Index
E3R E19101000Norm
B-VG Art133 Abs4Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und die Hofräte Dr. Kleiser und Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Mag. H A in B, vertreten durch Dr. Hermann Rieder, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Stiftgasse 23, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom 16. Juli 2019, Zl. LVwG-M-4/001-2019, betreffend Maßnahmenbeschwerde in einer Angelegenheit nach § 35 Abs. 1 SPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Amstetten), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich (Verwaltungsgericht) die Maßnahmenbeschwerde des Revisionswerbers in Bezug auf die Durchführung einer auf § 35 Abs. 1 Z 6 Sicherheitspolizeigesetz (SPG) gestützten Identitätsfeststellung durch Polizeibeamte am 30. November 2018 im Railjet zwischen St. Valentin und St. Pölten und die in deren Zuge vorgenommene Durchsuchung des Gepäcks und der Oberbekleidung des Revisionswerbers sowie der Androhung, den Revisionswerber in St. Pölten zwangsweise aus dem Zug zu bringen, ab und verpflichtete den Revisionswerber zum Kostenersatz. Ein Ausspruch gemäß § 25a VwGG über die Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG unterblieb.
2 Begründend führte das Verwaltungsgericht zusammengefasst aus, der Revisionswerber sei am 30. November 2018 im Railjet 549 auf der Westbahnstrecke von Neumarkt-Köstendorf nach Wien gereist. Währenddessen sei der Revisionswerber von zwei Polizeibeamten einer Identitätsfeststellung im Rahmen von Ausgleichsmaßnahmen (AGM) des Schengener Grenzkodex mit dem Auftrag sicherheitspolizeiliche, kriminalpolizeiliche und fremdenpolizeiliche Kontrollen durchzuführen, unterzogen worden. Trotz Hinweis auf seine Mitwirkungspflicht habe sich der Revisionswerber geweigert, sich auszuweisen. Nach vorheriger Androhung hätten die Polizeibeamten die Jacke und das Gepäck des Revisionswerbers erfolglos nach Ausweisen durchsucht. Daraufhin hätten die Polizeibeamten mit der Festnahme und dem „Abtransport in St. Pölten“ gedroht. Letztlich habe der Revisionswerber dem Zugbegleiter seine Fahrkarte übergeben, der sie an die Polizeibeamten weitergegeben habe. Durch den Namen auf der Fahrkarte habe die Identität des Revisionswerbers festgestellt werden können.
Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats seien nach Art. 21 Buchst. a der Verordnung (EG) 562/2006 entsprechend näher dargelegter Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) nur dann untersagt, wenn sie die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hätten. Dies sei vorliegend nicht der Fall.
Dass der Revisionswerber nicht aus dem Ausland gekommen sei und an diesem Tag keinen Grenzübertritt getätigt habe, sei für die Zulässigkeit der Identitätsfeststellung gemäß § 35 Abs. 1 Z 6 SPG nicht ausschlaggebend. Der vom Revisionswerber benutzte Zug, der zwischen Salzburg und Wien verkehre, sei dem internationalen Durchzugsverkehr zuzurechnen, zumal Zugsverbindungen von Salzburg oftmals als Anschlusszüge für Züge von der Staatsgrenze dienten. Viele illegal einreisende Personen würden auf einen Inlandszug umsteigen. Auch der Umstand, dass der Revisionswerber nur leichtes Gepäck mit sich geführt habe, sei kein Ausschlussgrund für eine „AGM-Kontrolle“. Es lägen somit die Voraussetzungen für eine Identitätsfeststellung nach § 35 Abs. 1 Z 6 SPG in Bezug auf die stichprobenartige Kontrolle sowohl generell der Passagiere im gegenständlichen Zug, als auch insbesondere des Revisionswerbers, vor.
Da der Revisionswerber trotz Hinweis auf seine Mitwirkungspflicht nach § 35 Abs. 3 SPG dieser nicht nachgekommen sei, sei den Polizeibeamten keine andere Möglichkeit geblieben, als Zwangsmaßnahmen anzudrohen und diese teilweise umzusetzen. Dabei seien sie möglichst schonend vorgegangen. Eine Überschreitung ihrer Befugnisse könne nicht festgestellt werden.
3 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Dieser lehnte mit Beschluss vom 23. September 2019, E 3272/2019-5, die Behandlung der Beschwerde ab und trat sie gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG an den Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.
4 Begründend führte der Verfassungsgerichtshof unter anderem aus, spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen seien zur Beurteilung insbesondere der Fragen, ob vom Landesverwaltungsgericht Niederösterreich die Beschwerde gegen die Identitätsfeststellung und gegen die zur Durchsetzung gesetzten Maßnahmen zu Recht abgewiesen wurde sowie ob innerstaatliche einfachgesetzliche Normen oder unionsrechtliche Normen anzuwenden waren, nicht anzustellen.
5 Sodann erhob der Revisionswerber die vorliegende Revision.
6 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
7 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
8 Im Hinblick auf das Fehlen eines Ausspruchs gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist die Revision als ordentliche Revision zu werten (vgl. VwGH 23.10.2014, Ro 2014/11/0067, mwN). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat ein Revisionswerber auch bei Erhebung einer ordentlichen Revision von sich aus die Zulässigkeit der Revision gesondert darzulegen, sofern er der Ansicht ist, dass die Begründung des Verwaltungsgerichtes für die Zulässigkeit der Revision nicht ausreicht, oder er andere Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung für relevant erachtet (vgl. VwGH 27.2.2018, Ro 2018/05/0006, Rn. 5, mwN).
9 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst vor, die Anwendbarkeit des „§ 35 Abs. 1 Z 6 und/oder Z 7 [SPG]“ sei nicht nachvollziehbar. Der Revisionswerber habe keinen der beiden Tatbestände erfüllt. Es sei „‚nach den Umständen‘ eines vorhandenen gültigen Fahrausweises davon auszugehen gewesen, dass der BF am 30.11.2018 im Bahnhof Neumarkt-Köstendorf in den RJ 549“ eingestiegen sei, „um von dort nach Wien zu fahren und [sei] kein einziger Anhaltspunkt für eine berechtigte Identitätsfeststellung nach § 35 SPG [weder] im Allgemeinen und noch weniger nach § 35 Abs. 1 Z 6 im Besonderen“ vorgelegen. Bereits die mündliche Mitteilung des Revisionswerbers, keine Grenze überschritten zu haben und lediglich von Neumarkt nach Wien zu fahren, sei der Rechtmäßigkeit der gegenständlichen Amtshandlung entgegengestanden. Dass er nicht im Zuge einer andauernden Reisebewegung eine Binnengrenze überschritten habe, wäre auch aus seinem gültigen Fahrausweis zu entnehmen gewesen. „Im Sinne der gebotenen Verhältnismäßigkeit der anzuwendenden (Zwangs)Mittel hätten die einschreitenden Polizeibeamten von sich aus diesen Umstand beachten müssen, bevor sie neben anderen Fahrgästen in aller Öffentlichkeit Durchsuchungen von Gepäck- und Kleidungsstücken durchführen und eine Festnahme androhen, sofern der BF sich nicht ausweisen könne.“ Eine allgemeine Ausweispflicht sei gesetzlich nicht vorgesehen. Auch Umstände, welche für grenzüberschreitend begangene gerichtlich strafbare Handlungen typisch seien, seien nicht vorgelegen. Das Beschwerdeverfahren habe somit ergeben, dass eine die sicherheitspolizeiliche Maßnahme tragende Befugnis nicht vorgelegen sei. „Eine Rechtsprechung des VwGH dazu, dass derartige Maßnahmen im konkreten Geschehen rechtmäßig und durch § 35 Abs. 1 Z 6 gedeckt wären“, existiere nicht.
Mit diesem Vorbringen richtet sich die Revision gegen das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Identitätsfeststellung gemäß § 35 Abs. 1 Z 6 und 7 SPG.
Im Übrigen machte die Revision zu ihrer Zulässigkeit geltend, das Verwaltungsgericht habe sich zu Unrecht auf die Verordnung (EG) Nr. 562/2006 gestützt, die auf den vorliegenden Sachverhalt nicht mehr anwendbar gewesen sei, und sei die Auslegung von Unionsrecht der Kompetenz des Verwaltungsgerichts entzogen.
10 Gemäß § 35 Abs. 1 Z 6 und 7 SPG sind die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zur Feststellung der Identität eines Menschen ermächtigt, wenn nach den Umständen anzunehmen ist, der Betroffene habe im Zuge einer noch andauernden Reisebewegung die Binnengrenze überschritten oder werde sie überschreiten (Z 6), oder wenn der Betroffene entlang eines vom internationalen Durchzugsverkehr benützten Verkehrsweges unter Umständen angetroffen wird, die für grenzüberschreitend begangene gerichtlich strafbare Handlungen typisch sind (Z 7). Die Feststellung der Identität ist das Erfassen der Namen, des Geburtsdatums und der Wohnanschrift eines Menschen in dessen Anwesenheit. Sie hat mit der vom Anlass gebotenen Verlässlichkeit zu erfolgen (Abs. 2). Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes haben Menschen, deren Identität festgestellt werden soll, hievon in Kenntnis zu setzen. Jeder Betroffene ist verpflichtet, an der Feststellung seiner Identität mitzuwirken und die unmittelbare Durchsetzung der Identitätsfeststellung zu dulden (Abs. 3).
11 Die hier wesentlichen Bestimmungen (Art. 22 und Art. 23) der (insoweit nicht geänderten) kodifizierten Fassung der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), ABl. L 77 vom 23. März 2016, S. 1-52, entsprechen inhaltsgleich jenen (Art. 20 und Art. 21) der Vorgängerverordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 (ausdrücklich klargestellt in der Entsprechungstabelle in Anhang X der Verordnung (EU) 2016/399). Entgegen dem Revisionsvorbringen, das Verwaltungsgericht habe sich unrichtigerweise auf die - vorliegend nicht mehr anzuwendende - Verordnung (EG) Nr. 562/2006 gestützt, ist die zu Art. 21 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 ergangene Rechtsprechung des EuGH weiterhin maßgeblich.
12 Nach der die Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 19. Juli 2012, C-278/12, PPU Adil; sowie vom 22. Juni 2010, C-188, 189/10, Melki und Abdeli) berücksichtigenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu einem ähnlich gelagerten Fall einer Maßnahmenbeschwerde gegen eine auf § 35 Abs. 1 Z 6 SPG gestützte Identitätsfeststellung eines Fahrgasts eines oftmals als Anschlusszug für Züge von der Staatsgrenze dienenden Reisezuges sind Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebietes eines Mitgliedstaats nach Art. 21 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 (nunmehr Art. 23 Buchst. a der Verordnung (EU) 2016/399) nur dann untersagt, wenn sie die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben. Die Regelung des § 35 Abs. 1 Z 6 SPG ist vor dem Hintergrund der Anforderungen des Unionsrechts und der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 20 und Art. 21 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 (nunmehr Art. 22 und Art. 23 der Verordnung (EU) 2016/399 - Schengener Grenzkodex) dahin auszulegen, dass keine systemisch, die Identität jeder Person erfassende Kontrolle durchgeführt werden darf, jedoch Kontrollen um zu überprüfen, ob die zur Kontrolle angehaltenen Personen die in diesen Mitgliedstaat geltenden Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt erfüllen, wenn diese Kontrollen auf allgemeinen Informationen und Erfahrungen im Zusammenhang mit dem illegalen Aufenthalt von Personen an den Orten der Kontrollen beruhen, wenn sie in begrenztem Umfang auch zu dem Zweck durchgeführt werden, solche allgemeinen Informationen und Daten über die Erfahrung in diesem Bereich zu erlangen, und wenn ihre Durchführung bestimmten Beschränkungen insbesondere hinsichtlich ihrer Intensität und Häufigkeit unterliegt. Insoweit greift der Hinweis im Zulässigkeitsvorbringen, es bestehe in Österreich keine allgemeine Ausweispflicht, zu kurz (vgl. zu alldem VwGH 25.2.2014, 2012/01/0149).
13 Mit dieser Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes steht die jüngere Rechtsprechung des EuGH zu den Art. 22 und 23 der Verordnung (EU) 2016/399 im Einklang. So führt der EuGH in seinem Beschluss vom 4. Juni 2020, C-554/19, FU, ECLI:EU:C:2020:439, unter anderem aus:
„33 Nach Art. 22 des Schengener Grenzkodex dürfen die Binnengrenzen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden. Nach Art. 2 Nr. 11 des Kodex bezeichnet der Ausdruck „Grenzübertrittskontrollen“ die Kontrollen, die an den Grenzübergangsstellen erfolgen, um festzustellen, ob die betreffenden Personen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreisen oder aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausreisen dürfen (vgl. entsprechend Urteile vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C-188/10 und C-189/10, EU:C:2010:363, Rn. 67, vom 19. Juli 2012, Adil, C-278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 51, und vom 21. Juni 2017, A, C-9/16, EU:C:2017:483, Rn. 32).
34 Art. 72 AEUV bestimmt allerdings, dass Titel V des AEU-Vertrags nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit berührt (Urteile vom 19. Juli 2012, Adil, C-278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 52, und vom 21. Juni 2017, A, C-9/16, EU:C:2017:483, Rn. 33).
35 Insoweit sieht Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex vor, dass das Ausbleiben der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nicht die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts berührt, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat; dies gilt auch in Grenzgebieten (vgl. entsprechend Urteile vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C-188/10 und C-189/10, EU:C:2010:363, Rn. 69, vom 19. Juli 2012, Adil, C-278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 53, und vom 21. Juni 2017, A, C-9/16, EU:C:2017:483, Rn. 34).
36 Nach Satz 2 Ziff. i bis iv dieser Bestimmung darf die Ausübung der polizeilichen Befugnisse insbesondere nicht der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen gleichgestellt werden, wenn die polizeilichen Maßnahmen keine Grenzkontrollen zum Ziel haben, auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen, in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen der Union unterscheidet, und auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden (Urteile vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C-188/10 und C-189/10, EU:C:2010:363, Rn. 70, vom 19. Juli 2012, Adil, C-278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 54, und vom 21. Juni 2017, A, C-9/16, EU:C:2017:483, Rn. 35).
37 Im Übrigen berührt das Ausbleiben der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nach Art. 23 Buchst. c des Schengener Grenzkodex nicht die einem Mitgliedstaat eingeräumte Möglichkeit, in seinem nationalen Recht eine Verpflichtung zum Besitz oder Mitführen von Urkunden und Bescheinigungen vorzusehen (vgl. entsprechend Urteile vom 19. Juli 2012, Adil, C-278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 63, und vom 21. Juni 2017, A, C-9/16, EU:C:2017:483, Rn. 36).
38 Unter diesen Bedingungen ist die Einhaltung des Unionsrechts, insbesondere der Art. 22 und 23 des Schengener Grenzkodex, durch die Schaffung und Wahrung eines Rechtsrahmens zu sichern, der gewährleistet, dass die praktische Ausübung der Befugnis zur Durchführung von Identitätskontrollen nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann (vgl. entsprechend Urteile vom 19. Juli 2012, Adil, C-278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 68, und vom 21. Juni 2017, A, C-9/16, EU:C:2017:483, Rn. 37).
39 So hat der Gerichtshof entschieden, dass eine nationale Regelung, die den Polizeibehörden eine Befugnis zur Durchführung von Identitätskontrollen einräumt, die zum einen auf das Gebiet an der Grenze des Mitgliedstaats zu anderen Mitgliedstaaten beschränkt und zum anderen unabhängig vom Verhalten der kontrollierten Person und vom Vorliegen besonderer Umstände ist, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ergibt, das Ermessen lenken muss, über das diese Behörden bei der praktischen Handhabung der besagten Befugnis verfügen (vgl. entsprechend Urteile vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C-188/10 und C-189/10, EU:C:2010:363, Rn. 74, und vom 21. Juni 2017, A, C-9/16, EU:C:2017:483, Rn. 39).“
14 Dass vorliegend die Identitätsfeststellung den dargelegten unionsrechtlichen Grundsätzen widersprach, zeigt die Revision in ihrem Zulässigkeitsvorbringen nicht auf. Es bestehen in der vorliegenden Rechtssache auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der vom EuGH geforderte Rechtsrahmen (vgl. EuGH 4.6.2020, C-554/19, FU, Rn. 38 - 40) nicht gegeben wäre.
15 Wie oben dargelegt, besteht entgegen dem Zulässigkeitsvorbringen sehr wohl Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Identitätsfeststellung gemäß § 35 Abs. 1 Z 6 SPG zu einem ähnlich gelagerten Fall und zwar eines Fahrgasts eines Anschlusszuges für Züge von der Staatsgrenze (VwGH 25.2.2014, 2012/01/0149). Ein Abweichen des angefochtenen Erkenntnisses von dieser Rechtsprechung legt die Revision nicht dar.
16 Voraussetzung für eine Identitätsfeststellung gemäß § 35 Abs. 1 Z 6 SPG ist die Annahme, dass die zu identifizierende Person „im Zuge einer noch andauernden Reisebewegung die Binnengrenze überschritten“ hat oder sie überschreiten werde. Die Annahme, dass eine Überschreitung der Binnengrenze erfolgt ist oder noch erfolgen wird, ist aus den Umständen des Antreffens der Person abzuleiten (vgl. Pürstl/Zirnsack, SPG2 (2011), Anm. 26 zu § 35).Der Begriff „Umstände“ in § 35 Abs. 1 Z 6 SPG zielt auf eine Beurteilung der jeweils vorliegenden konkreten Situation ab (vgl. RV 1479 20. GP, 16, zur Sicherheitspolizeigesetz-Novelle 1999). Solche Umstände sind unter anderem typische Reiserouten (vgl. VwGH 25.2.2014, 2012/01/0149; idZ auch Hauer/Keplinger, SPG4, Anm. 13 zu § 35). Ob solche Umstände vorliegen, ist auf Grund einer ex-ante Betrachtung nach den jeweiligen Gegebenheiten des Einzelfalls zu beurteilen (vgl. VwGH 16.9.1999, 99/01/0182, zum Vorliegen „bestimmter Tatsachen“ iSd § 35 Abs. 1 Z 1 SPG; sowie zur ex ante-Betrachtung aus dem Blickwinkel der einschreitenden Exekutivbeamten VwGH 5.12.2017, Ra 2017/01/0373, mwN). Dass ein Betroffener einen Inlandszug benützt, steht der Annahme, er habe die Binnengrenze im Zuge einer noch andauernden Reisebewegung überschritten, nicht entgegen, sofern es sich typischerweise um einen als Anschlusszug für Züge von der Staatsgrenze handelt, und der Zug daher dem internationalen Durchzugsverkehr zuzurechnen ist (vgl. wiederum VwGH 25.2.2014, 2012/01/0149).
17 Nach Maßgabe dieser Grundsätze der Rechtsprechung begegnet vorliegend die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Revisionswerber habe als Fahrgast eines Zuges von Salzburg nach Wien, der typischerweise als Anschlusszug für Züge aus dem Nachbarland dient, im Zuge einer noch andauernden Reisebewegung die Binnengrenze überschritten, keine Bedenken.
18 Die mündliche Mitteilung des Revisionswerbers gegenüber den einschreitenden Polizeibeamten, er habe keine Grenze überschritten und fahre lediglich von Neumarkt nach Wien, steht dem ebenso wenig zwingend entgegen wie das - vorliegend erst nach erfolgloser Durchsuchung des Gepäcks und der Oberbekleidung des Revisionswerbers sowie nach Androhung der Festnahme erfolgte - Vorweisen eines gültigen Fahrausweises mit daraus ersichtlichem Fahrtantritt nicht vom Startbahnhof weg.
19 Eine unvertretbare Einzelfallbeurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen der Identitätsfeststellung nach § 35 Abs. 1 Z 6 SPG durch das Verwaltungsgericht legte die Revision in ihrem Zulässigkeitsvorbringen somit nicht dar.
20 Sofern sich die Revision in ihrem Zulässigkeitsvorbringen gegen die Verhältnismäßigkeit der bekämpften sicherheitspolizeilichen Maßnahmen richtet, handelt es sich dabei ebenfalls um eine Beurteilung im Einzelfall. Der Frage, ob die besonderen Umstände des Einzelfalles auch eine andere Entscheidung gerechtfertigt hätten, kommt in der Regel keine grundsätzliche Bedeutung zu. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung läge nur dann vor, wenn diese Beurteilung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Weise vorgenommen worden wäre (vgl. zu einer einzelfallbezogenen Beurteilung in Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes VwGH 6.7.2016, Ra 2016/01/0008, Rn. 19, mwN). Dass Letzteres der Fall wäre, wird in den alleine maßgeblichen Zulässigkeitsausführungen der vorliegenden Revision nicht dargetan.
21 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 11. Jänner 2021
Gerichtsentscheidung
EuGH 62010CJ0188 Melki und Abdeli VORABEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RO2019010015.J00Im RIS seit
01.03.2021Zuletzt aktualisiert am
01.03.2021