionswerbers übereinstimmten. Tatsächlich handelt es sich aber bei übereinstimmendem Nachnamen, Geburtsjahr und -monat um lediglich geringfügige Unterschiede in der Schreibweise des Vornamens (mit bzw. ohne „d“ und mit „e“ statt „i“) und im Tag der Geburt (26. bzw. 20.). Ausgehend davon ließ sich eine Personenidentität nicht von vornherein ohne nähere Ermittlungen ausschließen. Auch der Hinweis des Bundesverwaltungsgerichts darauf, dass das Asylverfahren wegen unbekannten Aufenthaltes eingestellt worden sei, ändert nichts an der Notwendigkeit der Abklärung des in der Beschwerde seit 2009 behaupteten Aufenthalts. Auf Basis einer so langen durchgehenden Aufenthaltsdauer hätte das Bundesverwaltungsgericht fallbezogen jedenfalls von einer Unzulässigkeit der Ausweisung ausgehen müssen.

17       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zur Interessenabwägung gemäß Art. 8 EMRK ist nämlich bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurde eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. wiederum VwGH 19.8.2021, Ra 2021/21/0062, Rn. 25, mwN). Von einem Fehlen jeder nennenswerten Integration kann fallbezogen aber schon angesichts der immer wieder ausgeübten Berufstätigkeit und vor allem aufgrund des Vorliegens von familiären Bindungen zu seinem minderjährigen, in Österreich lebenden Sohn nicht die Rede sein. Eine allfällige Unterbrechung des Inlandsaufenthalts wäre - ebenso wie ein „Untertauchen“ während dieses Aufenthalts - je nach Dauer mit allenfalls unterschiedlichen Konsequenzen in die Interessenabwägung einzubeziehen (vgl. VwGH 18.1.2021, Ra 2020/21/0528, Rn. 11, sowie nochmals VwGH 19.8.2021, Ra 2021/21/0062, Rn. 33, jeweils mwN). Soweit das Bundesverwaltungsgericht dem Revisionswerber im Übrigen anlastet, dass er seiner Verpflichtung gemäß § 54 Abs. 6 NAG erst zwei Jahre nach rechtskräftiger Scheidung nachgekommen sei, wodurch eine Befassung des BFA hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung verzögert worden sei, wäre auch zu berücksichtigen gewesen, dass bis zur Verständigung des BFA durch die Niederlassungsbehörde wiederum über ein Jahr und sieben Monate verstrichen sind, weshalb die Verzögerung nicht ausschließlich dem Revisionswerber anzulasten war (vgl. in diesem Sinn auch VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0185, Rn. 14).

18       Aber selbst unter Zugrundelegung der vom Bundesverwaltungsgericht unterstellten Aufenthaltsdauer von (zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung) fast acht Jahren hätte die Ausweisung im Hinblick auf die dargestellte Integration des Revisionswerbers und insbesondere das Familienleben mit seinem damals sechsjährigen Sohn zumindest nicht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung bestätigt werden dürfen. § 21 Abs. 7 BFA-VG, auf den sich das Bundesverwaltungsgericht stützte, erlaubt das Unterbleiben einer Verhandlung zwar trotz deren ausdrücklicher Beantragung, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint. Der Verwaltungsgerichtshof hat aber in seiner ständigen Rechtsprechung - die vom Bundesverwaltungsgericht insoweit außer Acht gelassen wurde - auch darauf hingewiesen, bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen komme der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zu, und zwar sowohl in Bezug auf die (allenfalls erforderliche) Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Nur in eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, kann eine Verhandlung unterbleiben (vgl. etwa VwGH 7.3.2019, Ra 2018/21/0097, Rn. 21 und 22, mwN). Dass diese Voraussetzung hier nicht vorlag, ergibt sich aus dem oben Gesagten.

19       Im Hinblick auf die Zulässigkeit der Revision ist vom Verwaltungsgerichtshof noch folgender Gesichtspunkt aufzugreifen:

20       Gemäß § 54 Abs. 1 NAG sind Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern sind und die in § 52 Abs. 1 Z 1 bis 3 genannten Voraussetzungen erfüllen, zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt und es ist ihnen auf Antrag eine Aufenthaltskarte auszustellen, die das sich Kraft unmittelbar anwendbaren Unionsrechts ergebende Aufenthaltsrecht dokumentiert. § 55 Abs. 1 NAG normiert, dass Angehörigen von EWR-Bürgern das Aufenthaltsrecht gemäß § 54 NAG solange zukommt, als die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Demnach kam dem Revisionswerber jedenfalls während der Ehe mit einer polnischen Staatsangehörigen von 15. November 2013 bis zur rechtskräftigen Scheidung am 3. Oktober 2016 ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zu.

21       § 54 Abs. 5 NAG regelt (u.a.) jene Fälle, in denen trotz Scheidung der Ehe das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Ehegatten des EWR-Bürgers ausnahmsweise erhalten bleibt. Die Bestimmung lautet, soweit fallbezogen relevant, auszugsweise:

„§ 54. ...

(5) Das Aufenthaltsrecht der Ehegatten oder eingetragenen Partner, die Drittstaatsangehörige sind, bleibt bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder Auflösung der eingetragenen Partnerschaft erhalten, wenn sie nachweisen, dass sie die für EWR-Bürger geltenden Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Z 1 oder 2 erfüllen und

...

5.ihnen das Recht auf persönlichen Umgang mit dem minderjährigen Kind zugesprochen wird, sofern das Pflegschaftsgericht zur Auffassung gelangt ist, dass der Umgang - solange er für nötig erachtet wird - ausschließlich im Bundesgebiet erfolgen darf.“

22       Demnach war für die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts des Revisionswerbers nachzuweisen, dass er die für EWR-Bürger geltenden Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Z 1 oder 2 NAG (Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger bzw. ausreichende Existenzmittel und umfassender Krankenversicherungsschutz) erfüllt und der in der Ziffer 5 des § 54 Abs. 5 NAG genannte Fall vorliegt (die Tatbestände der anderen Ziffern kamen unstrittig von vornherein nicht in Betracht). In Bezug auf § 54 Abs. 5 Z 5 NAG war zu beachten, dass das Bezirksgericht Hernals mit Beschluss vom 18. Dezember 2020 unter Bezugnahme auf diese Bestimmung ausgesprochen hatte, dass der Revisionswerber verpflichtet sei, sein am 7. September 2020 vor der Wiener Kinder- und Jugendhilfe vereinbartes Kontaktrecht zu seinem minderjährigen Sohn ausschließlich im Inland auszuüben. Dazu führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass das gegenständliche Recht auf persönliche Kontakte nicht gerichtlich, sondern einvernehmlich geregelt worden und dem Revisionswerber insofern nicht im Sinne des § 54 Abs. 5 Z 5 NAG „zugesprochen“ worden sei.

23       Dem ist zu entgegnen, dass mit der genannten Bestimmung Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 lit. d der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) im nationalen Recht umgesetzt werden sollte. In diesem Sinn heißt es auch in den Gesetzesmaterialien zum FrÄG 2009 (ErlRV 330 BlgNR 24. GP 52), „Abs. 5 implementiert die Regelungen des Art. 13 Abs. 2 Freizügigkeitsrichtlinie betreffend die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts des Ehegatten im Falle von Scheidung oder Aufhebung der Ehe mit dem Zusammenführenden“ (vgl. auch VwGH 15.3.2018, Ro 2018/21/0002, Rn. 13). Der genannte Art. 13 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie lautet auszugsweise:

„Artikel 13

Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder bei Beendigung der eingetragenen Partnerschaft

(1) ...

(2) Unbeschadet von Unterabsatz 2 führt die Scheidung oder

Aufhebung der Ehe oder die Beendigung der eingetragenen

Partnerschaft im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b)

für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die

Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, nicht zum

Verlust des Aufenthaltsrechts, wenn

a)...

b)...

c)...

d)dem Ehegatten oder dem Lebenspartner im Sinne von

Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b), der nicht die Staatsangehörigkeit

eines Mitgliedstaats besitzt, aufgrund einer Vereinbarung

der Ehegatten oder der Lebenspartner oder durch

gerichtliche Entscheidung das Recht zum persönlichen

Umgang mit dem minderjährigen Kind zugesprochen wird,

sofern das Gericht zu der Auffassung gelangt ist, dass der

Umgang - solange er für nötig erachtet wird - ausschließlich

im Aufnahmemitgliedstaat erfolgen darf.“

24       Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 lit. d der Freizügigkeitsrichtlinie stellt somit darauf ab, dass dem Ehegatten, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, aufgrund einer Vereinbarung der Ehegatten oder durch gerichtliche Entscheidung das Recht zum persönlichen Umgang mit dem minderjährigen Kind „zugesprochen“ wird. In unionsrechtskonformer Auslegung hat § 54 Abs. 5 Z 5 NAG demnach auch den hier vorliegenden Fall einer gerichtlich vereinbarten gemeinsamen Obsorge mit einem vor der Wiener Kinder- und Jugendhilfe einvernehmlich konkretisierten Kontaktrecht zu umfassen. Die von § 54 Abs. 5 Z 5 NAG (bzw. Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 lit. d der Freizügigkeitsrichtlinie) weiters geforderte „Auffassung“ des Pflegschaftsgerichts, dass der für nötig erachtete Umgang mit dem minderjährigen Kind ausschließlich im Bundesgebiet erfolgen dürfe, ergab sich fallgegenständlich aus dem diesbezüglichen Beschluss des Bezirksgerichts Hernals. Da der Revisionswerber mit Urkundenvorlage an das Bundesverwaltungsgericht vom 17. Februar 2021 vorbrachte, seit 1. Februar 2021 wieder erwerbstätig und krankenversichert zu sein, wäre zutreffendenfalls im Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichts jedenfalls auch das Vorliegen der von § 54 Abs. 5 NAG zudem verlangten Voraussetzung des Erfüllens des § 51 Abs. 1 Z 1 oder 2 NAG zu bejahen und demnach von einem (wenn auch allenfalls wegen des zwischenzeitlichen Wegfalls der zuletzt genannten Voraussetzung nicht durchgehend bestanden habenden) unionsrechtlichen Aufenthaltsrecht auszugehen gewesen. Dies wäre einer Ausweisung entgegengestanden (vgl. in diesem Sinne wiederum VwGH 20.12.2021, Ro 2020/22/0020, Rn. 24). Auch das hat das Bundesverwaltungsgericht verkannt.

25       Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen seiner vorrangig wahrzunehmenden inhaltlichen Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben. Von der Durchführung der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 5 VwGG abgesehen werden.

26       Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 5. April 2022

Schlagworte

Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4 Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Verfahrensbestimmungen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021210151.L00

Im RIS seit

11.05.2022

Zuletzt aktualisiert am

17.05.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten