TE Vwgh Beschluss 2021/2/10 Ra 2020/18/0205

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Veröffentlicht am 10.02.2021
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGG §34 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des M B, vertreten durch Dr. Elizabeth Pira-Stemberger, Rechtsanwältin in 5020 Salzburg, Rudolfskai 48, diese vertreten durch Dr. Gerhard Mory, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Dezember 2019, W117 2220401-1/11E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der Volksgruppe der Tschetschenen. Er reiste gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinem minderjährigen Kind am 5. März 2004 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.

2        Nach Abweisung seines Antrages mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 14. September 2004 gab der Unabhängige Bundesasylsenat der Beschwerde des Revisionswerbers mit Bescheid vom 2. Juni 2005 statt, erkannte ihm den Status des Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

3        Der Revisionswerber sei aufgrund seiner Tätigkeiten für den tschetschenischen Widerstand regelmäßig in das Blickfeld der russischen Behörden geraten und diesen auch namentlich bekannt gewesen. Ihm sei ein Naheverhältnis zu tschetschenischen Separatisten unterstellt worden, weil er wiederholt Widerstandskämpfer unterstützt habe.

4        Mit Bescheid vom 15. Mai 2019 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) dem mehrfach straffällig gewordenen Revisionswerber den Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab und stellte fest, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme. Unter einem erkannte das BFA dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zu, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, erklärte dessen Abschiebung in die Russische Föderation für zulässig, legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest und erließ gegen ihn ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot.

5        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.

6        Das BVwG stützte sich beim Ausspruch über die Aberkennung des Status des Asylberechtigten - wie bereits zuvor die Behörde - darauf, dass sich die Situation im Herkunftsstaat seit dem offiziellen Ende des zweiten Tschetschenienkrieges maßgeblich und nachhaltig verändert habe. Es könne nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerber nach einer Rückkehr in die Russische Föderation mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit noch asylrelevanten Übergriffen ausgesetzt sei. Dies ergebe sich aus den vom BFA herangezogenen Länderdokumenten, wonach das Hauptaugenmerk der russischen Behörden IS-Kämpfern bzw. Unterstützern und Personen, die im Nordkaukasus gegen die Sicherheitskräfte kämpften, gelte. Das Vorbringen des Revisionswerbers, ihm drohe bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Verfolgung aufgrund seiner Teilnahme bei einer Demonstration gegen Abschiebungen und seiner auf Internetportalen geäußerten Kritik an Vladimir Putin und Ramzan Kadyrov, sei nicht substantiiert erstattet worden. Die Ausführungen des Revisionswerbers seien zu vage geblieben, um damit eine Verfolgungsgefahr in der Russischen Föderation glaubhaft zu machen.

7        Zur Nichtgewährung subsidiären Schutzes erwog das BVwG, es seien keine außergewöhnlichen Umstände hervorgekommen, wonach der volljährige Revisionswerber, der über Familienangehörige, Verwandte und Bekannte im Herkunftsstaat verfüge, in der Russischen Föderation sozialisiert worden sei und die Landessprache beherrsche, bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wäre. Nach den Länderfeststellungen seien die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Revisionswerbers, der nach den Feststellungen des BVwG an einer komplexen Traumastörung mit wiederkehrenden depressiven Episoden sowie chronischen Wirbelsäulenbeschwerden leide und zu 50 % in seiner allgemeinen Erwerbsfähigkeit gemindert sei, in der Russischen Föderation kostenlos behandelbar; Medikamente bzw. sämtliche Wirkstoffe seien dort erhältlich. Auch verschiedene psychiatrische Behandlungen, etwa für posttraumatische Belastungsstörungen, seien landesweit, aber vor allem in Moskau verfügbar. Das BVwG teilte zudem die Erwägung des BFA, dem vom Revisionswerber im behördlichen Verfahren vorgelegten neuropsychiatrischen Gutachten sei als Zukunftsprognose ausdrücklich zu entnehmen, dass nach Inanspruchnahme der empfohlenen Maßnahmen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Besserung des Gesundheitszustandes des Revisionswerbers zwischen Mai und August 2019 zu erwarten sei. Der Revisionswerber könne finanzielle Unterstützung durch seine Familienangehörigen erhalten. Zudem bestehe in der Russischen Föderation nach den Länderfeststellungen ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem und Arbeitnehmer mit einem Behindertenstatus hätten das Recht auf eine Behindertenrente. Der Revisionswerber könne überdies Arbeitslosenunterstützung und eine kostenfreie Unterkunft beantragen.

8        Im Hinblick auf das in Österreich bestehende Familienleben des Revisionswerbers schloss sich das BVwG der Einschätzung des BFA an, wonach im vorliegenden Fall aufgrund der Zerrüttung der Ehegemeinschaft und des massiven Fehlverhaltens des Revisionswerbers nicht von einem schützenswerten Familienleben auszugehen sei. Nach den Feststellungen des BFA sei gegen den Revisionswerber wegen des Verdachts der fortgesetzten Gewaltausübung, der Körperverletzung und der Vergewaltigung ein Betretungsverbot ausgesprochen worden. Die mangelnde Verbundenheit zu seinen Angehörigen ergebe sich auch daraus, dass der Revisionswerber regelmäßig über keinen gemeinsamen Wohnsitz mit diesen verfügt habe und auch gegenwärtig keinen gemeinsamen Wohnsitz mit seiner Familie aufweise. In Bezug auf das Privatleben des Revisionswerbers führte das BFA unter anderem die mangelnde berufliche Integration, den fehlenden Freundeskreis, die Straffälligkeit und die marginalen Deutschkenntnisse des Revisionswerbers ins Treffen. Das Privat- und Familienleben des Revisionswerbers sei durch dessen Kriminalität erheblich getrübt worden. Das öffentliche Interesse überwiege in Anbetracht der festgestellten schweren Verstöße des Revisionswerbers gegen die österreichische Rechtsordnung sowie der erheblichen Gefahr, die von ihm für die öffentliche Sicherheit ausgehe, gegenüber seinen persönlichen Interessen. Diese Erwägungen teilte das BVwG, indem es ausführte, der Revisionswerber habe trotz seiner sehr langen Aufenthaltsdauer kaum entsprechende Deutschkenntnisse und auch keine signifikanten Zeiten legaler Erwerbstätigkeit nachweisen können. Angesichts der wiederholten Straffälligkeit sowie des Umstandes, dass er trotz seiner langen Aufenthaltsdauer die Zeit nicht genützt habe, um sich sozial und beruflich zu integrieren, könne in Summe nicht festgestellt werden, dass dem subjektiven Interesse des Revisionswerbers am Verbleib im Inland Vorzug gegenüber dem maßgeblichen öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sowie der Verhinderung von Straftaten zu geben sei. Hinsichtlich des Einreiseverbotes legte das BVwG unter näheren Ausführungen zur Gefährlichkeit und Gewaltbereitschaft des Revisionswerbers und seiner fehlenden beruflichen Integration dar, dass im vorliegenden Fall die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls sehr hoch sei und nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Revisionswerber keine weiteren strafbaren Handlungen begehen werde.

9        Gegen dieses Erkenntnis brachte der Revisionswerber zunächst eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof ein, der deren Behandlung mit Beschluss vom 27. Februar 2020, E 348/2020-5, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

10       Die vorliegende außerordentliche Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen vor, die Voraussetzungen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten seien nicht vorgelegen und das BVwG habe es bei der Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative unterlassen, eine Zumutbarkeitsprüfung vorzunehmen. Das BVwG hätte überdies eine mündliche Verhandlung durchführen müssen. Weiters wendet sich die Revision gegen die im Rahmen der Rückkehrentscheidung vorgenommene Interessenabwägung und die bei der Verhängung eines Einreiseverbotes zu erstellende Gefährdungsprognose.

11       Der Verwaltungsgerichtshof leitete ein Vorverfahren ein; das BFA reichte mit Schriftsatz vom 20. November 2020 eine Revisionsbeantwortung ein.

12       Seitens des Revisionswerbers ergingen mehrere telefonische und schriftliche Eingaben an den Verwaltungsgerichtshof, in denen er u.a. Anschuldigungen gegenüber seiner Ehefrau erhob. Diese solle zu einer gynäkologischen Untersuchung geschickt werden, weil sie mit einem anderen Mann schlafe. Er ersuche um Scheidung seiner Ehe und Vaterschaftsüberprüfung hinsichtlich seiner Kinder.

13       Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

14       Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

15       Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

16       Die Revision macht u.a. geltend, dass dem Erkenntnis des BVwG, das - entgegen dem Revisionsvorbringen - sehr wohl Feststellungen zu den für die seinerzeitige Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft maßgeblichen Tatsachen enthält, nicht einwandfrei zu entnehmen sei, ob das BVwG einen Wegfall der Gründe, die zur Asylzuerkennung und Feststellung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, in Bezug auf die Herkunftsregion oder auf die (übrige) Russische Föderation angenommen habe.

17       Demgegenüber ergibt sich jedoch aus den teilweise dislozierten Feststellungen des BVwG, den beweiswürdigenden Überlegungen und der rechtlichen Beurteilung, dass das BVwG im angefochtenen Erkenntnis davon ausgegangen ist, dass dem Revisionswerber aktuell weder von russischen noch von tschetschenischen Behörden Verfolgung aufgrund jener Umstände, die seinerzeit zu einer Asylgewährung an den Revisionswerber führten, drohe.

18       Den diesbezüglichen Erwägungen des BFA, denen sich das BVwG anschloss, wonach den Länderfeststellungen zufolge davon ausgegangen werden könne, dass sich die russischen und tschetschenischen Behörden mittlerweile auf IS-Kämpfer/Unterstützer bzw. auf Personen konzentrierten, die im Nordkaukasus gegen die Sicherheitskräfte kämpften, und es keine Hinweise auf Verfolgung von Veteranen der Tschetschenienkriege nach 2011 gebe, tritt die Zulässigkeitsbegründung nicht entgegen und zeigt nicht auf, weshalb dem Revisionswerber aufgrund seines Engagements während des Tschetschenienkrieges bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat weiterhin Verfolgung drohen würde.

19       Einen relevanten Verfahrensfehler vermag die Revision damit nicht aufzuzeigen und geht auch ihr Vorbringen, wonach das BVwG die „geänderte-Umstände-Klausel“ auf eine innerstaatliche Fluchtalternative gestützt habe, ohne eine Zumutbarkeitsprüfung durchzuführen, ins Leere.

20       Hinsichtlich der Rückkehr beruft sich die Revision vielmehr - wie bereits zuvor die Beschwerde - auf die getroffenen Länderfeststellungen zu der nach wie vor besorgniserregenden Menschenrechtslage in Tschetschenien sowie zur massiven Druckausübung auf Kritiker Kadyrovs, die häufig auch in russischen Großstädten nicht sicher seien, und somit erkennbar auf das damit in Zusammenhang stehende, in der niederschriftlichen Einvernahme vorgebrachte exilpolitische Engagement des Revisionswerbers.

21       Hierzu erwog das BVwG, das diesbezügliche Vorbringen des Revisionswerbers sei weder substantiiert erstattet noch sonst glaubhaft gemacht worden und liege mehrere Jahre zurück. Es schloss sich der Einschätzung des BFA an, wonach der Revisionswerber eine hochrangige exilpolitische Aktivität nicht behauptet habe, sondern vielmehr von einer sehr untergeordneten Rolle des Revisionswerbers in der tschetschenischen Diaspora in Österreich auszugehen sei, weshalb ein maßgebliches Interesse der russischen Behörden an der Person des Revisionswerbers nicht anzunehmen sei. Zudem sei sein Vorbringen, wonach er auf einer Internetplattform Putin bzw. Kadyrov kritisiert habe, zu vage geblieben, um damit eine Verfolgungsgefahr in der Russischen Föderation glaubhaft machen zu können.

22       Dass diese Beweiswürdigung unvertretbar wäre, zeigt die Revision nicht auf.

23       Zu dem gegen die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Zusammenhang mit dem exilpolitischen Engagement des Revisionswerbers gerichteten Revisionsvorbringen genügt es darauf hinzuweisen, dass das BVwG, wie bereits zuvor das BFA, diese nur hilfsweise heranzog und sich tragend auf eine fehlende Glaubhaftmachung der behaupteten Verfolgung stützte, weshalb die nur hilfsweise herangezogene innerstaatliche Fluchtalternative nicht maßgeblich ist (vgl. VwGH 29.6.2018, Ra 2018/18/0138, mwN).

24       Soweit die Revision einen Verstoß des BVwG gegen die Verhandlungspflicht geltend macht, ist zunächst festzuhalten, dass nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum auch hier maßgeblichen § 21 Abs. 7 erster Fall BFA-VG ein Absehen von der mündlichen Verhandlung dann gerechtfertigt ist, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018).

25       Wenn die Revision vorbringt, das verwaltungsbehördliche Ermittlungsverfahren sei mangelhaft, da das BFA zum Vorbringen des Revisionswerbers hinsichtlich seines exilpolitischen Engagements keine Ermittlungen durchgeführt habe, übersieht sie, dass der Revisionswerber dazu in der niederschriftlichen Einvernahme näher befragt wurde, ihm die Möglichkeit gegeben wurde, sich zu den mit seinem Vorbringen im Zusammenhang stehenden Länderinformationen zu äußern und sich das BFA mit dem Vorbringen beweiswürdigend auseinandersetzte.

26       Soweit die Revision geltend macht, das BVwG habe eine eigene Beweiswürdigung vorgenommen, indem es hinsichtlich des vorgebrachten exilpolitischen Engagements des Revisionswerbers auf eine innerstaatliche Fluchtalternative verwiesen habe, ist darauf hinzuweisen, dass bereits das BFA solche Überlegungen angestellt hat und dieser bereits vom BFA herangezogenen Alternativbegründung in der Beschwerde nicht substantiiert entgegengetreten wurde.

27       Hinsichtlich der Nichtgewährung subsidiären Schutzes moniert die Revision, das BVwG habe das Konzept der innerstaatlichen Fluchtalternative „nur implicite“ angewendet, ohne explizit geprüft zu haben, ob die rechtlichen Voraussetzungen im Sinne des § 11 AsylG 2005 erfüllt seien. Diesem Vorbringen ist zu entgegnen, dass das BVwG primär schon eine Verletzung der Rechte des Revisionswerbers nach Art. 3 EMRK im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation verneint hat. Auf die lediglich in einer Alternativbegründung angestellten Überlegungen, dass unter Zugrundelegung der Länderinformationen auch vom Bestehen einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative außerhalb des Föderationskreises Nordkaukasus auszugehen sei, kommt es damit nicht an (vgl. VwGH 1.10.2020, Ra 2020/19/0181, mwN).

28       Im Übrigen legt die Revision mit ihrem Hinweis auf die festgestellten sozioökonomischen Gegebenheiten in der Russischen Föderation, wie etwa die hohe Arbeitslosigkeit oder das fehlende soziale Netzwerk außerhalb Tschetscheniens, nicht dar, dass bei einer Rückkehr des Revisionswerbers in seinen Herkunftsstaat solche exzeptionellen Umstände vorlägen, die eine Verletzung der nach Art. 3 EMRK garantierten Rechte des Revisionswerbers darstellten (vgl. VwGH 3.12.2020, Ra 2020/19/0108, mwN).

29       Fallbezogen ist auch nicht ersichtlich, dass der Revisionswerber in seiner Beschwerde Behauptungen aufgestellt hätte, die die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erforderlich gemacht hätten, indem er etwa den Feststellungen des BFA, insbesondere hinsichtlich der in der Russischen Föderation vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen, substantiiert entgegengetreten wäre.

30       Wenn die Revision weiters die vom BVwG im Sinn des Art. 8 EMRK vorgenommene Interessenabwägung und die Erlassung eines Einreiseverbotes beanstandet, ist zunächst festzuhalten, dass die bei der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommene Interessenabwägung im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel ist. Das hat sinngemäß auch für die einzelfallbezogene Erstellung einer Gefährdungsprognose bzw. für die Bemessung der Dauer eines Einreiseverbots Geltung (vgl. erneut VwGH 17.12.2020, Ra 2020/18/0279, mwN).

31       Die Revision rügt weiters das Unterbleiben der mündlichen Verhandlung im Hinblick auf die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks zur Intensität des Privat- und Familienlebens des Revisionswerbers. Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt darauf hingewiesen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen in eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, auch eine beantragte Verhandlung unterbleiben kann (vgl. VwGH 31.7.2020, Ra 2020/19/0252, mwN).

32       Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Judikatur eine Trennung von Familienangehörigen, mit denen ein gemeinsames Familienleben im Herkunftsland nicht zumutbar ist, jedenfalls dann für gerechtfertigt erachtet, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme insgesamt ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, wie dies insbesondere bei Straffälligkeit des Fremden oder bei einer von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regeln über den Familiennachzug der Fall ist. Insbesondere schwerwiegende kriminelle Handlungen, aus denen sich eine vom Fremden ausgehende Gefährdung ergibt, können die Erlassung einer Rückkehrentscheidung daher auch dann tragen, wenn diese zu einer Trennung von Familienangehörigen führt (vgl. VwGH 18.11.2020, Ra 2020/14/0113, mwN).

33       Soweit die Revision vorbringt, das BVwG habe bei der Erstellung der Gefährdungsprognose lediglich die einzelnen Verurteilungen aufgelistet, ohne diesbezüglich eine Einzelfallprüfung durch Bedachtnahme auf das den Verurteilungen zugrunde liegende Verhalten vorzunehmen, ist darauf hinzuweisen, dass dem Erkenntnis des BVwG nicht nur die Umschreibung der den Verurteilungen zugrunde liegenden Delikte und die Anführung der von den Strafgerichten jeweils angenommenen Milderungs- und Erschwerungsgründe, sondern auch die vor allem maßgebliche Beschreibung der jeweiligen Tathandlungen zu entnehmen ist (vgl. VwGH 27.8.2020, Ra 2020/21/0172). Zudem setzte sich das BVwG, wie bereits zuvor das BFA, mit dem Gesamtverhalten des Revisionswerbers und dem sich daraus ergebenden Persönlichkeitsbild auseinander (vgl. VwGH 20.11.2020, Ra 2020/19/0032, mwN).

34       Bereits das BFA berücksichtigte die zugunsten des Revisionswerbers sprechenden Umstände, wie etwa seine lange Aufenthaltsdauer, seine Deutschkenntnisse, seine - wenngleich äußerst kurzen - Beschäftigungszeiten sowie sein in Österreich bestehendes Familienleben und traf Feststellungen zu den in Österreich lebenden Kindern des Revisionswerbers. Vor dem Hintergrund der vom BFA ins Treffen geführten und vom BVwG seiner Entscheidung ebenfalls zugrunde gelegten Umstände, nämlich der vom Revisionswerber - teils während offener Probezeiten - begangenen Straftaten, denen Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit und auf das Vermögen zugrunde lagen, der hohen Anzahl an verwaltungsstrafrechtlichen Verstößen, des gewalttätigen Verhaltens des Revisionswerbers gegenüber seiner Ehefrau, des daraufhin gegen ihn ausgesprochenen Betretungsverbotes sowie des diesen Handlungen zugrunde liegenden Persönlichkeitsbildes des Revisionswerbers, seines fehlenden gemeinsamen Wohnsitzes mit seiner Familie und seiner nur schwach ausgeprägten Integration, vermag die Revision nicht darzulegen, dass die Rückkehrentscheidung oder die vorgenommene Gefährdungsprognose trotz der familiären Anknüpfungspunkte des Revisionswerbers unvertretbar erfolgt wären und die Einschätzung des BVwG, es lägen fallbezogen die Voraussetzungen für den Entfall einer mündlichen Verhandlung nach § 21 Abs. 7 BFA-VG vor, von den diesbezüglich in der oben genannten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aufgestellten Kriterien abweichen würde.

35       In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 10. Februar 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020180205.L00

Im RIS seit

07.04.2021

Zuletzt aktualisiert am

07.04.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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