Entscheidungsdatum
30.06.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
I406 2132248-1/43E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Gerhard KNITEL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Tunesien, vertreten durch die Rechtsanwälte Dr. LECHENAUER & Dr. SWOZIL, Hubert-Sattler-Gasse 10, 5020 Salzburg, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 20.07.2016, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.09.2016 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Tunesiens, reiste legal mit einem zwischen 14.03.2014 und 01.04.2014 gültigen Schengen-Visum in das österreichische Bundesgebiet ein. In weiterer Folge begab er sich nach Deutschland, wo er am 29.04.2014 einen Asylantrag stellte. Er tauchte vorübergehend unter und wurde am 09.11.2015 gemäß den Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 343/2003 von Deutschland nach Österreich überstellt.
2. Bei seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 06.11.2015 gab er zu seinen Fluchtgründen an, in Tunesien keine Arbeit bekommen zu haben, darum wolle er in Europa eine Arbeit suchen. Er habe keine Befürchtungen, wenn er nach Tunesien zurückkehren müsste, wolle aber nicht mehr zurück in seine Heimat.
3. Am 04.07.2016 wurde der Beschwerdeführer niederschriftlich durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) einvernommen. Zu seinen Fluchtgründen brachte er vor, dass es in Tunesien keine Menschenrechte gebe. Man müsse einer Gruppierung beitreten, um eine Ausbildung an einer Hochschule zu bekommen. Sein Bruder sei aufgrund seiner extremen Überzeugung zum Islam verhaftet worden und die ganze Familie deswegen verdächtigt und verhört worden. Vor allem der Einfluss der Extremisten sei groß. In Tunesien gebe es viele Gruppierungen und die staatlichen Behörden haben ihn nicht schützen können.
4. Mit angefochtenem Bescheid vom 20.07.2016, Zl. XXXX , wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 09.11.2015 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Tunesien (Spruchpunkt II.) als unbegründet ab. Zugleich erteilte sie ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III., erster Satz), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III., zweiter Satz) und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Tunesien zulässig ist (Spruchpunkt III., dritter Satz.). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung wurde die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt IV.).
Begründend führte das BFA zusammengefasst aus, dass der Beschwerdeführer vor dem Hintergrund der getroffenen Länderfeststellungen zu Tunesien keine individuelle Verfolgungssituation und keine asylrelevante Verfolgung oder Bedrohung glaubhaft machen habe können und keine entscheidungsmaßgebliche Integration im Bundesgebiet vorliege.
5. Dagegen richtet sich die fristgerecht erhobene Beschwerde der damaligen Rechtsvertretung des Beschwerdeführers, der Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, vom 04.08.2016. Das BFA habe das Ermittlungsverfahren nicht mit der erforderlichen Tiefe geführt, mangelhafte Länderfeststellungen getroffen und dem Beschwerdeführer zu Unrecht die Glaubwürdigkeit abgesprochen. Bei einer Rückkehr drohe ihm Verfolgung aufgrund seines politischen Engagements und seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Personen, die mit einem vermeintlichen Terroristen verwandt seien. Außerdem sei er in Österreich im Verhältnis zu seiner Aufenthaltsdauer sehr gut integriert.
6. Beschwerde und bezughabender Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 11.08.2016 vorgelegt.
7. Am 27.09.2016 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Innsbruck, eine mündliche Beschwerdeverhandlung in Anwesenheit des Beschwerdeführers, seiner damaligen Rechtsvertretung und eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch und in Abwesenheit der belangten Behörde statt.
8. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 08.02.2017, I406 2132248-1/16Z, wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
9. Aufgrund unerlaubter Abwesenheit wurde der Beschwerdeführer mit 21.10.2019 von der Grundversorgung abgemeldet. Sein Aufenthaltsort war trotz aufrechter Meldeadresse an einer Asylunterkunft weder bekannt noch leicht feststellbar, sodass das Asylverfahren mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.05.2020, Zl. I406 2132248-1/30E, eingestellt wurde.
10. Am 07.07.2020 gab der Beschwerdeführer seine Wohnadresse bekannt. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 12.08.2020, I406 2132248-1/36Z, wurde das Verfahren fortgesetzt.
11. Mit Schreiben vom 25.05.2021 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer Länderfeststellungen zu seinem Herkunftsstaat, sowie einen Fragenkatalog zu seiner Situation in Österreich. Am 08.06.2021 stellte der Beschwerdeführer durch seine Rechtsvertretung einen Antrag auf Fristverlängerung bis 18.06.2021. Am 18.06.2021 übermittelte er eine schriftliche Stellungnahme und am 21.06.2021 legte er weitere Unterlagen vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige, kinderlose und ledige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Tunesien, gehört zur arabischen Volksgruppe und bekennt sich zum moslemisch-sunnitischen Glauben. Seine Identität steht fest.
Er hält sich seit (mindestens) 09.11.2015 in Österreich auf und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Zwischen 21.10.2019 und 18.05.2020 war er unbekannten Aufenthaltes. Er verfügte in diesem Zeitraum über eine behördliche Meldeadresse, hielt sich aber dort nicht auf.
Der Beschwerdeführer war ab September 2016 in psychotherapeutischer Behandlung aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1). Von 09.10.2016 bis 13.10.2016 befand er sich aufgrund einer Anpassungsstörung und suizidalen Krise (ICD-10: F 43.2) in stationärer psychiatrischer Behandlung. Dabei handelt es sich um keine Erkrankung, die in Tunesien nicht behandelbar wäre. Auch liegen keine akut behandlungsbedürftigen oder potentiell lebensgefährlichen Beschwerden mehr vor, seit rund viereinhalb Jahren ist er nicht mehr in psychiatrischer oder psychologischer Betreuung.
Der Beschwerdeführer ist jung und arbeitsfähig. Er hat in Tunesien zwölf Jahre die Schule besucht und eine Ausbildung als Installateur sowie eine Ausbildung im Tourismusbereich begonnen, diese aber nicht abgeschlossen. Der Beschwerdeführer hat eine Chance, hinkünftig am tunesischen Arbeitsmarkt unterzukommen. Die Eltern und zwei volljährige Geschwister des Beschwerdeführers leben nach wie vor in seiner Heimat.
In Österreich verfügt der Beschwerdeführer weder über Verwandte noch über maßgebliche private und familiäre Beziehungen.
Der Beschwerdeführer hat Deutschkurse bis zum Niveau A2 besucht, am 11.05.2021 ein ÖSD Zertifikat A1 absolviert und in Österreich Freundschaften geschlossen. Er führte im Jahr 2016 in seiner Flüchtlingsunterkunft Hilfsarbeiten durch und nahm im Mai 2017 an einem zweitätigen Lehrgang XXXX teil. Ansonsten ging er keiner erlaubten Erwerbstätigkeit oder ehrenamtlichen Beschäftigung im Bundesgebiet nach, hat in Österreich keine Aus- Fort- oder Weiterbildung absolviert und ist nicht Mitglied eines Vereins oder einer sonstigen integrationsbegründenden Institution. In Ermangelung weiterer Anknüpfungspunkte wird festgestellt, dass kein schützenswertes Privatleben des Beschwerdeführers im Bundesgebiet vorliegt.
Der Beschwerdeführer bestritt seinen Lebensunterhalt in Österreich bis Oktober 2019 durch den Bezug von Leistungen aus der Grundversorgung. Am 23.02.2021 wurde er im Zuge einer finanzpolizeilichen Kontrolle bei der Durchführung von Übersiedelungsarbeiten für die Firma XXXX betreten, für die er ab Juli 2017 fallweise als Möbelpacker tätig war, ohne jedoch über eine arbeitsmarktrechtliche Bewilligung für diese Tätigkeit zu verfügen.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich in Erscheinung getreten. Er wurde mit Urteil eines Landesgerichtes vom 16.01.2018 wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 StGB zu einer unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Monaten verurteilt. Am 11.02.2021 wurde die Freiheitsstrafe endgültig nachgesehen.
1.2. Zu den Fluchtmotiven des Beschwerdeführers:
Es ist dem Beschwerdeführer hat keine asylrelevanten Fluchtgründe glaubhaft gemacht. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer in Tunesien eine Verfolgung von staatlicher Seite droht, weil er sich politisch engagiert habe oder seinem Bruder eine Involvierung in terroristische Aktivitäten unterstellt werde.
Es kann nicht festgestellt werden, dass er in Tunesien aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung verfolgt werden würde.
Der Beschwerdeführer wird im Fall seiner Rückkehr nach Tunesien mit hoher Wahrscheinlichkeit keiner realen Gefahr der Folter, einer unmenschlichen Bestrafung oder Behandlung, der Todesstrafe ausgesetzt sein und ihm droht in seinem Herkunftsstaat auch keine reale Gefahr, in seiner Existenz bedroht zu werden.
1.3 Zur Situation in Tunesien:
Tunesien gilt als sicherer Herkunftsstaat gemäß § 1 Z 11 der Herkunftsstaaten-Verordnung (HStV), BGBl. I Nr. 177/2009.
Die aktuelle Situation im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers Tunesien stellt sich im Wesentlichen wie folgt dar:
1. COVID-19
Letzte Änderung: 19.03.2021
Aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus (COVID-19), kommt es zu Einschränkungen im Flug- und Reiseverkehr und es ist mit weitgehenden Einschränkungen im öffentlichen Leben zu rechnen (BMEIA 10.3.2021; vgl. AA 10.3.2021). Es gilt eine landesweite Ausgangssperre von 22:00 bis 05:00 Uhr, und generell gilt die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasenschutzes sowie eine Distanzpflicht im öffentlichen Raum (BMEIA 10.3.2021). Nach einem starken Anstieg der Infektionszahlen seit Herbst 2020 ist zuletzt eine rückläufige Tendenz zu verzeichnen. Tunesien wird als Risikogebiet eingestuft. Regionale Schwerpunkte sind der Großraum Tunis sowie Gabès. Aktuelle und detaillierte Zahlen bieten das tunesische Gesundheitsministerium und die Weltgesundheitsorganisation (AA 10.3.2021).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (10.3.2021): Tunesien - Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tunesien-node/tunesiensicherheit/219024, Zugriff 10.3.2021
- BMEIA - Bundesministerium Europäische und Internationale Angelegenheiten [Österreich] (10.3.2021): Reiseinformationen Tunesien, http://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tunesien/, Zugriff 10.3.2021
2. Politische Lage
Letzte Änderung: 19.03.2021
Tunesien ist gemäß der Verfassung von 2014 ein freier, unabhängiger und souveräner Staat, dessen Religion der Islam, dessen Sprache das Arabische und dessen Regierungsform die Republik ist. Die erste Phase nach der Flucht des Präsidenten Ben Ali am 14.1.2011 prägten Übergangsregierungen, unterstützt von der "Hohen Instanz zur Verwirklichung der Ziele der Revolution" als Ersatzparlament. Die Verfassung betont den zivilen und rechtsstaatlichen Charakter des Regierungssystems. Sie sieht ein gemischtes Regierungssystem vor, in dem sowohl der Präsident als auch das Parlament direkt vom Volk gewählt werden. Der Premierminister bestimmt die Richtlinien der Politik - mit Ausnahme der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die in die Zuständigkeit des Staatspräsidenten fallen (ÖB 1.10.2020; vgl. AA 19.2.2021). Die Verfassung garantiert durch eine stärkere Gewaltenteilung und die Einrichtung eines Verfassungsgerichtshofs eine bessere Kontrolle der verschiedenen Gewalten. Außerdem wurde die Gleichstellung von Frauen festgeschrieben. Bezüglich der Rolle der Religion einigten sich die Abgeordneten auf einen zwiespältigen Text, der sowohl den zivilen Charakter des Staates sowie Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert, als auch den Schutz des Sakralen festschreibt (GIZ 11.2020a).
Tunesien hatte nach dem sogenannten Arabischen Frühling vor zehn Jahren zwar tiefgreifende demokratische Reformen eingeleitet, diese erbrachten allerdings nur teilweise die erhofften strukturellen Reformen und Veränderungen. Das Land kämpft mit großen wirtschaftlichen Problemen und hoher Arbeitslosigkeit. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist groß (BAMF 25.1.2021; vgl. ÖB 1.10.2020). Dies gilt vor allem für jene Bevölkerungsschicht, die sich von den Regierungen nach der Revolution eine Verbesserung der Lebensqualität erwartet hatten, indem Ungleichheiten und Benachteiligungen behoben werden. Diese Menschen sehen sich als marginalisiert (Merip.org 16.3.2021).
Im Herbst 2019 fanden zum dritten Mal in Folge freie Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt (AA 16.12.2020a). Die Wahlen verliefen grundsätzlich frei und fair (AA 19.2.2021). Der neue Präsident Kaïes Saïed gilt als unbestechlich und politisch unerfahren. Den Tunesiern verspricht er neben der Bekämpfung der Korruption eine rigorose Überarbeitung der Verfassung und des Wahlsystems sowie mehr Demokratie auf lokaler Ebene. Saïed ist zudem für seine sehr konservativen Ansichten in gesellschaftlichen Fragen bekannt (BAMF 21.10.2019). Bei den Parlamentswahlen wurden die traditionellen Parteien abgestraft und viele unabhängige Kandidaten gewählt, was zu einer weiteren Zersplitterung des Parlaments geführt hat. Die muslimisch-konservative Ennahdha-Partei bleibt zwar stärkste Partei, stellt aber nur rund ein Viertel der 217 Abgeordneten im neuen Parlament. Zweitstärkste Kraft ist die Partei Qalb Tounes (Das Herz Tunesiens) des Medienmoguls und Präsidentschaftskandidaten Nabil Karoui (GIZ 11.2020a) mit 30 Sitzen (ÖB 1.10.2020).
Tunesiens designierter Ministerpräsident Habib Jemli hat Anfang 2020 eine Regierung aus unabhängigen Technokraten gebildet, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen (ÖB 1.10.2020; vgl. DS 10.1.2020). Regierungschef Jemli hatte aber nicht genügend Unterstützung für eine Koalitionsbildung bekommen (ÖB 1.10.2020; vgl. DW 21.1.2020). Daher wurde der frühere Tourismus- und Finanzminister Elyes Fekhfekh vom Präsidenten zum designierten Ministerpräsidenten ernannt (ÖB 1.10.2020; vgl. DW 21.1.2020). Dieser konnte eine Regierung bilden, die am 27.2.2020 ihr Amt antrat. Fekhfekh stolperte allerdings über ihm vorgeworfene Interessenskonflikte und musste zurücktreten. Ihm folgte am 1.9.2020 Hichem Mechichi, ein als integer geltender Jurist mit Karriere im öffentlichen Dienst. Er konnte seine Regierung, die er als Experten- und Technokratenregierung versteht, aber ebenfalls nicht ohne Kompromisse mit der islamistischen Ennahda sowie anderen Parteien bilden, deren Ränke- und Machtspiel er somit ausgeliefert ist (ÖB 1.10.2020).
Aktuell kommt es seit Jahresbeginn 2021 regelmäßig zu Protesten und Demonstrationen. Im Jänner 2021 kam es trotz Pandemie-bedingter Ausgangssperren und Versammlungsverbot zu landesweiten Protesten und gewaltsamen Unruhen gegen die Regierung. Dabei kam es auch zu gewaltsamen Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften (BAMF 25.1.2021). Im Feber 2021 protestierten Hunderte Menschen gegen die Polizeigewalt (BAMF 8.2.2021) und am 27.2.2021 kam es zu Demonstrationen tausender Unterstützer der regierenden Partei Ennahdha, nachdem diese zum "Marsch zur Verteidigung demokratischer Institutionen" aufgerufen hatte. Hintergrund des Protests ist eine sich zuspitzende politische Krise im Land. Präsident Kaïes Saïed weigerte sich, einer von Ministerpräsident Hichem Mechichi vorgeschlagenen Kabinettsumbildung zuzustimmen, obwohl das Parlament diese bereits abgesegnet hatte. Der Konflikt lähmt die Arbeit der Regierung, die neben der Covid-19-Pandemie auch mit einer schweren Wirtschaftskrise ringt (BAMF 1.3.2021; vgl. DW 27.2.2021).
Die Verabschiedung der neuen Verfassung im Jahr 2014 hätte ein entscheidender Meilenstein zur Sicherung des demokratischen Experiments in Tunesien sein können. Die Ennahda war in der Vergangenheit aber nicht in der Lage, wesentliche Land- oder Steuerreformen zu verabschieden, um soziale Ungleichheiten zu beseitigen (Merip.org 16.3.2021).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.12.2020a): Tunesien: Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tunesien-node/politisches-portrait/219068, Zugriff 5.3.2021
- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf, Zugriff 18.3.2021
- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (1.3.2021): Briefing Notes 1. März 2021, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw09-2021.html, Zugriff 5.3.2021
- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (8.2.2021): Briefing Notes 8. Februar 2021, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw06-2021.html, Zugriff 5.3.2021
- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (25.1.2021): Briefing Notes 25. Januar 2021, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw04-2021.html, Zugriff 5.3.2021
- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Deutschland [Deutschland] (21.10.2019): Briefing Notes 21. Oktober 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2020341/briefingnotes-kw43-2019.pdf, Zugriff 27.1.2020
- DS - der Standard (10.1.2020): Tunesisches Parlament stimmt gegen Technokraten-Kabinett von designiertem Regierungschef, https://www.derstandard.at/story/2000113173373/tunesisches-parlament-stimmt-gegen-technokraten-kabinett-von-designiertem-regierungschef, Zugriff 13.1.2020
- DW - Deutsche Welle (27.2.2021): Politische Krise in Tunesien spitz sich zu, https://www.dw.com/de/politische-krise-in-tunesien-spitzt-sich-zu/a-56726821, Zugriff 5.3.2021
- DW - Deutsche Welle (21.1.2020): Regierungsbildung - Alles auf Anfang in Tunesien, https://www.dw.com/de/alles-auf-anfang-in-tunesien/a-52080584?maca=de-rss-de-region-afrika-4022-rdf, Zugriff 23.1.2020
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2020a): Tunesien - Geschichte & Staat, http://liportal.giz.de/tunesien/geschichte-staat/, Zugriff 4.3.2021
- Merip.org (16.3.2021): Tunisia’s Marginalized Redefine the Political, https://merip.org/2021/03/tunisias-marginalized-redefine-the-political/, Zugriff 18.3.2021
- ÖB - Österreichische Botschaften [Österreich] (1.10.2020): Asylländerbericht zu Tunesien, 1. Oktober 2020 https://www.ecoi.net/en/file/local/2042211/TUNESIEN_ALB_2020_-Finale_Fassung.pdf, Zugriff 5.3.2021
3. Sicherheitslage
Letzte Änderung: 19.03.2021
Die von den bisherigen Regierungen angestrebte Verbesserung der Sicherheitslage im Inneren und der Kampf gegen den Terrorismus bleiben trotz vermehrter Anstrengungen und zahlreichen Verhaftungs- und Durchsuchungsaktionen weiter eine Herausforderung. Nach den tragischen Anschlägen im Jahr 2015 auf das Bardo Museum, eine Hotelanlage in Sousse sowie einen Bus der Präsidialgarde und dem schweren Angriff von IS-Milizen auf die tunesische Grenzstadt Ben Guerdane im März 2016 hat sich die Sicherheitslage verbessert. Durch die derzeit starke Einbindung des Militärs in den Antiterrorkampf als auch bei der Sicherung der Grenzen (so ist z.B. der Süden Tunesiens militärische Sperrzone) ist das Militär nach wie vor wichtiger Stützpfeiler der äußeren aber auch der inneren Sicherheit (AA 19.2.2021; vgl. AA 8.3.2021, EDA 8.3.2021).
Die Sicherheitslage ist nach wie vor prekär, geprägt von täglichen Sicherheitsoperationen von Militär und Polizei sowie Meldungen über vereitelte Anschläge. Die Sorge vor einer Infiltration durch aus Libyen und anderen Konfliktzonen zurückkehrende Islamisten tunesischen Ursprungs ist groß. Auch mit Hilfe ausländischer logistischer Unterstützung wurden die Grenzkontrollen drastisch verschärft, und es wird auch im Land nach Rückkehrern gefahndet (ÖB 1.10.2020).
Laut österreichischem Außenministerium gilt (für österreichische Staatsbürger) eine partielle Reisewarnung (Sicherheitsstufe 5) für die Saharagebiete, das Grenzgebiet zu Algerien und die westlichen Landesteile. Reisewarnungen bestehen für die Region südlich der Orte Tozeur – Douz – Ksar Ghilane – Tataouine – Zarzis. Mit gewaltsamen Aktionen terroristischer Organisationen ist zu rechnen. Das militärische Sperrgebiet an der Grenze zu Algerien in der Nähe des Berges Chaambi ist teilweise vermint und kann von den Sicherheitskräften kurzfristig ausgedehnt werden. Im Westen des Landes ist mit verstärkter Militär- und Polizeipräsenz zu rechnen; es finden bewaffnete Auseinandersetzungen mit Terroristengruppen statt (BMEIA 8.3.2021). Die Behörden haben insbesondere die Präsenz der Sicherheitskräfte im Land erhöht, vor allem in den Touristenorten (EDA 8.3.2021).
Der seit 2015 geltende nationale Ausnahmezustand in Tunesien wurde am 26.12.2020 von Präsident Kaïes Saïed um weitere sechs Monate bis Ende Juni 2021 verlängert. Im Ausnahmezustand verfügen die Sicherheitsbehörden über erweiterte Befugnisse, was zu einer Einschränkung der Bewegungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit führen kann (BAMF 11.1.2021). Es erlaubt den Sicherheitskräften Streiks, Kundgebungen und große Versammlungen zu verbieten, von denen angenommen wird, dass sie zu Unruhen führen. Die Regierung hat diese Maßnahmen aus Sicherheitsgründen als notwendig bezeichnet, aber Analysten haben argumentiert, dass die Maßnahmen Dissens unterdrücken sollen (FH 3.3.2021; vgl. ÖB 1.10.2020). Die Behörden verfügen somit über eine weitreichende Erlaubnis, die Bewegungsfreiheit von Einzelpersonen einzuschränken, und Tausende von Menschen sind von solchen Verfügungen betroffen (FH 3.3.2021).
Tunesien erlebt eine Welle landesweiter Streiks und Proteste gegen den COVID-19-bedingten Anstieg der Arbeitslosigkeit im Land und auch gegen das Versagen des öffentlichen Gesundheitssystems. Regierungs- und öffentliche Gebäude sind beliebte Orte für Streiks und Proteste (AQ 2.2021).
Am 27.6.2019 wurden in Tunis zwei Anschläge gegen die Sicherheitskräfte verübt; eine Person wurde getötet und mehrere wurden verletzt, darunter auch Zivilisten (EDA 8.3.2021; vgl. AA 19.2.2021). Am 4.4.2020 töteten tunesische Sicherheitskräfte in der Provinz Kasserine nahe der Grenze zu Algerien zwei Terroristen die mit dem sogenannten Islamischen Staat (IS) in Verbindung gebracht werden (BAMF 6.4.2020). Am 20.12.2020 wurde ein Hirte in der zentralwestlichen Provinz Kasserine von militanten Islamisten entführt und enthauptet. Seit mehreren Jahren gilt die Gebirgsregion um die Stadt Kasserine an der Grenze zu Algerien als Rückzugsgebiet für militant islamistische Gruppierungen. Es kommt immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen (BAMF 21.12.2020 ; vgl. CIR 2.2021). Der IS ist seit seinen beiden Anschlägen in Sousse im Jahr 2015, in Tunesien aktiv, hat aber nie eine offizielle Niederlassung im Land erklärt. Seine Aktivitäten beschränken sich auf sporadische Anschläge, meist gegen Sicherheitskräfte in den abgelegenen Regionen des Chaambi-Gebirges, manchmal auch in städtischen Gebieten. Am 7.1.2021 meldete das Innenministerium die Verhaftung eines ranghohen Anführers von al-Qaida im islamischen Maghreb (AQIM) (CIR 2.2021).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf, Zugriff 18.3.2021
- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (8.3.2021): Tunesien - Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tunesien-node/tunesiensicherheit/219024, Zugriff 8.3.2021
- AQ - Anonyme Quelle (2.2021): Mail an die Staatendokumentation vom 3.2.2021
- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Deutschland [Deutschland] (11.1.2021): Briefing Notes, 1. Januar 2021, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw02-2021.html, Zugriff 8.3.2021
- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Deutschland [Deutschland] (21.12.2020): Briefing Notes, 21. Dezember 2020, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw52-2020.html?nn=282314, Zugriff 8.3.2021
- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Deutschland [Deutschland] (6.4.2020): Briefing Notes 6. April 2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2027827/briefingnotes-kw15-2020.pdf, Zugriff 30.6.2020
- BMEIA - Bundesministerium für Europäische und Internationale Angelegenheiten [Österreich] (8.3.2021): Tunesien - Reiseinformationen, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tunesien/, Zugriff 8.3.2021
- EDA - Eidgenössisches Department für Auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (8.3.2021): Reisehinweise für Tunesien, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/laender-reise-information/tunesien/reisehinweise-tunesien.html#par_textimage_0, Zugriff 8.3.2021
- FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html, Zugriff 8.3.2021
- ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (1.10.2020): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042211/TUNESIEN_ALB_2020_-Finale_Fassung.pdf, Zugriff 8.3.2021
4. Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 19.03.2021
Das Gesetz sieht eine unabhängige Justiz vor (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 3.3.2021, AA 19.2.2021). Im Allgemeinen respektiert die Regierung die richterliche Unabhängigkeit auch in der Praxis (USDOS 11.3.2020). Allerdings schreitet die Justizreform seit der Revolution nur langsam voran (FH 3.3.2021; vgl. AA 19.2.2021, GIZ 11.2020a). Auch weiterhin finden sich zahlreiche Richter aus der Ben-Ali-Ära auf der Richterbank und aufeinanderfolgende Regierungen versuchen regelmäßig, Gerichte zu manipulieren. Mit den 2016 verabschiedeten Rechtsvorschriften wurde der Oberste Justizrat eingesetzt, der für die Gewährleistung der Unabhängigkeit der Justiz und die Ernennung der Richter des Verfassungsgerichts zuständig ist. Die Ratsmitglieder wurden 2016 von Tausenden von Juristen gewählt. Bis 2019 waren jedoch weder das Verfassungsgericht, noch seine formell ernannten Mitglieder eingerichtet worden (FH 3.3.2021). Der Oberste Justizrat konnte seine Arbeit als neues Selbstverwaltungsorgan der Justiz erst aufnehmen, nachdem eine Gesetzesänderung die internen Konflikte der Richterschaft neutralisiert hatte. Als nächster Schritt soll die Konstituierung eines ordentlichen Verfassungsgerichts erfolgen. Bislang wacht eine provisorische Instanz über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen vor ihrem Inkrafttreten (AA 19.2.2021; vgl. ÖB 1.10.2020).
Im Oktober 2020 prüfte das Parlament einen Gesetzentwurf, der Sicherheitskräften Immunität gewähren soll, die tödliche Gewalt anwenden, um einige Versammlungen zu zerstreuen, wenn die Aktion als letztes Mittel angesehen wird. Nationale und internationale Menschenrechtsgruppen sprachen sich heftig gegen das Gesetz aus, das erstmals 2013 vorgeschlagen worden war, das Parlament zog das Gesetz zurück (FH 3.3.2021).
Gesetzlich ist ein faires Verfahren vorgesehen, und die unabhängige Justiz gewährleistet dieses üblicherweise auch in der Praxis. Die gesetzlich garantierten Rechte sind jedoch nicht immer gewährleistet. Es gilt die Unschuldsvermutung. Angeklagte haben das Recht auf einen öffentlichen Prozess sowie auf einen Anwalt, der notfalls aus öffentlichen Mitteln bereitgestellt werden muss. Sie haben das Recht, zu Zeugenaussagen Stellung zu nehmen und eigene Zeugen aufzurufen. Sie müssen in Beweismittel Einsicht nehmen können und müssen über die gegen sie erhobenen Anklagepunkte informiert werden. Des Weiteren muss ihnen ausreichend Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung gewährt werden (USDOS 11.3.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf, Zugriff 18.3.2021
- FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html, Zugriff 9.3.2021
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2020a): Tunesien - Geschichte & Staat, http://liportal.giz.de/tunesien/geschichte-staat/, Zugriff 9.3.2021
- HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043733.html, Zugriff 9.3.2021
- ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (1.10.2020): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042211/TUNESIEN_ALB_2020_-Finale_Fassung.pdf, Zugriff 9.3.2021
- USDOS - US Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026438.html, Zugriff 30.6.2020
5. Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 19.03.2021
Dem Innenministerium untersteht die Polizei (Exekutivfunktion in Städten) und die Nationalgarde bzw. Gendarmerie (Exekutivfunktion in ländlichen Gebieten und Grenzsicherung). Zivile Behörden kontrollieren den Sicherheitsapparat, wiewohl es gemäß NGOs vereinzelt zur Misshandlung von Häftlingen kommt (USDOS 11.3.2020; vgl. GIZ 11.2020a). Es mangelt an effektiven Strafverfolgungs- und Strafmechanismen bei Vergehen seitens der Sicherheitskräfte, und diesbezügliche interne Untersuchungen sind von einem Mangel an Transparenz geprägt (USDOS 11.3.2020).
Im Oktober 2020 erwog das Parlament einen Gesetzesentwurf, der Sicherheitspersonal, das mit tödlicher Gewalt reagiert, während es Versammlungen zerstreut, Immunität gewährt. Das Parlament zog das Gesetz später zurück, nachdem sich nationale und internationale Menschenrechtsgruppen vehement dagegen ausgesprochen hatten. Berichte über exzessive Gewaltanwendung und Folter durch Sicherheitsbeamte hielten auch 2020 an. Demonstranten prangerten die Gesetzesvorschläge an; es kam zu körperlichen Angriffen und Festnahmen (FH 3.3.2021).
Der Sicherheitsapparat war unter dem Ben-Ali-Regime allgegenwärtig und sicherte dessen Machterhalt. Die Rolle der Sicherheitskräfte während des Umsturzes aber teilweise auch bei gewaltsam aufgelösten Demonstrationen gegen die ersten beiden Interimsregierungen im Frühjahr 2011 vertieften den Vertrauensverlust der Bevölkerung gegenüber den Sicherheitsorganen, insbesondere der Polizei und den Sondereinheiten des Innenministeriums. Zwar wurde die Geheimpolizei („police politique“) aufgelöst, allerdings steht eine umfassende Reform des Innenministeriums und der nachgeordneten Behörden bis heute aus (AA 19.2.2021).
Das Militär genießt aufgrund seiner zurückhaltenden Rolle während der Revolution 2011 ein sehr hohes Ansehen in der Bevölkerung, welches bis dato anhält. Durch die derzeit starke Einbindung des Militärs in den Antiterrorkampf als auch bei der Sicherung der Grenzen (so ist z.B. der Süden Tunesiens militärische Sperrzone) ist das Militär nach wie vor wichtiger Stützpfeiler der äußeren, aber auch der inneren Sicherheit (AA 19.2.2021).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf, Zugriff 18.3.2021
- FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html, Zugriff 9.3.2021
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2020a): Tunesien - Geschichte & Staat, http://liportal.giz.de/tunesien/geschichte-staat/, Zugriff 9.3.2021
- USDOS - US Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026438.html, Zugriff 30.6.2020
6. Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 19.03.2021
Artikel 23 der tunesischen Verfassung vom 26.1.2014 garantiert den Schutz der Menschenwürde und der körperlichen Unversehrtheit, verbietet seelische oder körperliche Folter und schließt eine Verjährung des Verbrechens der Folter aus. Mit der Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur Konvention der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe am 29.6.2011 hat sich Tunesien zur Einrichtung eines nationalen Präventionsmechanismus verpflichtet. Eine innerstaatliche gesetzliche Grundlage wurde 2013 geschaffen. 2016 schließlich wählte das Parlament die Mitglieder der neuen "Nationalen Instanz zur Verhütung von Folter und unmenschlicher Behandlung". Zu ihren Hauptaufgaben gehören unangemeldete Besuche an allen Orten des Freiheitsentzugs, das Entgegennehmen und Weiterleiten von Beschwerden an die Justizbehörde,sowie die Abgabe von Empfehlungen zur Behebung von Missständen (AA 19.2.2021).
NGOs kritisierten die Regierung für ihre Anwendung des Antiterrorgesetzes, den Anschein von Straflosigkeit für Täter und für die Zurückhaltung bei der Untersuchung von Foltervorwürfen (USDOS 11.3.2020). Die Polizei sieht sich seit langem mit Vorwürfen konfrontiert, wonach Beamte ungestraft Zivilisten und Inhaftierte misshandeln. Die Polizeigewerkschaften haben sich gegen Reformbemühungen gewehrt, die auf eine Problemlösung abzielen. Es kommt auch weiterhin zu Gewaltanwendung und Folter durch Sicherheitsbeamte (FH 3.3.2021). Dutzende von Häftlingen gaben an, von der Polizei oder der Nationalgarde gefoltert oder anderweitig misshandelt worden zu sein. In vielen Fällen verweigerte die Polizei den Inhaftierten das Recht, ihren Anwalt oder ein Familienmitglied anzurufen oder verweigerte ihnen eine ärztliche Untersuchung (AI 18.2.2020). Tunesische und internationale Medien sowie spezialisierte NGOs, wie die Organisation Mondiale contre la Torture (OMCT) oder die Organisation contre la Torture en Tunisie (OCTT), berichten kontinuierlich über entsprechende Einzelfälle sowie Bestrebungen, rechtliche Schritte gegen die Verantwortlichen einzuleiten. Bislang ist es jedoch in keinem einzigen Fall gelungen, eine Verurteilung wegen Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung zu erreichen. Abstrakte Befürchtungen, dass diese Delikte wieder zunehmen könnten, werden vor allem im Zusammenhang mit Terrorabwehrmaßnahmen geäußert. Menschenrechtsorganisationen stellten im Laufe des Jahres 2019 einen Rückgang der gemeldeten Fälle von Folter und Misshandlung fest (USDOS 11.3.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf, Zugriff 18.3.2021
- AI - Amnesty International (18.2.2020): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2019; Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025848.html, Zugriff 30.6.2020
- FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html, Zugriff 9.3.2021
- USDOS - US Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026438.html, Zugriff 30.6.2020
7. NGOs und Menschenrechtsaktivisten
Letzte Änderung: 19.03.2021
Eine Vielzahl nationaler und internationaler NGOs untersucht Menschenrechtsfälle und publiziert ihre Ergebnisse ohne Restriktionen durch die Regierung. Regierungsbeamte sind üblicherweise kooperativ und reagieren auf ihre Ansichten (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 19.2.2021). Die seit der Revolution sehr aktiv gewordene Zivilgesellschaft trägt ihren Beitrag zur Anprangerung und Bekämpfung von Missständen bei und hat so schon erfolgreich zu gesetzlichen Veränderungen beigetragen, wie z.B. zur Verabschiedung eines Anti-Rassismus-Gesetzes (ÖB 1.10.2020). Im Juli 2018 verabschiedete das Parlament ein umstrittenes neues Gesetz, welches alle NGOs dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen. Kritiker argumentieren, dass die Gesetzgebung verfassungswidrig sei und die Registrierungspflicht dazu dienen solle, die Überwachung und Aufsicht der Zivilgesellschaft durch die Regierung zu verstärken. Eine Nichtregistrierung kann zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe von 4.000 US-Dollar führen (FH 3.3.2021).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2030006/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Februar_2020%29%2C_17.04.2020.pdf, Zugriff 18.3.2021
- FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html, Zugriff 9.3.2021
- ÖB - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (1.10.2020): Asylländerbericht Tunesien, https://www.ecoi.net/en/file/local/2042211/TUNESIEN_ALB_2020_-Finale_Fassung.pdf, Zugriff 9.3.2021
- USDOS - US Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026438.html, Zugriff 30.6.2020
8. Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 19.03.2021
Die tunesische Verfassung vom 26.1.2014 enthält umfangreiche Garantien bürgerlicher und politischer sowie wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Grundrechte. Tunesien hat die meisten Konventionen der Vereinten Nationen zum Schutz der Menschenrechte einschließlich der entsprechenden Zusatzprotokolle ratifiziert. Vereinzelt noch bestehende Vorbehalte wurden 2011 größtenteils zurückgezogen. Eine ständige Herausforderung bleibt die Anpassung der nationalen Rechtsordnung an die neue Verfassung (AA 19.2.2021). Im Jahr 2020 machte das Parlament keine Fortschritte bei der Reform von Gesetzen, die Menschenrechte verletzen oder bedrohen (HRW 13.1.2021).
Tunesien verfügt über eine Reihe an Institutionen, die sich mit Menschenrechten befassen. Das Land schneidet allerdings auch nach dem Umbruch in den Berichten internationaler Menschenrechtsorganisationen regelmäßig schlecht ab. Eingeschränkte Presse- und Meinungsfreiheit, Folter von Häftlingen und Attacken gegen Oppositionelle listet der aktuelle Jahresbericht von Amnesty International auf. Seit dem Sturz Ben Alis hat sich die Situation zwar gebessert, allerdings kommt es nach wie vor zu Menschenrechtsverletzungen, so die Internationale Menschenrechtsliga (FIDH) (GIZ 11.2020a).
Im Vergleich zu den weitreichenden Einschränkungen von Meinungs- und Pressefreiheit vor der Revolution 2011 haben sich die Bedingungen für unabhängige Medienberichterstattung in den letzten Jahren allerdings grundlegend verbessert. Es wurden wichtige rechtliche Grundlagen zum Schutz der freien Presse geschaffen und offizielle und informelle Strukturen, die zur Unterdrückung freier Meinungsäußerung eingesetzt wurden, größtenteils abgeschafft. Die Meinungs- und Pressefreiheit, sowie auch das Recht auf Zugang zu Informationen und Kommunikationsnetzwerken wurden in den Artikeln 31 und 32 der Verfassung von 2014 ausdrücklich gestärkt. Die Medien berichten - in unterschiedlicher Qualität - frei und offen (AA 19.2.2021; vgl. FH 3.3.2021). Die Öffnung der Medienszene hat in den letzten Jahren zum Entstehen einer lebendigen, teilweise wildwüchsigen Medienlandschaft geführt, die Missstände offen thematisiert (AA 19.2.2021).
Gesetzlich sind Meinungs- und Pressefreiheit somit gewährleistet und die Regierung respektiert diese Rechte im Allgemeinen, wie wohl es weiterhin Restriktionen gibt (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 3.3.2021). Diese Einschränkungen finden sich z. B. in Bezug auf sicherheitsrelevante Themen. Seit den Ausweitungen der Antiterrormaßnahmen hat sich diese Tendenz verstärkt. Journalisten und Blogger, die Kritik an Sicherheitskräften üben, müssen weiterhin mit Strafen rechnen (AA 19.2.2021). Mit der Verlängerung des Ausnahmezustands um weitere sechs Monate, verfügen nun auch die Sicherheitskräfte über erweiterte Befugnisse, was unter anderem zur Einschränkung der Pressefreiheit führen kann (BAMF 11.1.2021).
Während Online- und Printmedien häufig regierungskritische Artikel veröffentlichen, üben Journalisten und Aktivisten dennoch zeitweise Selbstzensur als Resultat von Gewaltakten gegen Journalisten. Meinungsäußerungen, welche "die öffentliche Ordnung oder Moral verletzen" oder "absichtlich Personen stören, auf eine Art und Weise, die den öffentlichen Anstand beleidigen" stehen weiterhin unter Strafe (USDOS 11.3.2020).
Ebenso existieren weiterhin Einschränkungen bei der Kritik an der Religion. Rechtlich verankert ist dies u.a. in Artikel 6 der Verfassung, der den "Schutz des Sakralen" garantiert. Es kommt immer wieder zu einzelnen Fällen von fragwürdiger Strafverfolgung von Journalisten und freischaffenden Bloggern (AA 19.2.2021). Entsprechende Verfahren gegen Zivilisten werden oft von Militärgerichten geführt – eine Praxis, die von tunesischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert wird (FH 3.3.2021; vgl. AA 19.2.2021). Am 4.5.2020 lud die Kriminalpolizei Emna Chargui vor, nachdem sie auf Facebook einen kurzen Text mit dem Titel "Sura Corona" gepostet hatte, geschrieben und formatiert im Stil eines Koranverses (Sure). Der Staatsanwalt beschuldigte Chargui der "Aufstachelung zum Hass zwischen den Religionen durch feindselige Mittel oder Gewalt" gemäß Artikel 52 des Pressefreiheitsdekret-Gesetzes. Am 17.7.2020 verurteilte ein Gericht der ersten Instanz in Tunis Chargui zu sechs Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe (HRW 13.1.2021).
Einige Journalisten sind im Zusammenhang mit ihrer Arbeit Druck und Einschüchterung durch Regierungsbeamte ausgesetzt. Reporter, die über die Sicherheitskräfte berichten, sind weiterhin besonders anfällig für Schikanen und Verhaftungen (FH 3.3.2021). Die Behörden stützten sich auf repressive Bestimmungen des Strafgesetzbuches sowie auf andere Gesetze, um Meinungsäußerungen zu bestrafen, darunter auch Kritik an Amtsträgern. Zwei Social-Media-Aktivisten wurden im April 2020 verhaftet und angeklagt, weil sie sich auf Facebook kritisch über die ihrer Meinung nach unzureichende oder korrupte Reaktion der Regierung auf die durch die Covid-19-Pandemie verursachte finanzielle Notlage äußerten (HRW 13.1.2021; vgl. FH 3.3.2021). Im November 2020 wurde ein Blogger zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt, weil er sich in einem Facebook-Video kritisch über einen Staatsanwalt geäußert hatte (FH 3.3.2021).
Im Vorfeld der Wahlen 2019 äußerten tunesische Journalisten ihre Besorgnis über den Einfluss der Regierung auf die öffentliche Rundfunkanstalt (FH 3.3.2021).
Die Verfassung garantiert das Recht auf friedliche Versammlungen und Demonstrationen (FH 3.3.2021; vgl. AA 19.2.2021, USDOS 11.3.2020). Zu Einschränkungen kommt es mehrfach aufgrund des weiterhin gültigen Ausnahmezustands. Die Übergänge zwischen legitimen Protesten gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik einerseits und periodisch auftretenden gewaltsamen Ausschreitungen und Plünderungen andererseits sind oft fließend. Grundsätzlich ist jedoch festzustellen, dass die Sicherheitsorgane friedliche Versammlungen und Demonstrationen in der Regel zuverlässig schützen, aber bei Rechtsverletzungen auch entsprechend robust auftreten. Nur vereinzelt kommt es dabei zu unverhältnismäßigem Einsatz polizeilicher Mittel (AA 19.2.2021).
Die Versammlungsfreiheit wurde auch unter den COVID-19-bezogenen Notstandsmaßnahmen Ende März 2020 eingeschränkt, die zunächst alle Versammlungen untersagten. Das Protestverbot wurde im November 2020 in eine weitere Anordnung aufgenommen, aber die Beschränkungen für Massenversammlungen wurden in einer Anordnung vom Dezember 2020 wieder gelockert. Dennoch kam es im Mai 2020 zu kleineren Protesten. Ende Juni 2020 protestierten Demonstranten in der Stadt Tataouine gegen die hohe Arbeitslosigkeit und stießen mit den Behörden zusammen, nachdem ein Aktivist festgenommen worden war. Das Innenministerium berichtete von zehn Verhaftungen nach diesen Zusammenstößen. Im Oktober 2020 protestierten Demonstranten vor dem Parlamentsgebäude in Tunis gegen einen Gesetzesvorschlag, der dem Sicherheitspersonal Immunität gewähren würde; die Teilnehmer wurden von den Sicherheitskräften körperlich angegriffen und mehrere wurden festgenommen. Andere Demonstrationen verliefen im Laufe des Jahres jedoch ohne gewaltsames Eingreifen (FH 3.3.2021).
Vereinigungsfreiheit ist gesetzlich gewährleistet (FH 3.3.2021; vgl. AA 19.2.2021, USDOS 11.3.2020). Im Zuge der Bekämpfung von Terrorismus und Geldwäsche wird derzeit eine Reform des Vereinsrechts vorbereitet, die von der tunesischen Zivilgesellschaft sehr kritisch beobachtet wird, hinsichtlich ihrer abschließenden Gestalt aber noch nicht beurteilt werden kann (AA 19.2.2021).
Die primäre Behörde der Regierung zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen und zum Kampf gegen Bedrohungen der Menschenrechte ist das Justizministerium. Das Ministerium versagt allerdings dabei, Fälle von Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Innerhalb des Präsidentenbüros ist der Hohe Ausschuss für Menschenrechte und Grundfreiheiten eine von der Regierung finanzierte Agentur, die mit der Überwachung der Menschenrechte und der Beratung des Präsidenten betraut ist. Das Ministerium für die Beziehungen zu den Verfassungsorganen, der Zivilgesellschaft und den Menschenrechten ist für die Koordinierung der Regierungsaktivitäten im Zusammenhang mit den Menschenrechten zuständig. Die Wahrheits- und Würdekommission (IVD) wurde 2014 gegründet, um schwere Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen (USDOS 11.3.2020). Anfang 2018 stimmte das Parlament gegen eine Verlängerung des Mandats der Kommission, eine Entscheidung, die sich kritisch äußerte, weil sie die Bemühungen um eine Übergangsjustiz schwächte. Die Kommission legte ihren Abschlussbericht im März 2019 vor und veröffentlichte ihn offiziell im Juni 2020. Sie stützte sich dabei auf mehr als 62.000 Beschwerden, die tunesische Bürger wegen Menschenrechtsverletzungen gegen den Staat eingereicht hatten. Tunesische Gerichte prüften zum Jahresende 69 Anklagen und 131 Überweisungen der IVD (FH 3.3.2021).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf, Zugriff 18.3.2021
- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (11.1.2021): Briefing Notes, 1. Januar 2021, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw02-2021.html, Zugriff 10.3.2021
- FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html, Zugriff 10.3.2021
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (11.2020a): Tunesien - Geschichte & Staat, http://liportal.giz.de/tunesien/geschichte-staat/, Zugriff 10.3.2021
- HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2043733.html, Zugriff 10.3.2021
- USDOS - US Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026438.html, Zugriff 30.6.2020
9. Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung: 19.03.2021
Das Gesetz gewährleistet Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes, Auslandsreisen (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 3.3.2021), Emigration sowie Wiedereinbürgerung. Die Regierung respektiert im Allgemeinen diese Rechte auch in der Praxis (USDOS 11.3.2020). Die Situation bezüglich Bewegungsfreiheit hat sich seit 2011 substantiell verbessert. Allerdings können die Behörden unter dem breiten Mandat des Ausnahmezustands die Bewegungsfreiheit einzelner Personen beschränken. Davon waren tausende Menschen betroffen. Die Bewegungsfreiheit wurde auch durch COVID-19-bezogene Maßnahmen beeinträchtigt (FH 3.3.2021).
Einer Flucht innerhalb Tunesiens werden durch die geringe Größe des Landes enge Grenzen gesetzt. Ein Verlassen besonders gefährdeter Gebiete in den Grenzregionen ist grundsätzlich möglich (AA 19.2.2021).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.2.2021): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Tunesien (Stand: Dezember 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2047265/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_Tunesien_%28Stand_Dezember_2020%29%2C_19.02.2021.pdf, Zugriff 18.3.2021
- FH - Freedom House (3.3.2021): Freedom in the World 2021 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025955.html, Zugriff 10.3.2021
- USDOS - US Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026438.html, Zugriff 30.6.2020
10. Grundversorgung und Wirtschaft
Letzte Änderung: 19.03.2021
Die Grundversorgung der Bevölkerung gilt als gut (AA 19.2.2021). Tunesien verfügt über eine moderne Wirtschaftsstruktur auf marktwirtschaftlicher Basis sowie wichtige Standortvorteile: Ein hoher Industrialisierungsgrad, gute Infrastruktur, Nähe zu Europa sowie qualifizierte Arbeitskräfte (AA 9.2019b) und Steuervorteile für Exportbetriebe ("Offshore-Sektor") (GIZ 11.2020c). Den größten Anteil am Bruttoinlandsprodukt erwirtschaftet der Dienstleistungssektor (ca. 50% aller Erwerbstätigen), gefolgt von der Industrie (32%) und der Landwirtschaft (ca. 25%) (AA 9.2019b; vgl. GIZ 11.2020c). Neben dem Bergbau, der einer der wichtigsten Sektoren der tunesischen Wirtschaft ist, spielen Landwirtschaft, Textilfabrikation und Tourismus eine wichtige Rolle für die tunesische Wirtschaft (GIZ 11.2020c). Der Tourismus ist einer der Sektoren, der am meisten von der Corona-Krise betroffen ist. Die Zahlen der Touristen im Jahr 2020 sind um knapp zwei Millionen zurückgegangen und die Gesamteinnahmen seit Jahresbeginn 2020 um 60% gesunken (WKO 9.10.2020). Im Dienstleistungssektor spielen vor allem nach Tunesien ausgelagerte Callcenter französischer Firmen und IT-Unternehmen eine große Rolle. Außerdem gründen sich seit 2011 immer mehr Start-Ups. Der sogenannte Start Up Act, der im April 2018 verabschiedet wurde, soll aufstrebenden jungen Kleinunternehmen v.a. im IT-Bereich den Start erleichtern. Seine Umsetzung wird jedoch kritisiert (GIZ 11.2020c).
Der Förderung der Wirtschaft und der Schaffung von Arbeitsplätzen kommt nach der Revolution große Bedeutung zu, da die politischen Ereignisse für einen deutlichen Einbruch der Wirtschaft gesorgt haben. Die Arbeitslosigkeit bleibt eines der dringlichsten Probleme des Landes. Die tunesische Wirtschaft ist auch mehr als sieben Jahre nach dem Umbruch nicht besonders konkurrenzfähig. Das Finanzgesetz 2018 hatte zu Beginn des Jahres massive Proteste ausgelöst (GIZ 11.2020c).
Die Corona-Krise trifft Tunesien hart und zeichnet vor allem die Wirtschaft mit tiefen Kerben. Für das Gesamtjahr 2020 wird ein Einbruch des tunesischen BIP um 8,1% erwartet (WKO 9.10.2020). Die größten Herausforderungen liegen in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit (AA 9.2019b; vgl. GIZ 11.2020c) und der Beschäftigungsförderung, der Verbesserung der arbeitsmarktorientierten Aus- und Fortbildung, sowie der Erhöhung des Investitionsniveaus im privaten und öffentlichen Sektor (AA 9.2019b). Die Arbeitslosigkeit bewegt sich zwischen 15% und 16%, wobei junge Menschen, Frauen, Akademiker (ca. 300.000) und die benachteiligten Regionen im Binnenland überproportional betroffen sind (AA 9.2019b; vgl. GIZ 11.2020c, ÖB 1.10.2020). Mit Ausbruch der Covid-19 Krise Mitte März 2020 verschärfte sich die Lage nochmals um ein Vielfaches: die Arbeitslosigkeit, seit Jahren gemäß offiziellen Statistiken 15,6% ist auf 18% gestiegen und dürfte bis Jahresende weiter auf 20% steigen (ÖB 1.10.2020; vgl. WKO 9.10.2020). Die Erhebung tatsächlich zutreffender Zahlen wird durch die Tatsache erschwert, dass 45% der Arbeitskräfte Tunesiens im informellen Sektor beschäftigt sind (ÖB 1.10.2020).
Um regionalen Ungleichheiten zu begegnen, hat Tunesien ein ambitioniertes Programm zur Regionalentwicklung vorgelegt (AA 9.2019b). Die vorherige Regierung hat zur Verbesserung der Grundversorgung der Bevölkerung in den armen Gegenden des Südens und des Landesinnern eine Umwidmung der staatlichen Ausgabenprogramme weg vom gut entwickelten Küstenstreifen hin zu diesen Regionen vorgenommen (AA 19.2.2021).
Tunesien ist ein Niedriglohnland. Die durchschnittlichen Monatslöhne im produzierenden Gewerbe liegen zwischen 500 und 800 Dinar. Arbeiter im öffentlichen Sektor verdienen rund 900 Dinar, Beamte 1.000-1.600 Dinar (ÖB 1.10.2020). Der staatliche Mindestlohn wurde nach der Revolution von 225 auf 380 Dinar monatlich (ca. 125 Euro) angehoben. Auch das genügt kaum, um den Lebensunterhalt einer Person zu decken, geschweige denn davon eine Familie zu ernähren. Laut einer aktuellen Untersuchung des Sozialministeriums leben rund 24% der Bevölkerung in Armut, d.h. sie leben von weniger als dem staatlichen Mindestlohn (GIZ 11.2020c). Nichtsdestotrotz verfügt das Land über eine relativ breite, weit definierte Mittelschicht aus selbständigen Kleinunternehmern, Angestellten und Beamten (deren Einkommen niedrig ist) und einer schmalen Oberschicht. Diese spaltet sich in alteingesessenes Bildungsbürgertum und ökonomische Elite (GIZ 11.2020b).
In Tunesien gibt es ein gewisses strukturiertes Sozialsystem. Es bietet zwar keine großzügigen Leistungen, stellt aber dennoch einen gewissen Grundschutz für Bedürftige, Alte und Kranke dar. Der Deckungsgrad beträgt 95%. Folgende staatlichen Hilfen werden angeboten: Rente, Arbeitslosengeld, Kindergeld, Krankengeld, Mutterschaftsgeld, Sterbegeld, Witwenrente, Waisenrente, Invalidenrente, Hilfen für arme Familien, Erstattung der Sach- und Personalkosten bei Krankenbehandlung, Kredite für Familien. Eine Arbeitslosenunterstützung wird für maximal ein Jahr ausbezahlt – allerdings unter der Voraussetzung, dass man vorab sozialversichert war. Es gibt folgende Arbeitsvermittlungsinstitutionen: Nationale Arbeitsagentur (ANETI), Berufsbildungsagentur (ATFP), Zentrum für die Ausbildung der Ausbilder und die Entwicklung von Lehrplänen (CENAFFIF), Zentrum für die Weit