TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/26 W192 2244483-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 26.08.2021
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Entscheidungsdatum

26.08.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W192 2244483-1/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Ruso über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.06.2021, Zahl: 1272944502-210001095, zu Recht:

A) Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 i.d.g.F. als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 03.01.2021 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Anlässlich der am selben Tag abgehaltenen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer an, er stamme aus der Provinz Ghazni, sei ledig, spreche muttersprachlich Dari, bekenne sich zum islamischen Glauben und gehöre der Volksgruppe der Hazara an. Er habe zwölf Jahre eine Schule besucht, könne jedoch weder lesen, noch schreiben und habe zuletzt als Autospengler gearbeitet. Er habe sich vor etwa sechs bis sieben Monaten zur Ausreise aus Afghanistan entschlossen und sei über den Iran, die Türkei und eine weitere unbekannte Route schlepperunterstützt nach Österreich gereist. Er sei zusammen mit seiner Familie aus Afghanistan ausgereist, sei von dieser jedoch im Iran getrennt worden und sei über deren aktuellen Aufenthaltsort nicht in Kenntnis. Seine Heimat habe er wegen des Krieges verlassen. Es habe keine Arbeit gegeben und der Beschwerdeführer habe auch keine Schule besuchen oder eine Ausbildung machen können. In Österreich wolle er einen Beruf erlernen und arbeiten. Darüberhinausgehende Fluchtgründe habe er nicht.

Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 18.02.2021 gab der Beschwerdeführer auf Befragen an, er sei schiitischer Moslem, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und sei über den Aufenthaltsort seiner Familie, bestehend aus seinen Eltern und drei Geschwistern, nicht in Kenntnis, da sie sich im Iran aus den Augen verloren hätten. Der Beschwerdeführer habe bis zur Ausreise immer in seinem Heimatdorf in der Provinz Ghazni gelebt. In seinem Heimatland habe er ein bis zwei Klassen einer Schule besucht, er könne ein paar Wörter lesen, jedoch nicht schreiben. Im Vorfeld der Ausreise habe er seit etwa fünf bis fünfeinhalb Jahren als Autospengler gearbeitet. Der Beschwerdeführer habe nie Probleme mit den Behörden seines Heimatlandes gehabt, er sei nie inhaftiert gewesen, habe sich nie politisch betätigt und habe keine Probleme aufgrund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit erlebt.

Zum Grund seiner Flucht führte der Beschwerdeführer aus, sein Problem sei sein drogenabhängiger Vater gewesen. Dieser habe ihn zur Arbeit geschickt; sein Chef habe ihn in ein einen Raum gebracht, in welchem nur ältere Männer anwesend gewesen wären. Der Beschwerdeführer habe Frauenkleider anziehen müssen, sei an den Beinen mit Ketten behangen worden, sei geschminkt worden und habe tanzen müssen. Er habe dort zwei Monate arbeiten müssen und sei dann nach Hause gegangen; er habe seinem Vater gesagt, dass er dort nicht mehr hingehen wolle, sein Vater habe ihm jedoch gesagt, dass er nicht das Recht habe, sich zu wehren und habe ihm das verdiente Geld weggenommen. Auch als der Beschwerdeführer bereits in der Werkstatt tätig gewesen wäre, sei er abends von dem Chef geholt und dorthin mitgenommen worden und er habe vor den älteren Männern tanzen müssen. Nach dem Tanzen sei er auch jedes Mal vom Chef vergewaltigt worden, dieser habe ihm gedroht, ihn umzubringen. Dieser habe den Beschwerdeführer öfter vergewaltigt, wenn er Drogen genommen oder Alkohol getrunken hätte. In der Werkstatt seien sie zu dritt gewesen; eines Tages habe der Chef ihnen mitgeteilt, dass einer der Jungen umgebracht worden wäre, da er sich nicht an die Forderungen gehalten hätte. Etwa ein Jahr später habe der Chef zwei neue Schüler gebracht, welche er jedoch nur für den Drogeneinkauf benutzt hätte; so seien insgesamt zwei Jahre vergangen. Nach Rückübersetzung ergänzte der Beschwerdeführer, dass diese zwei Schüler als Tanzjungen ausgebildet worden seien; in der Folge hätten der Beschwerdeführer und ein weiterer Kollege mit Drogen dealen müssen. Eines Tages habe der Chef dem Beschwerdeführer eine Tasche gegeben und ihn beauftragt, diese an einen Mann zu übergeben. Dem Beschwerdeführer sei die Tasche, in welcher sich Alkohol befunden hätte, hinuntergefallen und alles sei kaputtgegangen. Der Beschwerdeführer sei zurückgegangen und habe dem Chef gesagt, was passiert sei, woraufhin dieser ihn geschlagen hätte, sodass er fast nicht mehr sprechen konnte. Eines Tages habe er seiner Mutter die ganze Geschichte erzählt; diese hätte es nicht glauben können und habe ihm gesagt, er solle am nächsten Tag zur Arbeit gehen, sie werde schauen, was sie tun könnte. Der Beschwerdeführer sei wieder arbeiten gegangen; nach etwa eineinhalb Wochen sei er benachrichtigt worden, dass seine Mutter krank wäre und er diese ins Krankenhaus bringen sollte. Der Chef habe ihm 5.000,- Afghani gegeben und ihm gesagt, er solle die Mutter ins Krankenhaus bringen und anschließend sofort zurück kommen. Der Fahrer seines Chefs habe sie ins Krankenhaus gebracht und gesagt, er würde einstweilen etwas trinken gehen. Seine Mutter habe ihm dann gestanden, dass es ihr gut ginge und sie mit dem Onkel ausgemacht hätte, dass sie nach Nimroz kommen sollten und er dann alles Weitere organisieren würde. Sie hätten dann innerhalb von ein bis zwei Wochen das Land verlassen.

Auf Nachfrage gab der Beschwerdeführer an, er habe etwa drei Jahre als Tanzjunge arbeiten müssen; als er angefangen hätte, sei er etwa 16/17 Jahre alt gewesen. Als er mit dem Drogenhandel begonnen hätte, sei er ca. 20/21 Jahre alt gewesen. Aus Angst habe er die Vorfälle nicht bei der Polizei gemeldet. Der Beschwerdeführer sei insgesamt sicher mehr als dreißigmal vergewaltigt worden. Der Beschwerdeführer erklärte sich mit der Einholung eines psychologischen Gutachtens einverstanden. Zu seinen konkreten Erwartungen für den Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat, etwa nach Mazar-e Sharif oder Herat, erklärte der Beschwerdeführer, allein durch die Erinnerung an seine Erlebnisse das Gefühl zu haben, gewürgt zu werden und keine Luft zu bekommen; bei einer Rückkehr nach Afghanistan würde er ein nervenkranker Mensch werden.

Einem in der Folge seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in Auftrag gegebenen neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen-Gutachten vom 22.04.2021 lässt sich zusammengefasst entnehmen, beim Beschwerdeführer würden sich in Zusammenschau der Anamnese, der Klinik und des Status Hinweise auf das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung zeigen. Vom Beschwerdeführer seien psychische Traumata (Vergewaltigungen, Misshandlungen) berichtet worden, die dazu geeignet wären, eine Erkrankung dieser Art hervorzurufen. Grundsätzlich würden die Angaben des Beschwerdeführers als glaubhaft erachtet. Es lägen der Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) sowie eine leicht- bis mittelgradige depressive Episode (F33.1) vor. Im Rahmen der klinischen Untersuchung hätten sich keine Hinweise dafür gezeigt, dass beim Beschwerdeführer neurokognitive Defizite vorliegen würden, dieser sei in der Lage, Fragen schlüssig und widerspruchsfrei zu beantworten. In wie weit sich die Handlungen wie vom Beschwerdeführer geschildert ereignet hätten, könne vom Sachverständigen naturgemäß nicht verifiziert werden und es könne nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die psychische Erkrankung auch durch andere Ereignisse hervorgerufen worden wäre. Empfehlenswert wären die Einleitung einer Traumatherapie im Sinne einer Psychotherapie sowie die Einleitung einer medikamentösen antidepressiven Therapie.

Mit Schreiben vom 28.05.2021 brachte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer das Sachverständigen-Gutachten zur Kenntnis und gewährte ihm die Möglichkeit, hierzu binnen einwöchiger Frist eine Stellungnahme einzubringen.

Eine Stellungnahme des Beschwerdeführers langte nicht ein.

2. Mit dem nunmehr hinsichtlich Spruchpunkt I. angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.06.2021 wurde der Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) sowie dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm gemäß § 8 Abs. 4 leg.cit. eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III.).

Begründend wurde ausgeführt, das Vorbringen des Beschwerdeführers werde als glaubhaft erachtet, begründe jedoch keinen asylrelevanten Sachverhalt. Aufgrund seines Erwachsenenalters wäre der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nicht mehr gefährdet, als „Bacha Bazi“ missbraucht zu werden. Der Beschwerdeführer habe eine Verfolgung von staatlicher Seite nicht vorgebracht und auch keine Probleme in Zusammenhang mit seiner Religion, Volkgruppe oder politischen Gesinnung geschildert.

Dem Beschwerdeführer sei eine Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Ghazni, welche zu den volatilen Regionen Afghanistans zähle, nicht zumutbar, doch er hätte grundsätzlich die Möglichkeit, sich in Mazar-e Sharif niederzulassen und dort eine neue Existenz aufzubauen. Es sei jedoch zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer offensichtlich in jüngerem Alter Schlimmes erleiden musste und laut vorliegendem Sachverständigen-Gutachten der Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung und eine depressive Episode im Raum stünde. Die Behörde ginge davon aus, dass der Beschwerdeführer in einem solch labilen Zustand derzeit nicht in der Lage sein würde, in Afghanistan eine neue Existenz zu gründen, sondern eine Stabilisierung seines Zustandes durch fachärztliche Behandlung erforderlich sei. Erschwerend komme hinzu, dass der Beschwerdeführer über den Aufenthaltsort seiner Familie nicht in Kenntnis wäre und nur wenige Worte lesen und schreiben könne.

3. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides wurde durch die nunmehr bevollmächtigte Vertretung des Beschwerdeführers mit Eingabe vom 13.07.2021 die gegenständliche Beschwerde erhoben. Begründend wurde ausgeführt, der Beschwerdeführer fürchte in Afghanistan asylrelevante Verfolgung sowohl durch Privatpersonen als auch durch staatliche Organe, nämlich einerseits durch seinen ehemaligen Arbeitgeber, dessen Zwang er sich entzogen hätte, sowie andererseits durch die afghanischen Behörden, welche oftmals die Opfer der „Bacha Bazi“ zu Tätern abstempeln und diese unter dem Vorwurf der Homosexualität und des außerehelichen Geschlechtsverkehrs inhaftieren und bestrafen würden. Aufgrund des Netzwerkes, in dem sich der Chef und dessen Bekannte bewegen würden (diese seien mit Regierung und Militär verbandelt) sowie der vom Staat selbst ausgehenden Verfolgung sei der Beschwerdeführer in Afghanistan nirgends sicher und würde von Veranstaltungsteilnehmern identifiziert werden. Darüber hinaus wäre er als ehemaliger „Bacha Bazi“ gesellschaftlich geächtet. Die Behörde habe unzureichende Feststellungen bezüglich der Praxis von „Bacha Bazi“ getroffen. Aus ergänzend angeführten Berichten ergebe sich, dass auch Personen über 18 Jahren dieser Praxis zum Opfer fallen könnten und die Praxis besonders bei den Sicherheitskräften, mächtigen Kriegsherren und Politikern als Ausdruck von Herrschaft, Wohlstand und Männlichkeit verbreitet sei. Die afghanischen Behörden seien nicht in der Lage, „Bacha Bazi“-Opfern Schutz zu gewähren, oftmals ende dies in einer Verfolgung der Opfer. Aus den UNHCR-Richtlinien ergebe sich die Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zu einem dort angeführten Risikoprofil. Der Ansicht der Behörde, dass eine asylrelevante Verfolgung des Beschwerdeführers alleine aufgrund seines nunmehrigen Erwachsenenalters nicht festzustellen wäre, sei entgegenzuhalten, dass in ähnlich gelagerten Fällen bereits mehrfach eine asylrelevante Verfolgung ehemaliger „Bacha Bazi“ erkannt worden wäre. Weiters werde auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes verwiesen, in welcher dieser den Anknüpfungspunkt zu einem Konventionsgrund in der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe der jungen Männer, die in Afghanistan als „Tanzjungen“ eingesetzt werden sollten und sich den Vorstellungen ihrer Verfolger widersetzt hätten, erkannt habe. Der Beschwerdeführer werde von seinem Arbeitgeber aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der „Bacha Bazi“, die sich ihrem Herren entzogen hätten, verfolgt. Weiters laufe dieser bei einer Rückkehr Gefahr, erneut zu sexuellen Handlungen als „Bacha Bazi“ gezwungen zu werden, weshalb ihm auch aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der von sexuellem Missbrauch gefährdeten jungen Männern Verfolgung in Afghanistan drohe. Eine innerstaatliche Schutzalternative sei bereits angesichts der rechtskräftigen Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ausgeschlossen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Fluchtgrund:

Der im Jahr 1996 geborene Beschwerdeführer führt die im Spruch ersichtlichen Personalien, ist Staatsangehöriger Afghanistans, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, er bekennt sich zum islamischen Glauben schiitischer Ausrichtung und lebte von Geburt an bis zur seiner Ausreise in einem Dorf in der Provinz Ghazni.

Der Beschwerdeführer hat im Herkunftsstaat im Familienverband gemeinsam mit seinen Eltern und drei Geschwistern gelebt und etwa ein bis zwei Jahre eine Grundschule besucht. Etwa in der ersten Jahreshälfte 2020 reiste der Beschwerdeführer gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern aus Afghanistan in den Iran aus, in der Folge wurde er im Iran von seiner Familie getrennt und hat seither keinen Kontakt zu dieser. Der Beschwerdeführer reiste von Iran schlepperunterstützt über die Türkei und eine weitere unbekannte Route unrechtmäßig nach Österreich, wo er am 03.01.2021 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Beim Beschwerdeführer besteht der Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) sowie eine leicht- bis mittelgradige depressive Episode (F33.1).

Der Beschwerdeführer war in Afghanistan nie von Problemen mit den dortigen Behörden betroffen, ebensowenig hatte er Probleme aufgrund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit.

Dem Beschwerdeführer wurde von seinem drogenabhängigen Vater im Alter von etwa 16 bis 17 Jahren eine Arbeit in einer Autowerkstatt vermittelt. Durch seinen Arbeitgeber wurde der Beschwerdeführer wiederholt gezwungen, diesen auf Veranstaltungen zu begleiten und dort in Frauenkleidern und geschminkt vor älteren Männern zu tanzen. Sein Arbeitgeber hat den Beschwerdeführer nach diesen Auftritten regelmäßig vergewaltigt und ihm gedroht, dass er ihn umbringen würde, sollte er seinen Forderungen nicht mehr nachkommen. Diese Situation bestand etwa drei Jahre, bis der Arbeitgeber zwei andere Jugendliche mitbrachte, welche fortan als „Tanzjungen“ („Bacha Bazi“) missbraucht werden sollten. Der Beschwerdeführer wurde ab diesem Zeitpunkt nicht mehr als „Tanzjunge“ missbraucht, jedoch wurde er von seinem Arbeitgeber gezwungen, beim Handel mit Drogen mitzuwirken. Schließlich erzählte der Beschwerdeführer seiner Mutter von der Situation, welche sodann die Ausreise der gesamten Familie aus Afghanistan in die Wege leitete.

Der Beschwerdeführer ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht bedroht, neuerlich als „Tanzjunge“ sexuell missbraucht zu werden, ebensowenig ist er in Zusammenhang mit dem ihm in der Vergangenheit widerfahrenen Missbrauch bei einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgung durch den afghanischen Staat oder Privatpersonen bedroht. Es ist nicht anzunehmen, dass die Vergangenheit des Beschwerdeführers als „Bacha Bazi“ in Afghanistan bekannt geworden ist.

Es kann auch sonst nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wäre.

Dem Beschwerdeführer wurde mit dem insofern in Rechtskraft erwachsenen Bescheid vom 14.06.2021 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer eines Jahres erteilt.

1.2. Zum Herkunftsstaat:

Schiiten

Letzte Änderung: 11.06.2021

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 bis 19% geschätzt (CIA 19.5.2021; vgl. AA 16.7.2020). Zuverlässige Zahlen zur Größe der schiitischen Gemeinschaft sind nicht verfügbar und werden vom Statistikamt nicht erfasst. Gemäß Vertretern der Religionsgemeinschaft sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten (USDOS 12.5.2021).

Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten (AA 16.7.2020). Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Gemäß Zahlen von UNAMA gab es im Jahr 2019 10 Fälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten, die 485 zivile Opfer forderten (117 Tote und 368 Verletzte), was einem Rückgang von 35 % gegenüber 2018 entspricht, als es 19 Fälle gab, die 747 zivile Opfer forderten (233 Tote und 524 Verletzte). Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu sieben der zehn Vorfälle und gab an, dass diese auf die religiöse Minderheit der schiitischen Muslime ausgerichtet waren (USDOS 10.6.2020). In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristischen Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw. Hazara durchgeführt (FH 4.2.2019; vgl. USDOS 21.6.2019, CRS 1.5.2019). Nach einer Reihe tödlicher Angriffe des ISKP im März 2020, die sich gegen Sikhs richteten und 25 Personen töteten, verließen etwa 200 Mitglieder der Sikh-Gemeinschaft das Land in Richtung Indien und gaben an, dass sie wegen der mangelnden Sicherheit und des unzureichenden Schutzes durch die Regierung ausgereist seien (USDOS 12.5.2021).

Vertreter der überwiegend schiitischen Hazara-Gemeinschaft sagen weiterhin, dass die Sicherheitsvorkehrungen der Regierung in den von Schiiten dominierten Gebieten unzureichend sind. Vertreter der Schiiten sagen, dass sie keine Erhöhung des Schutzes durch die Afghanischen Nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) festgestellt haben; sie sagen jedoch, dass die Regierung vor großen schiitischen Versammlungen direkt Waffen an die schiitische Gemeinschaft verteilt hat (USDOS 12.5.2021).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen (FH 4.3.2020). Einige Schiiten haben weiterhin hochrangige Positionen in der Regierung inne, darunter der zweite Vizepräsident Sarwar Danish und eine Reihe von stellvertretenden Ministern, Gouverneuren und ein Mitglied des Obersten Gerichtshofs, abervanders als in den Vorjahren keine Positionen auf Kabinettsebene. Schiitische Führer erklären weiterhin, dass der Anteil der von Schiiten besetzten offiziellen Positionen nicht ihrer Einschätzung der Demographie des Landes entspreche, was sie auf die Marginalisierung von Minderheitengruppen durch die Regierung und das Fehlen eines unterstützenden sozialen Umfelds zurückführen. Sunnitische Mitglieder des Ulema-Rates erklären jedoch weiterhin, dass Schiiten in der Regierung überrepräsentiert seien, basierend auf sunnitischen Schätzungen des Anteils der Schiiten an der Bevölkerung. Drei ismailitische Muslime waren Mitglieder des Parlaments, einer weniger als 2019, und der Staatsminister für Frieden, Sadat Mansoor Naderi, ist ebenfalls ein ismailitischer Muslim. Führer der ismailitischen Gemeinschaft berichten weiterhin von Bedenken über den, wie sie es nennen, Ausschluss von Ismailis aus anderen Positionen der politischen Autorität (USDOS 12.5.2021).

Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25 bis 30% (AB 8.9.2020; vgl. USIP 14.6.2018, AA 2.9.2019). Des Weiteren tagen regelmäßig rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (USDOS 12.5.2021).

Ethnische Gruppen

Letzte Änderung: 11.06.2021

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 16.2.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016 ; vgl. CIA 16.2.2021). Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012, AA 16.7.2020).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“ (STDOK 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 2.9.2019). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 30.3.2021).

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 16.7.2020). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 30.3.2021).

Hazara

Letzte Änderung: 11.06.2021

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.c.). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (STDOK 7.2016).

Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin (AAN 19.3.2019).

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild (STDOK 7.2016). Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c), auch bekannt als Jafari Schiiten (USDOS 12.5.2021). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch (STDOK 7.2016). Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind (GS 21.8.2012), leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans (USDOS 12.5.2021).

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert (AA 16.7.2020; vgl. FH 4.3.2020) und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert (AA 16.7.2020). Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (USDOS 30.3.2021). Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (FH 4.3.2020; vgl. WP 21.3.2018).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan (STDOK 7.2016; vgl. MRG o.D.c). Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist (MRG o.D.c). Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (STDOK 7.2016).

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht (WP 21.3.2018). Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - an (USDOS 12.5.2021).

Während des gesamten Jahres 2020 setzte der ISKP seine Angriffe auf schiitische Gemeinschaften, vorwiegend Hazara, fort. Am 6.3.2021 griffen Bewaffnete eine Zeremonie in Kabul an, an der hauptsächlich schiitische Hazara teilnahmen, und töteten 32 Personen. Am 24.10.2021 tötete ein Selbstmordattentäter in einem Bildungszentrum in einem Hazara-Viertel von Kabul 40 Personen und verwundete 72 weitere. Der ISKP bekannte sich dazu. Viele der Opfer waren zwischen 15 und 26 Jahre alt (USDOS 30.3.2021). Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Nach Angaben der schiitischen Gemeinschaft gab es trotz der Pläne keine Aufstockung der ANDSF-Kräfte; sie sagten jedoch, dass die Regierung Waffen direkt an die Wächter der schiitischen Moscheen in Gebieten verteilte (USDOS 12.5.2021). Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (MEI 10.2018; vgl. WP 21.3.2018). Im Mai 2021 explodierte eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi, wobei 58 Personen, darunter Schülerinnen, getötet und mehr als 100 verletzt wurden (AJ 9.5.2021; vgl. RFE/RL 9.5.2021, BBC 9.5.2021, NYT 9.5.2021, TN 8.5.2021).

In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara (AREU 1.2018).

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (BI 29.9.2017). NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden (USDOS 30.3.2021).

Relevante Bevölkerungsgruppen

Kinder

[…]

Bacha Bazi

Eine in Afghanistan praktizierte Form der Kinderprostitution ist Bacha Bazi, was in der afghanischen Gesellschaft in Bezug auf Jungen nicht als homosexueller Akt erachtet und als Teil der gesellschaftlichen Norm empfunden wird (AA 16.7.2020). Bacha Bazi ist eine Praxis, bei der Buben von reichen oder mächtigen Männern zur Unterhaltung, insbesondere Tanz und sexuellen Handlungen, ausgebeutet werden (UNAMA 24.2.2019, vgl. UNAMA 7.2020).

Mit einer Ergänzung zum Strafgesetz, die am 14.2.2018 in Kraft trat, wurde die Bacha-Bazi-Praxis erstmalig explizit unter Strafe gestellt (AA 16.7.2020). Das Anheuern von Bacha Bazi wird nun durch das revidierte Strafgesetzbuch als Straftat definiert und im Artikel 653 mit Strafe bedroht (MoJ 15.5.2017). Aber auch hier verläuft die Durchsetzung des Gesetzes nur schleppend und Straflosigkeit der Täter ist weiterhin verbreitet. Missbrauchte Jungen und ihre Familien werden oft von ihrer sozialen Umgebung ausgeschlossen und stigmatisiert; eine polizeiliche Aufklärung findet nicht statt (AA 16.7.2020).

Üblicherweise sind die Buben zwischen zehn und 18 Jahren alt (SBS 20.12.2016); viele von ihnen werden weggegeben, sobald sie erste Anzeichen eines Bartes haben (SBS 21.12.2016). Viele der Buben wurden entführt, manchmal werden sie auch von ihren Familien aufgrund von Armut an die Täter verkauft (SBS 20.12.2016; vgl. AA 16.7.2020).

Im Jahr 2020 wurden fünf Fälle von Bacha Bazi im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt dokumentiert (UNSC 30.3.2021).

Sexuelle Orientierung und Genderidentität

Letzte Änderung: 11.06.2021

Das afghanische Strafgesetzbuch verbietet einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen zwei Angehörigen desselben Geschlechtes (USDOS 30.3.2021; vgl. FH 4.3.2020, MoJ 15.5.2017: Art. 645, 649). Der Geschlechtsverkehr zwischen Männern ist eine Straftat, die - laut afghanischem Strafgesetzbuch, Artikel 646 - mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren, Geschlechtsverkehr zwischen Frauen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr, geahndet wird (USDOS 30.3.2021; vgl. SFH 30.4.2020).

Die afghanische Verfassung kennt kein Verbot der Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung (AA 16.7.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Entsprechende Forderungen im Rahmen des Universal Periodic Review (UPR)-Verfahrens im Jänner 2014 in Genf, gleichgeschlechtliche Paare zu schützen und nicht zu diskriminieren, wies die afghanische Vertretung (als eine der wenigen nicht akzeptierten Forderungen) zurück. Beim UPR Afghanistans im Januar 2019 standen LGBTI nicht auf der Agenda. Bisexuelle und homosexuelle Orientierung sowie transsexuelles Leben werden von der breiten Gesellschaft abgelehnt und können daher nicht in der Öffentlichkeit gelebt werden (AA 16.7.2020).

Laut Art. 247 des afghanischen Strafgesetzbuchs werden neben außerehelichem Geschlechtsverkehr auch solche Sexualpraktiken, die üblicherweise mit männlicher Homosexualität in Verbindung gebracht werden, mit langjähriger Haftstrafe sanktioniert. Neben der sozialen Ächtung von Bisexuellen, Homosexuellen und Transsexuellen verstärken Bestimmungen und Auslegung des islamischen Rechts (der Scharia, die z.T. von noch konservativeren vorislamischen Stammestraditionen beeinflusst wird) mit Androhungen von Strafen bis hin zur Todesstrafe den Druck auf die Betroffenen. Organisationen, die sich für den Schutz der sexuellen Orientierung einsetzen, arbeiten im Untergrund (AA 16.7.2020).

Die LGBTI-Gemeinschaft in Afghanistan ist weiterhin erheblicher Gewalt von Seiten des Staates und der Gesellschaft insgesamt ausgesetzt (USCIRF 3.2021). Homosexualität wird weithin tabuisiert (USDOS 30.3.2021; vgl. SFH 30.4.2020) und als unanständig betrachtet. Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft haben keinen Zugang zu bestimmten gesundheitlichen Dienstleistungen und können wegen ihrer sexuellen Orientierung ihre Arbeit verlieren. LGBTI-Personen berichten, dass sie weiterhin mit Verhaftungen durch Sicherheitskräfte und Diskriminierung sowie Übergriffen und Vergewaltigungen in der Gesellschaft im Allgemeinen konfrontiert sind (USDOS 30.3.2021).

Eine systematische Verfolgung durch staatliche Organe kann nicht nachgewiesen werden, was allerdings an der vollkommenen Tabuisierung des Themas liegt. Es wird jedoch von gewalttätigen Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen homosexueller Männer durch die afghanische Polizei berichtet. Vor allem aufgrund der starken Geschlechtertrennung kommt es immer wieder zu freiwilligen oder erzwungenen homosexuellen Handlungen zwischen heterosexuellen Männern (AA 16.7.2020; vgl SFH 30.4.2020).

Unter der Scharia ist bereits die Annäherung des äußeren Erscheinungsbilds, etwa durch Kleidung, an das andere Geschlecht verboten. Die Scharia verbietet daher auch die Änderung des Vornamens und der Geschlechtszugehörigkeit transsexueller Personen (AA 16.7.2020). Es gibt nur wenige spezifische Informationen über Transgender oder Intersex-Personen in Afghanistan (DFAT 27.6.2019; vgl. SFH 30.4.2020).

Sexualität, sexuelle Bedürfnisse und sexuelle Probleme sind in der afghanischen Gesellschaft kein akzeptiertes Gesprächsthema (EASO 12.2017; vgl. Bamik 7.2018) und dieses Thema wird geheim gehalten. Zwischen Ehepartnern wird ein solches Gespräch als negativ, beschämend und böse betrachtet. Afghanische Eltern schämen sich, mit ihrem Nachwuchs über Sexualität zu sprechen und an afghanischen Schulen wird keine Sexualkunde unterrichtet (Bamik 7.2018).

Es wird auch über "Ehrenmorde" an tatsächlichen oder vermeintlichen LGBTQI-Personen durch Familienmitglieder berichtet. Oftmals reicht das Gerücht oder die Beschuldigung, um Betroffene in Gefahr zu bringen (SFH 30.4.2020; vgl. AI 5.2.2018).

Es existieren zahlreiche traditionelle Praktiken, die zwar nicht offiziell anerkannt sind, jedoch teilweise im Stillen geduldet werden. Beispiele dafür sind die Bacha Push und Bacha Bazi. Bacha Push sind junge Mädchen, die sich als Jungen ausgeben, um eine bestimmte Bildung genießen zu können, alleine außer Haus zu gehen oder Geld für die sohn- oder vaterlose Familie zu verdienen (AA 16.7.2020). Bacha Bazi sind Buben oder transsexuelle Kinder, die sexuellem Missbrauch und/oder dem Zwang, bei öffentlichen oder privaten Ereignissen zu tanzen, ausgesetzt sind (MoJ 15.5.2017: Art. 653).

Bei den Bacha Push handelt es sich i. d. R. nicht um eine transsexuelle, sondern eine indirekt gesellschaftlich bedingte Lebensweise. Bei Entdeckung droht Verfolgung durch konservative oder religiöse Kreise, da ein Mädchen bestimmte Geschlechtergrenzen überschritten und sich in Männerkreisen bewegt hat (AA 16.7.2020; vgl. Corboz 17.6.2019, NG 2.3.2018). Meist erfolgt das Ausgeben der Mädchen als Buben mit der Unterstützung der Familie, beispielsweise weil es in der Familie keinen Sohn gibt (Corbez 17.6.2019). Mit Erreichen der Pubertät kehren die meisten Bacha Push zurück zu ihrem Leben als Mädchen (NG 2.3.2018).

2. Beweiswürdigung:

2.1. Die Feststellungen zu den vom Beschwerdeführer geführten Personalien ergeben sich aus seinen Angaben. Da die angeführten Personalien nicht durch die Vorlage von Identitätsdokumenten im Original belegt wurden, war die präzise Identität des Beschwerdeführers nicht zweifelsfrei festzustellen. Die Feststellungen zu seiner Staatsangehörigkeit, zu seiner Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit, seinem Geburtsort, seinem Leben in der Provinz Ghazni und seinen familiären Bindungen beruhen auf den dahingehend glaubwürdigen Angaben des Beschwerdeführers im Verfahren. Die Feststellungen zur Ausreise und zur Reisebewegung ergeben sich aus den nachvollziehbaren Ausführungen des Beschwerdeführers.

Die Feststellungen zu seinem Gesundheitszustand resultieren aus den Angaben des Beschwerdeführers in Zusammenschau mit dem im Verfahren vor dem Bundesamt in Auftrag gegebenen neurologisch-psychiatrischen Gutachten eines allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen vom 22.04.2021, bezüglich dessen Richtigkeit keine Zweifel entstanden sind.

Die Feststellungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und der erteilten Aufenthaltsberechtigung stützen sich unmittelbar auf den angefochtenen Bescheid vom 14.06.2021 sowie einen entsprechenden Eintrag im Zentralen Fremdenregister.

2.2. In Bezug auf die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgründe ist auszuführen, dass bereits die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid von einer Glaubwürdigkeit der vom Beschwerdeführer als ausreisekausal geschilderten Erlebnisse ausgegangen ist. Auch beim Bundesverwaltungsgericht sind keine maßgeblichen Zweifel entstanden, dass der Beschwerdeführer seine Ausreisegründe wahrheitsgemäß dargelegt hat.

Dabei wird nicht übersehen, dass der Beschwerdeführer anlässlich der Erstbefragung den später vorgebrachten Fluchtgrund noch unerwähnt gelassen hat und stattdessen ausschließlich auf sie allgemein schlechte Sicherheitslage sowie den Wunsch nach besseren Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten verwiesen hat. Aus der Sicht des Bundesverwaltungsgerichts vermag sich die Glaubwürdigkeit eines Aussageverhaltens nicht zu verstärken, wenn ein Asylwerber in der Erstbefragung gänzlich andere Fluchtgründe bekannt gibt als in der darauffolgenden Einvernahme. Es muss jedoch auch berücksichtigt werden, dass Opfer von Gewalt (insbesondere sexueller Gewalt) bei der Schilderung traumatischer Erlebnisse vor besondere Herausforderungen gestellt sind, sodass eine Klarstellung der Fluchtgründe in der darauffolgenden behördlichen Einvernahme - auch vor dem Hintergrund des Verbots der näheren Befragung zu den Fluchtgründen in der Erstbefragung nach § 19 Abs. 1 AsylG 2005 (vgl. dazu VfGH 20.02.2014, U 1919/2013 u.a.) - nicht schadet, sofern der Asylwerber in weiterer Folge seinen Mitwirkungspflichten nachkommt und seine Fluchtgründe, wie gegenständlich anlässlich der Einvernahme vor dem Bundesamt erfolgt, umfassend und überzeugend darlegt.

Die geschilderten Erlebnisse sind in ihrer Abfolge – auch unter Berücksichtigung der teils unpräzisen Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Alter während der fluchtauslösenden Ereignisse – grundsätzlich schlüssig und insgesamt plausibel. Sie finden auch in den allgemeinen Länderfeststellungen Deckung und werden insbesondere auch durch die Ausführungen des im behördlichen Verfahren eingeholten psychiatrisch-neurologischen Sachverständigen-Gutachten vom 22.04.2021 gestützt. Diesem lässt sich entnehmen, dass der Beschwerdeführer die ausreisekausalen Ereignisse im Gespräch mit dem Sachverständigen im Wesentlichen gleichlautend mit seinen Angaben vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dargestellt hat und beim Sachverständigen einen grundsätzlich glaubwürdigen Eindruck hinterließ, wobei ausgeführt wurde, dass die beim Beschwerdeführer festgestellten psychischen Erkrankungen grundsätzlich auf Erlebnisse wie die von ihm geschilderten zurückgeführt werden könnten.

Auch unter Zugrundelegung der vom Beschwerdeführer dargestellten Ausreisegründe kann jedoch eine aus diesem Grund vorliegende aktuelle Verfolgung seiner Person im Herkunftsstaat nicht prognostiziert werden:

Die Behörde hat im angefochtenen Bescheid zutreffend dargelegt, dass der Beschwerdeführer bereits aufgrund seines Lebensalters von aktuell 25 Jahren bei einer Rückkehr nicht mehr gefährdet sein würde, neuerlich als „Tanzjunge“ missbraucht zu werden. Die Beschwerde hat zwar angeführt, dass es in Einzelfällen auch zum Missbrauch volljähriger junger Männer als „Tanzjungen“ kommen kann und in diesem Zusammenhang Berichtsmaterial angeführt, welchem sich entnehmen lässt, dass 13 % der Opfer dieser Praxis im Alter von 18 bis 25 Jahren seien. Dass ein entsprechendes Risiko auch für über 25-jährige Männer besteht, wurde jedoch auch in der Beschwerde nicht vorgebracht, sodass eine entsprechende künftige Gefährdung nicht festzustellen gewesen ist. Auch brachte der Beschwerdeführer selbst vor, dass er während der letzten beiden Jahre vor seiner Ausreise nicht mehr sexuell missbraucht worden wäre, sondern nunmehr von seinem Arbeitgeber zu Tätigkeiten im Bereich des Drogenhandels herangezogen worden wäre.

Der Beschwerdeführer hat zudem nicht vorgebracht, dass der ihm widerfahrende Missbrauch als „Tanzjunge“ in seiner Herkunftsregion in Afghanistan allgemein bekannt geworden wäre oder dies im Fall seiner hypothetischen Rückkehr der Fall sein würde. Seinem Vorbringen vor der Behörde lassen sich keine entsprechenden Anhaltspunkte entnehmen und es wurde auch in der Beschwerde lediglich allgemein vorgebracht, dass es sich beim Arbeitgeber und den weiteren am sexuellen Missbrauch des Beschwerdeführers beteiligten Männern um einflussreiche, regierungsnahe Personen gehandelt hätte, ohne dies jedoch näher zu konkretisieren. Ein Vorbringen, welches allenfalls zur Annahme führen würde, dass die Vergangenheit des Beschwerdeführers in Afghanistan bzw. seiner Herkunftsregion bekannt geworden wäre, wurde demnach auch in der Beschwerde nicht erstattet und es ist jedenfalls auch nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer die erlebten Vorfälle nach seiner Rückkehr nach Afghanistan von sich aus preisgeben würde. Zudem ist festzuhalten, dass vor dem Hintergrund, dass die Praxis der „Bacha Bazi“ laut vorliegenden Länderberichten in Afghanistan mit 14.02.2018 explizit unter Strafe gestellt wurde, ungeachtet der schleppenden Umsetzung dieses Gesetzes, nicht anzunehmen ist, dass die Täter ihren Missbrauch am Beschwerdeführer öffentlich bekannt machen würden.

Ebensowenig hat der Beschwerdeführer konkret vorgebracht, dass sein ehemaliger Arbeitgeber selbst, welcher vom Beschwerdeführer als drogenabhängiger Mann beschrieben wurde, ihn im Fall einer Rückkehr einer konkreten Verfolgung aussetzen würde. Alleine die allgemeine Behauptung in der Beschwerde, dass sein ehemaliger Arbeitgeber ihn nach einer Rückkehr neuerlich verfolgen würde, kann zur Feststellung einer dem Beschwerdeführer aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung nicht als ausreichend erachtet werden.

Das Vorbringen des Asylwerbers muss jedoch, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen (vgl. VwGH 21.12.2020, Ra 2020/14/0445, mwN). Daher ist den Erwägungen im angefochtenen Bescheid, dass der Beschwerdeführer mit seinem Vorbringen die Gefahr einer individuellen Verfolgung nicht aufgezeigt hat, beizupflichten.

2.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen. Sie wurden im angefochtenen Bescheid zugrunde gelegt und in der Beschwerde nicht in Zweifel gezogen. Auch vor dem Hintergrund der notorisch mit August 2021 eingetretenen Machübernahme durch die Taliban-Bewegung sind konkret fallbezogen entscheidungsrelevante Lageänderungen nicht zu sehen.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 idF BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Zu A) Abweisung der Beschwerde

3.2.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. etwa VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185, mwN).

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden Verfolgung nur dann Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191, mwN).

Die Gefahr der Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 in Verbindung mit Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende „Gruppenverfolgung“, hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl. VwGH vom 10.12.2014, Ra 2014/18/0078, mwN).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist - abgesehen vom Fall einer Wahrunterstellung (vgl. dazu etwa VwGH 25.06.2019, Ra 2019/19/0032, Rn. 13) - die Glaubwu?rdigkeit des Vorbringens des Asylwerbers zu pru?fen (vgl. zur Beurteilung der Glaubwu?rdigkeit des Vorbringens eines Asylwerbers ausdru?cklich § 18 Abs. 3 AsylG 2005). Erst danach erfolgt die Prognoseentscheidung gema?ß § 3 AsylG 2005, ob mit dem als glaubwu?rdig erachteten Vorbringen eine wohl begru?ndete Furcht vor Verfolgung glaubhaft gemacht wird (vgl. zur Prognoseentscheidung VwGH 08.09.2016, Ra 2015/20/0217, mwN; vgl. zu der dabei vorzunehmenden einzelfallbezogenen Beurteilung VwGH 02.09.2019, Ro 2019/01/0009, mwN; 20.03.2020, Ra 2019/01/0472-10).

Der Begriff der „Glaubhaftmachung“ im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften ist iSd ZPO zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der [Beschwerdeführer] die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, dh er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG, § 45, Rz 3, mit Judikaturhinweisen). Die „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der „hierzu geeigneten Beweismittel“, insbesondere des diesen Feststellungen zugrunde liegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 19.03.1997, 95/01/0466). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (VwGH 27.05.1998, 97/13/0051).

Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zuga?nglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsa?tzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genu?gen (vgl. VwGH 02.09.2019, Ro 2019/01/0009, mwN; 20.03.2020, Ra 2019/01/0472-10).

3.2.2. Wie an anderer Stelle dargelegt, hat der Beschwerdeführer glaubhaft vorgebracht, in Afghanistan durch seinen Arbeitgeber gezwungen worden zu sein, als „Tanzjunge“ bei Veranstaltungen aufzutreten und von diesem auch mehrfach vergewaltigt worden zu sein. Aufgrund des Lebensalters des Beschwerdeführers von 25 Jahren ist vor dem Hintergrund der vorliegenden Länderberichte nicht zu prognostizieren, dass dieser bei einer Rückkehr neuerlich einer gleichgelagerten Gefährdung unterliegen würde. Zudem kann fallgegenständlich auch nicht erkannt werden, dass dieser aufgrund des ihm in der Vergangenheit widerfahrenen sexuellen Missbrauchs im Fall einer nunmehrigen Rückkehr Verfolgung aus einem in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Motiv unterliegen würde, wobei im gegebenen Zusammenhang lediglich eine Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe in Betracht zu ziehen wäre.

Um vom Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ ausgehen zu können, müssen nach der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 10 Abs. 1 lit. d der Status-RL zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sein: Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe „angeborene Merkmale“ oder einen „Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, „die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“ (erster Spiegelstrich). Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der als sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (zweiter Spiegelstrich) (vgl. EuGH 7.11.2013, X u.a., C-199/12 bis C-201/12, Rn. 45; 25.1.2018, F., C-473/16, Rn. 30; 4.10.2018, Ahmedbekova, C-652/16, Rn. 89; ferner VwGH 11.12.2019, Ra 2019/20/0295 mwN).

Die Frage, ob der Beschwerdeführer als früherer „Tanzjunge“ einer sozialen Gruppe iSd der GFK bzw. iSd Art. 10 Abs. 1 lit. d angehört, hat anlässlich einer ähnlichen Konstellation bereits der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 28.05.2020, Ra 2019/18/0421, beantwortet:

„Auch wenn die Ausbeutung männlicher Kinder als Tanzjungen regelmäßig unter Zwang stattfindet, weisen Tanzjungen ungeachtet dessen einen gemeinsamen Hintergrund auf, den sie nicht (mehr) verändern können, nämlich den Umstand, dass sie als Tanzjungen (zwangsweise) auftreten bzw. aufgetreten sind. Damit erfüllen sie das maßgebliche Kriterium nach Art. 10 Abs. 1 lit. d erster Spiegelstrich der Status-RL.“

Das zweite Kriterium erachtete der Verwaltungsgerichtshof ebenso als erfüllt, weil „diese Personen (ungeachtet ihrer Opfereigenschaft) von der afghanischen Gesellschaft isoliert“ werden, „wobei sich die soziale Isolation mit ihrer Bekanntheit in der Öffentlichkeit verstärkt“:

„Dieser Umstand manifestiert die ‚deutlich abgegrenzte Identität‘ der Gruppe, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft offensichtlich als andersartig betrachtet wird. Auch das Kriterium nach Art. 10 Abs. 1 lit. d zweiter Spiegelstrich der Status-RL ist somit gegeben.“

Der Verwaltungsgerichtshof ging in dieser Entscheidung davon aus, dass Opfer des „Bacha Bazi“-Missbrauchs eine soziale Gruppe iSd ständigen Rechtsprechung bilden können.

Vor dem Hintergrund des vorliegenden Falles ist zu bemerken, dass nach Art. 10 Abs 1 lit. d Status-RL als „soziale Gruppe“ auch ein Personenkreis gelten kann, der sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. Wie oben dargelegt, wird (früheren) „Tanzjungen“ bzw. Opfern des „Bacha Bazi“-Missbrauchs eine homosexuelle Orientierung unterstellt, die zu Verfolgungshandlungen erheblichen Ausmaßes führen kann. Auch in diesem Zusammenhang gehört der Beschwerdeführer somit einer „sozialen Gruppe“ iSd GFK an.

Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe bedeutet freilich noch nicht, dass der Beschwerdeführer allein deshalb Anspruch auf Asyl hätte (so auch die Einschätzung des EASO, Country Guidance 12/2020, S. 69). Entscheidend ist vielmehr, dass er wegen der Zugehörigkeit zu dieser sozialen Gruppe bei der Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung erfahren würde und ihm dagegen kein Schutz seines Herkunftsstaates gewährt wird (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0010). Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall nicht gegeben: Es war nicht festzustellen, dass die Vergangenheit des Beschwerdeführers in seiner Herkunftsregion bereits bekannt geworden ist oder dies im Fall seiner hypothetischen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Fall sein würde, sodass nicht zu erkennen war, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr tatsächlich Gefahr liefe, ausgehend von seiner grundsätzlichen Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der ehemaligen „Tanzjungen“ den oben dargestellten Gefährdungen im Sinne einer gesellschaftlichen Stigmatisierung sowie einer unterstellten Homosexualität ausgesetzt zu sein.

Wie angesprochen, droht dem 25-jährigen Beschwerdeführer aufgrund seines Alters kein neuerlicher Missbrauch als „Tanzjunge“ und es war mangels Bekanntwerdens seiner Vergangenheit im Herkunftsstaat auch sonst kein kausaler Zusammenhang zwischen der behaupteten (ehemaligen) Zugehörigkeit zu dieser Gruppe mit einer Verfolgung anzunehmen. Fehlt aber ein Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen, kommt die Asylgewährung nicht in Betracht (vgl. VwGH 03.05.2018, Ra 2018/19/0171-7, mwN).

Auch eine unmittelbare Verfolgung durch seinen ehemaligen „Arbeitgeber“, welche im Zusammenhang mit einem Konventionsgrund stünde, hat der Beschwerdeführer nicht konkret vorgebracht. Eine allfällige Bedrohung durch den Arbeitgeber aus rein krimineller Motivation (etwa aus „Rache“ für dessen Flucht), würde demnach keine asylrelevante Verfolgung bilden, sondern es wäre einer solchen Gefährdung durch die Zuerkennung subsidiären Schutzes ausreichend Rechnung getragen worden.

Der Beschwerdeführer konnte somit in dieser Hinsicht eine individuelle Verfolgung nicht aufzeigen. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt - wie bereits vorhin ausgeführt - nicht.

3.2.3. In Ermangelung von dem Beschwerdeführer individuell drohenden Verfolgungshandlungen bleibt im Lichte der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu prüfen, ob er im Herkunftsland aufgrund generalisierender Merkmale – etwa wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara – unabhängig von individuellen Aspekten einer über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehenden „Gruppenverfolgung“ ausgesetzt wäre.

Für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung ist zwar nicht entscheidend, dass sich die Verfolgung gezielt gegen Angehörige nur einer bestimmten Gruppe und nicht auch gezielt gegen andere Gruppen richtet (VwGH 17.12.2015, Ra 2015/20/0048, mit Verweis auf VfGH 18.09.2015, E 736/2014). Dass ein Angehöriger der ethnischen und religiösen Minderheit der Hazara im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit befürchten müsste, alleine wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Verfolgung im Sinne eines ungerechtfertigten Eingriffs von erheblicher Intensität ausgesetzt zu sein, kann das Bundesverwaltungsgericht jedoch nicht finden:

Den oben zitierten Länderberichten ist u.a. zwar zu entnehmen, dass Schiiten – speziell jene, die der Volksgruppe der Hazara angehören – Diskriminierungen durch die sunnitische Mehrheit ausgesetzt sind und sich Diskriminierungen von Angehörigen der Volksgruppe der Hazara in Zwangsrekrutierungen, Zwangsarbeit, Festnahmen, physischem Missbrauch oder illegaler Besteuerung äußern würden. In einer Gesamtschau des vorliegenden Länderberichtsmaterials erreicht diese Gefährdung jedoch gegenwärtig nicht ein Ausmaß, das die Annahme rechtfertigen würde, dass in Afghanistan lebende schiitische Hazara wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen und religiösen Minderheit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung zu befürchten hätten, zumal die Gefährdung dieser Minderheit angesichts der in den Länderberichten dokumentierten allgemeinen Gefährdungslage in Afghanistan, die in vielen Regionen für alle Bevölkerungsgruppen ein erhebliches Gefahrenpotential mit sich bringt, (derzeit) nicht jenes zusätzliche Ausmaß erreicht, welches notwendig wäre, um eine spezifische Gruppenverfolgung der Hazara anzunehmen. Eine Gruppenverfolgung ist auch nicht daraus ableitbar, dass Hazara allenfalls Opfer krimineller Aktivitäten werden oder schwierigen Lebensbedingungen ausgesetzt sind.

Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht davon aus, dass die Zugehörigkeit zur Minderheit der Hazara – unbeschadet der schlechten Situation für diese Minderheit – nicht dazu führt, dass im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan eine unmenschliche Behandlung

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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