Entscheidungsdatum
28.10.2020Norm
AsylG 2005 §54Spruch
W212 2203932-1/30E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Eva SINGER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA Ukraine, vertreten durch XXXX ., Rechtsanwältin in XXXX , gegen die Spruchpunkte II. bis VI. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.07.2018, Zl. 1179853108/180088999, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.10.2020 zu Recht erkannt:
A) I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 idgF als unbegründet abgewiesen.
II. Im übrigen Umfang wird der Beschwerde stattgegeben und ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG idgF iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG idgF auf Dauer unzulässig ist. Gemäß §§ 54 und 55 AsylG 2005 idgF wird XXXX der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung “ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1.1. Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Ukraine, stellte am 25.01.2018 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
In ihrer Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 25.01.2018 gab die Beschwerdeführerin zu Protokoll, dass sie per Flugzeug nach Österreich eingereist sei. In Österreich würden ihre Tochter, ihr Schwiegersohn und vier Enkelkinder leben.
Zu ihren Fluchtgründen gab sie an, dass sie aus dem Oblast Donezk stamme, wo seit vier Jahren Krieg herrsche. Vor einer Woche habe sie nicht mehr in ihre Wohnung zurückkehren können, da von bewaffneten Unbekannten ihr Türschloss ausgetauscht worden sei. Ihr sei geraten worden, das Land zu verlassen, statt um die Wohnung zu kämpfen. Sie habe für ein staatliches Unternehmen gearbeitet und deshalb große Schwierigkeiten gehabt, das Land verlassen zu können. Sie habe niemanden mehr in der Ukraine, ihre Tochter lebe in Österreich.
1.2. Am 13.02.2018 wurde die Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen, wo sie angab, seit fünf Jahren an Brustkrebs zu leiden. Sie sei in der Ukraine operiert worden und habe Medikamente aus der Ukraine mit. Sie sei seit eineinhalb Jahren verwitwet, in Österreich lebe ihre Tochter. Ihre Tochter habe 2005 geheiratet und sei ausgezogen. In der Ukraine habe sie keine Familienangehörigen mehr. Sie sei Ingenieurin und Leiterin einer Abteilung in einer staatlichen Organisation, die sich mit Fernwärme beschäftige, gewesen. Sie habe gut verdient.
Ihre Wohnung sei am 16.01.2018 von irgendwelchen Leuten besetzt worden. Als sie von der Arbeit zurückgekommen sei, seien die Schlösser ausgetauscht gewesen. Ihr sei gesagt worden, sie solle verschwinden. Sie sei nicht zur Polizei gegangen, weil sie wisse, wie Menschen dann gleich verschwinden würden. Wer ihre Wohnung besetzt habe, wisse sie nicht, sie seien wie Soldaten angezogen und bewaffnet gewesen. Sie hätten ihr gesagt, dass sie sie verschwinden lassen würden, wenn sie zur Polizei gehe. Sie habe Angst, dass diese Personen sie auch in einer anderen Stadt finden würden. Grund für ihre Ausreise sei, dass sie zu Hause keine Bleibe mehr habe, ihr gedroht worden sei und ihre Tochter in Österreich lebe.
Die Beschwerdeführerin legte folgende Unterlagen vor:
- Invaliditätsausweis
- Sterbeurkunde des Ehemannes
- Diplom
- Geburtsurkunde
- Heiratsurkunde
- Arztbriefe in ukrainischer Sprache
- Diverse medizinische Unterlagen aus Österreich
1.3. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag auf internationalen Schutz der Beschwerdeführerin bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. wurde der Antrag der Beschwerdeführerin bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Ukraine gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen. Ferner wurden der Beschwerdeführerin ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57, 55 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung in die Ukraine gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage (Spruchpunkt IV.).
Begründend wurde ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin keine asylrelevante Verfolgung geschildert habe. Die Behandlung von Erkrankungen sei in der Ukraine gewährleistet. Rechtlich wurde zu Spruchpunkt I. insbesondere ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin somit nicht in der Lage gewesen sei, eine Bedrohungssituation iSd Genfer Flüchtlingskonvention glaubhaft zu machen. Die Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes wurde im Wesentlichen damit begründet, dass in der Ukraine kein reales Risiko einer derart extremen Gefahrenlage vorliege, welches einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen würde und somit einer Rückführung der Beschwerdeführerin in ihr Heimatland entgegenstehen würde. Schließlich verfügten die Familienmitglieder der Beschwerdeführerin ebenfalls über kein dauerndes Aufenthaltsrecht und habe eine außerordentliche Integration und damit das Vorliegen eines schützenswerten Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK nicht festgestellt werden können.
1.4. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin mit Schriftsatz vom 17.08.2018 fristgerecht Beschwerde, worin der belangten Behörde zunächst ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren, mangelhafte Länderberichte und eine mangelhafte Beweiswürdigung vorgeworfen wurden. Der Beschwerdeführerin sei ihre Wohnung aufgrund ihrer zumindest unterstellten regierungskritischen Einstellung abgenommen worden, weshalb ein Asylgrund im Sinne der GFK vorliege. Die Beschwerdeführerin sei in der Ukraine offiziell bereits in Pension und könne keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen. Die Behörde habe es unterlassen, sich mit der Krebserkrankung der Beschwerdeführerin auseinanderzusetzen. Sie sei in Österreich erneut wegen Lungenkrebs operiert worden und auf die Unterstützung ihrer Familie angewiesen. Sie verfüge in der Ukraine nicht mehr über eine Wohnmöglichkeit. Abschließend wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
1.5. Mit Schreiben vom 19.02.2019 wurde ein Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 31.01.2019 betreffend die Tochter der Beschwerdeführerin und deren Familie übermittelt.
1.6. Mit Schreiben vom 01.03.2019 wurde der Beschwerdeführerin seitens des Bundesverwaltungsgerichts Gelegenheit gegeben, zu ihrem aktuellen Gesundheitszustand Stellung zu nehmen und ärztliche Befunde vorzulegen.
1.7. Mit Schreiben vom 21.03.2019 wurde vorgebracht, dass die Beschwerdeführerin vor einigen Jahren an Brustkrebs gelitten habe. Sie sei in der Ukraine operiert und mit Chemotherapie behandelt worden. Seit dem Eingriff sei die Beweglichkeit des rechten Arms eingeschränkt. 2018 sei Lungenkrebs diagnostiziert worden. Im April 2018 sei ein Teil der Lunge operativ entfernt worden. Derzeit nehme die Beschwerdeführerin Letrozol und Zoledronsäure.
Der Stellungnahme lagen ein Konvolut ärztlicher Befunde, eine Bestätigung über die Teilnahme an einem Deutschkurs A1 und eine Teilnahmebestätigung an einem Werte- und Orientierungskurs bei.
1.8. Am 25.04.2019 wurde ein Zertifikat über den Abschluss des Deutschkurses A1 nachgereicht.
1.9. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.07.2019 wurde die Beschwerde gemäß den §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3 und 57 AsylG 2005, § 9 BFA-VG, §§ 46, 52 und 55 FPG als unbegründet abgewiesen und ausgesprochen, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
1.10. Die Beschwerdeführerin erhob gegen diese Entscheidung Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der die Behandlung der Beschwerde mit Beschluss vom 25.02.2020, E 3023/2019-11, ablehnte und diese dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
1.11. Mit Entscheidung vom 03.08.2020, Ra 2020/20/0119-7, hat der Verwaltungsgerichtshof die Revision, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten wendete, zurückgewiesen und das angefochtene Erkenntnis in seinem übrigen Umfang wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründend wurde ausgeführt, das Bundesverwaltungsgericht habe zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen. Das Bundesverwaltungsgericht habe sich mit dem von der Beschwerdeführerin im Beschwerdeverfahren erstatteten Vorbringen zu ihrem Gesundheitszustand und ihrem Familienleben sowie den neu vorgelegten Beweismitteln auseinandergesetzt und gegenüber den im Bescheid des BFA enthaltenen Ausführungen ausführlichere Feststellungen zu der Krebserkrankung der Beschwerdeführerin und deren Auswirkungen getroffen. Ebenso habe das Bundesverwaltungsgericht die vom BFA getroffenen Feststellungen zum Familienleben der Beschwerdeführerin ergänzt, aufgrund derer es (erstmals) ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Beschwerdeführerin und ihrer Tochter, welche mittlerweile über einen Aufenthaltstitel verfüge, mit näherer Begründung verneinte. Das Bundesverwaltungsgericht habe somit in Bezug auf die Gewährung subsidiären Schutzes und der weiteren, rechtlich darauf aufbauenden, Spruchpunkte nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG ausgehen dürfen. Die Missachtung der Verhandlungspflicht führe im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste.
1.12. Am 01.10.2020 fand im fortgesetzten Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung statt, an welcher die Beschwerdeführerin, ihre bevollmächtigte Vertreterin, eine Dolmetscherin für die russische Sprache sowie die Tochter der Beschwerdeführerin als Zeugin teilgenommen haben.
Die Beschwerdeführerin brachte im Wesentlichen vor, auf Unterstützung ihrer Tochter angewiesen zu sein und panische Angst davor zu haben, alleine leben zu müssen. Sie könne nicht mehr in ihr früheres Haus in der Ukraine zurückkehren, da die Schlösser von Soldaten gewechselt worden seien. Auf die Frage, was gegen eine Registrierung als Binnenflüchtling und Niederlassung in einem anderen Teil der Ukraine, etwa in Kiev, sprechen würde, gab die Beschwerdeführerin an, ihr würden die dafür nötigen finanziellen Mittel fehlen. Angesprochen auf die Möglichkeit einer staatlichen Unterstützung für Binnenflüchtlinge, erklärte die Beschwerdeführerin, ihre Pension von 3.400,- Hywinja – dies sei der Betrag, den ihre ehemaligen Kollegen derzeit erhielten – reiche nicht aus, um eine kleine Wohnung zu mieten; darüber hinaus würde sie viel Geld für Medikamente benötigen. Eine finanzielle Unterstützung durch ihre Tochter und ihren Schwiegersohn von Österreich aus sei nicht möglich; ihre Tochter und ihr Schwiegersohn würden arbeiten. Diese hätten jedoch vier Kinder, von denen eines krank bzw. behindert sei. Sie müssten ihr gesamtes Einkommen für die Miete und die vier Kinder ausgeben und es wäre ihnen nicht möglich, die Beschwerdeführerin zusätzlich zu unterstützen. Die Beschwerdeführerin lebe gemeinsam mit der Familie ihrer Tochter und es sei geplant, dass sie im November in eine größere Mietwohnung umziehen würden. Die Beschwerdeführerin habe keine Verwandten mehr in der Ukraine. Ebensowenig habe sie dort Freunde oder Bekannte. Über Vorhalt, dass die finanzielle Lage der Beschwerdeführerin, in der Zeit, in der sie in der Ukraine gearbeitet hätte, ihren eigenen Angaben zufolge gut gewesen sei und befragt, welche Ersparnisse sie aus dieser Zeit noch hätte, antwortete die Beschwerdeführerin, sie habe in den letzten Jahren alle Ersparnisse aufgebraucht.
Angesprochen auf ihre aktenkundige Brustkrebserkrankung mit Metastasen in der Lunge und befragt nach der aktuellen Diagnose und derzeit benötigten Behandlung führte die Beschwerdeführerin aus, ein Teil der Lunge sei ihr infolge der durch den Brustkrebs entstandenen Lungenmetastase entfernt worden. Sie stünde in ärztlicher Behandlung und suche ihren Arzt regelmäßig etwa alle drei Monate auf. In Folge der Entfernung von Lymphknoten habe sie Probleme mit ihrer rechten Hand und sie sei gezwungen, tagsüber eine Art von Kompressions-Handschuh zu tragen. Aus diesem Grund sei sie auch in der Reha gewesen. Sie müsse regelmäßig zu Blutuntersuchungen, Computertomographien mit Kontrastmitteln sowie zweimal jährlich zur Mammographie. In der linken Brust sei eine Auffälligkeit festgestellt worden, welche einer regelmäßigen Kontrolle bedürfe. An Medikamenten nehme die Beschwerdeführerin regelmäßig Letrozol (1 Tablette am Tag) ein, darüber hinaus nehme sie Vitamin D-Präparate und zweimal jährlich Zometa ein; aufgrund der Einnahme des letztgenannten Medikaments sei eine regemäßige Knochendichtemessung erforderlich. Einmal in der Woche erhalte sie eine Massage für ihre rechte Hand. Diese sei manchmal so geschwollen, dass sie sie nicht heben könne. Ihre Brustkrebserkrankung sei in der Ukraine operativ sowie mit Chemo- und Strahlentherapie behandelt worden. Die Beschwerdeführerin benötige Unterstützung im Alltag, da ihre rechte Hand nicht richtig funktioniere; ihre Tochter helfe ihr morgens beim An- und Auskleiden, begleite sie zu Arztterminen und helfe ihr beim Einkaufen. Sie könne ihre rechte Hand nicht heben, sondern nur in Höhe eines Tisches zur Seite bewegen; ihre linke Hand könne sie gut bewegen. Einschränkungen gäbe es bei Tätigkeiten, für welche man beide Hände benötigen würde, wie Wäsche aufhängen und Einkaufen.
Über Vorhalt, dass der Zugang zu medizinischer Behandlung im Vorfeld der Ausreise ebenso wie ihre finanzielle Lage unproblematisch gewesen sei und ihre gesundheitliche Situation ihren Angaben zufolge keinen Ausreisegrund gebildet hätte und gefragt, inwiefern die Situation nun anders wäre, gab die Beschwerdeführerin an, dass sie aus mehreren Gründen gezwungen gewesen wäre, die Heimat zu verlassen. Die medizinischen Behandlungen würden sehr viel Geld kosten. Ihr Haus sei zerstört worden. Hier in Österreich habe sie ihre Tochter, die sie unterstütze. Sie erhalte Injektionen, im Anschluss fühle sie sich schlecht und könne zwei Tage lang nicht aufstehen. Damit beziehe sie sich auf das zuvor erwähnte Medikament, welches sie zweimal jährlich erhalte. Zudem habe sie Venenprobleme, ihre Beine und Füße würden anschwellen. Ihre Tochter unterstütze sie, diese arbeite Teilzeit 30 Stunden pro Woche. Befragt, wie sich die Unterstützungsleistungen durch ihre Tochter angesichts dessen, dass diese berufstätig wäre und vier Kinder zu betreuen habe, ausgingen, gab die Beschwerdeführerin an, ihre Tochter bemühe sich sehr, sie zu unterstützen.
Zu ihren sonstigen Lebensumständen in Österreich gab die Beschwerdeführerin an, sie habe früher bei einem Projekt der XXXX im Bereich des Lebensmittelverkaufs ehrenamtlich dreimal wöchentlich drei bis vier Stunden gearbeitet. Im Februar 2020 habe sie aufgehört, da es ihr immer schlechter gegangen wäre. Die Beschwerdeführerin besuche einen Deutschkurs, habe eine Prüfung auf dem Niveau A1 abgelegt, und habe mit Ausnahme der Familie ihrer Tochter keine Verwandten oder Bekannten in Österreich.
In der Folge wurde die Tochter der Beschwerdeführerin auf Antrag der bevollmächtigten Vertretung als Zeugin bezüglich der Unterstützung ihrer Mutter befragt.
Die Beschwerdeführerin legte die folgenden Unterlagen vor:
? Schreiben des Sozialministeriumservice vom 08.10.2018
? SV-Gutachten des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen vom 08.10.2018
? Ärztlicher Entlassungsbericht einer Sonderkrankenanstalt vom 24.07.2020
? Ambulanzbrief eines Universitäts-Klinikums vom 23.08.2019
? Ambulanzbrief eines Universitäts-Klinikums vom 22.11.2019
? Befund eines Diagnosezentrums vom 29.10.2018
? Auszug der Website der Ukrainischen Pensionsanstalt in ukrainischer Sprache
1.13. In einer am 15.10.2020 eingelangten Stellungnahme führte die bevollmächtigte Vertreterin der Beschwerdeführerin aus, die vorgelegten Länderberichte würden ausführen, dass die technische Ausstattung ukrainischer Krankenhäuser als dürftig zu bezeichnen sei und in der Realität 97% der Medikamente von den Patienten selbst zu bezahlen seien. Auf Basis des Länderinformationsblatts könnten keine Feststellungen hinsichtlich Verfügbarkeit und Erreichbarkeit der notwendigen medizinischen Versorgung getroffen werden. Laut Länderinformationsblatt seien zudem die Existenzbedingungen in der Ukraine nur knapp ausreichend und es würden insbesondere alte bzw. schlecht qualifizierte, auf dem Arbeitsmarkt nicht vermittelbare, Personen unterhalb der Armutsgrenze leben. Ohne zusätzliche Einkommensquellen bzw. private Netzwerke sei es insbesondere Rentnern und sonstigen Transferleistungsempfängern kaum möglich, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Nicht außer Acht gelassen werden dürften zudem die derzeitige wirtschaftliche und politische Situation sowie die Einschränkung der Bewegungsfreiheit in der Ostukraine, in der die Beschwerdeführerin normalerweise wohnhaft sei.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige der Ukraine, gehört der Volksgruppe der Russen an und bekennt sich zum orthodoxen Glauben. Sie beherrscht die Sprachen Ukrainisch und Russisch. Sie stammt laut eigenen Angaben aus XXXX im Oblast Donezk im Osten der Ukraine. Die Beschwerdeführerin verfügt über einen Studienabschluss als Diplomingenieurin, war berufstätig und ist in der Ukraine pensionsberechtigt.
1.2. Die Beschwerdeführerin stellte am 25.01.2018 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz, über welchen im Umfang des Status der Asylberechtigten bereits rechtskräftig abweisend entschieden wurde.
1.3. Bei der Beschwerdeführerin wurde in der Ukraine Brustkrebs diagnostiziert, der dort operativ und mittels Chemotherapie behandelt wurde. Eine in der Ukraine begonnene medikamentöse Therapie wurde in Österreich fortgesetzt. Als Folge der Entfernung der Lymphknoten besteht eine Schwellung des rechten Arms. Im März 2018 wurde als Folge der Brustkrebs-Erkrankung eine Metastase an der Lunge diagnostiziert, die operativ entfernt wurde. Die Beschwerdeführerin wird derzeit mit Letrozol (Aromatase-Hemmer. Hormontherapie zur Behandlung von Brustkrebs), Cal-D-Vita (Kalzium und Vitamin D3), Oleovit D3 (Vitamin D) und Zoledronsäure (zur Hemmung des Abbaus von Knochengewebe, bei Osteoporose) medikamentös behandelt. Im Juli 2020 befand sich die Beschwerdeführerin für drei Wochen in einer stationären lymphologischen Rehabilitation. Hinweise auf eine notwendige stationäre Behandlung liegen nicht vor.
Zuletzt bestanden die folgenden Diagnosen: I89.0 Sekundäres Lymphödem (sicht- und tastbare Flüssigkeitsansammlung im Zwischenzellraum) des rechten axillären Tributargebiets im Stadium II. bei C50 St.p. Mammakarzinom ED 2013, E 88.2 Lipödem (chronische Fettverteilungsstörung) vom Unterschenkeltyp, E 66.01 Adipositas mit einem BMI von 36, M81.99 Osteopenie (Minderung der Knochendichte, Vorstufe zur Osteoporose), wirbelsäulenbetont, sowie I87.2 Chronisch-venöse Insuffizienz.
1.4. Bei der Beschwerdeführerin wurde im Oktober 2018 ein Grad der Behinderung von 40 Prozent festgestellt. Die Beschwerdeführerin wird im Alltag von ihrer Tochter, in deren Haushalt sie wohnt, unterstützt. Die Beschwerdeführerin ist in der Bewegungsfähigkeit ihres rechten Arms und somit bei Aktivitäten, für welche beide Hände benötigt werden (Einkaufen, Arbeiten im Haushalt, An- und Auskleiden), eingeschränkt, sie ist jedoch nicht pflegebedürftig und aus medizinischer Sicht grundsätzlich dazu in der Lage, ihren Alltag weitgehend eigenständig zu bestreiten.
1.5. In der Ukraine bestehen – auch im Fall der Niederlassung außerhalb der Herkunftsregion Donezk und dortigen Registrierung als Binnenflüchtling, etwa in Kiev – zugängliche Behandlungsmöglichkeiten für die bei der Beschwerdeführerin erforderliche medikamentöse Behandlung sowie die erforderlichen regelmäßigen Kontrolluntersuchungen. Die Beschwerdeführerin stand im Vorfeld ihrer Ausreise aufgrund der damals vorgelegenen Brustkrebserkrankung mehrjährig in Behandlung und hat nicht konkret vorgebracht, dass ihr eine benötigte Behandlung verweigert worden wäre oder individuell respektive finanziell nicht zugänglich gewesen wäre. Die Beschwerdeführerin befand sich zuletzt in keinem lebensbedrohlichen Krankheitszustand und durchlief keine lebensnotwendige Behandlung, deren Fortsetzung ihr in der Ukraine nicht möglich sein würde. Gleichermaßen sind die weiters vorliegenden Erkrankungen einer Behandlung im Rahmen des allgemeinen ukrainischen Gesundheitssystems zugänglich. Sie hat nicht begründet dargelegt, dass eine Rückkehr in den Heimatstaat für sie mit einer signifikant verkürzten Lebenserwartung oder intensivem Leiden einhergehen würde.
1.6. Die Beschwerdeführerin ist im Fall der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Ukraine nicht in ihrem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht. Diese liefe nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Es kann nicht festgestellt werden, dass sich die wirtschaftliche Situation der Beschwerdeführerin – auch unter Berücksichtigung allenfalls künftig notwendig werdender Behandlungs- und Medikamentenkosten – als derart desolat erweisen würde, als dass die Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr Gefahr liefe, in eine Existenz bedrohende Notlage zu geraten. Im Falle der Niederlassung außerhalb ihrer Herkunftsregion Donezk wäre es dieser möglich, gemessen am landesüblichen Durchschnitt, durch ihren Pensionsanspruch in der Ukraine, Unterstützungsleistungen für Binnenflüchtlinge, Rückkehrhilfe nach § 52a BFA-VG sowie Unterstützung durch ihre in Österreich lebenden Angehörigen und in der Ukraine tätige Hilfsorganisationen, ein Leben ohne unbillige Härten zu führen.
1.7. Im Bundesgebiet geht die Beschwerdeführerin keiner legalen Beschäftigung nach und bezieht Leistungen aus der Grundversorgung. Sie verfügt über grundlegende Deutschkenntnisse, absolvierte einen Kurs auf dem Niveau A1, und ist nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation. Sie war für ein Projekt der XXXX im Bereich des Lebensmittelverkaufs bis Februar 2020 ehrenamtlich tätig. Die Beschwerdeführerin ist strafgerichtlich unbescholten.
1.8. Die Tochter der Beschwerdeführerin stellte gemeinsam mit ihrem Ehemann und deren vier minderjährigen Kindern (wobei das jüngste Kind in Österreich geboren wurde) am 10.03.2015 Anträge auf internationalen Schutz, welche vom BFA vollinhaltlich abgewiesen wurden. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 31.01.2019, W196 2118575-1 ua., wurden die Beschwerden gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten und subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
Die Beschwerdeführerin lebt mit ihrer volljährigen Tochter und deren Familie seit ihrer Einreise nach Österreich in einem gemeinsamen Haushalt. Das Verhältnis zwischen der Beschwerdeführerin und ihrer Tochter ist von einer besonderen Nahebeziehung geprägt. Bei der Tochter der Beschwerdeführerin und deren Familie handelt es sich um die einzigen Angehörigen der Beschwerdeführerin. Die Beschwerdeführerin lebt im Bundesgebiet in einer Mietwohnung mit ihrer Tochter, ihrem Schwiegersohn und ihren vier minderjährigen Enkelkindern und wird von ihrer Tochter im Alltag maßgeblich unterstützt. Die Tochter der Beschwerdeführerin geht einer Erwerbstätigkeit im Ausmaß von 30 Wochenstunden nach, der Schwiegersohn ist ebenfalls berufstätig, die Enkelkinder besuchen Schule und Kindergarten im Bundesgebiet. Das gemeinsame Familienleben zwischen der Beschwerdeführerin und der Familie ihrer Tochter ist auf Dauer angelegt.
In der Ukraine hat die 59-jährige Beschwerdeführerin keine Angehörigen oder sonst engen sozialen Bezugspersonen mehr.
1.8. Zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführerin wird Folgendes festgestellt:
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 27.5.2020
In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk sowie auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 29.2.2020).
Die Sicherheitslage außerhalb der besetzten Gebiete im Osten des Landes ist im Allgemeinen stabil. Allerdings gab es in den letzten Jahren eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Attentaten und Attentatsversuchen, von denen sich einige gegen politische Persönlichkeiten richteten (FH 4.3.2020). In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk wurde nach Wiederherstellung der staatlichen Ordnung der Neuaufbau begonnen. Die humanitäre Versorgung der Bevölkerung ist sichergestellt (AA 29.2.2020).
Russland hat im März 2014 die Krim annektiert und unterstützt seit Frühjahr 2014 die selbst erklärten separatistischen „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. Binnenflüchtlinge sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer (Russland, Polen, Belarus) geflohen (AA 29.2.2020). Das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt. Die Sicherheitslage hat sich seither zwar deutlich verbessert, Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie bleiben aber an der Tagesordnung und führen regelmäßig zu zivilen Opfern und Schäden an der dortigen zivilen Infrastruktur. Schäden ergeben sich auch durch Kampfmittelrückstände (v.a. Antipersonenminen). Mit der Präsidentschaft Selenskyjs hat der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland), insbesondere nach dem Pariser Gipfel im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland) am 9. Dezember 2019 wieder an Dynamik gewonnen. Fortschritte beschränken sich indes überwiegend auf humanitäre Aspekte (Gefangenenaustausch). Besonders kontrovers in der Ukraine bleibt die im Minsker Maßnahmenpaket vorgesehene Autonomie für die gegenwärtig nicht kontrollierten Gebiete, die unter anderem aufgrund der Unmöglichkeit, dort Lokalwahlen nach internationalen Standards abzuhalten, noch nicht in Kraft gesetzt wurde. Gleichwohl hat das ukrainische Parlament zuletzt die Gültigkeit des sogenannten „Sonderstatusgesetzes“ bis Ende 2020 verlängert (AA 29.2.2020).
Ende November 2018 kam es im Konflikt um drei ukrainische Militärschiffe in der Straße von Kertsch erstmals zu einem offenen militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. Das als Reaktion auf diesen Vorfall für 30 Tage in zehn Regionen verhängte Kriegsrecht endete am 26.12.2018, ohne weitergehende Auswirkungen auf die innenpolitische Entwicklung zu entfalten. (AA 22.2.2019; vgl. FH 4.2.2019). Die Besatzung der involvierten ukrainischen Schiffe wurde im September 2019 freigelassen, ihre Festnahme bleibt indes Gegenstand eines von der Ukraine angestrengten Verfahrens vor dem Internationalen Seegerichtshof (AA 29.2.2020).
Der russische Präsident, Vladimir Putin, beschloss am 24.4.2019 ein Dekret, welches Bewohnern der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft im Eilverfahren erleichtert ermöglicht. Demnach soll die Entscheidung der russischen Behörden über einen entsprechenden Antrag nicht länger als drei Monate dauern. Internationale Reaktionen kritisieren dies als kontraproduktiven bzw. provokativen Schritt. Ukrainische Vertreter sehen darin die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für den offiziellen Einsatz der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine. Dafür gibt es einen historischen Präzedenzfall. Als im August 2008 russische Truppen in Georgien einmarschierten, begründete der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew das mit seiner verfassungsmäßigen Pflicht, „das Leben und die Würde russischer Staatsbürger zu schützen, wo auch immer sie sein mögen“. In den Jahren zuvor hatte Russland massenhaft Pässe an die Bewohner der beiden von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausgegeben (FAZ 26.4.2019; vgl. SO 24.4.2019).
Frieden in der Ostukraine gehörte zu den zentralen Versprechen von Wolodymyr Selenskyj während seiner Wahlkampagne 2019. In der Tat gelangen ihm einige Durchbrüche innerhalb der ersten zehn Monate seiner Präsidentschaft. Es kam zu einem mehrmaligen Austausch von Gefangenen, zur Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, zu einer relativ erfolgreichen Waffenruhe im August 2019 und zum Normandie-Treffen unter Teilnahme des russischen, französischen und ukrainischen Präsidenten sowie der deutschen Bundeskanzlerin. An der Dynamik des Konfliktes hat sich jedoch wenig verändert. Im Donbas wird weiterhin geschossen und die gegenwärtigen Verluste des ukrainischen Militärs sind mit denen in den Jahren 2018 und 2019 vergleichbar. In den ersten drei Monaten 2020 starben 27 ukrainische Soldaten in den Kampfhandlungen (KAS 4.2020).
Quellen:
? AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020
? FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.4.2019): Ein Signal an Selenskyj, https://www.faz.net/aktuell/politik/putin-verteidigt-russische-staatsbuergerschaft-fuer-ukrainer-16157482.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0, Zugriff 25.5.2020
? FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020
? KAS – Konrad Adenauer Stiftung (4.2020): Ukrainische Politik im Schatten der Pandemie: Teil 1, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028885/Ukrainische+Politik+im+Schatten+der+Pandemie.+Teil+1.pdf, Zugriff 25.5.2020
? SO – Spiegel Online (24.4.2019): Putins Provokation, https://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-wladimir-putin-kuendigt-an-russische-paesse-im-besetzten-donbass-auszuteilen-a-1264280.html, Zugriff 25.5.2020
Ostukraine
Letzte Änderung: 27.5.2020
In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. IDPs sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer geflohen (AA 29.2.2020). An der Dynamik des Konfliktes hat sich wenig verändert, obwohl 2019 einige Durchbrüche gelangen, wie der mehrmalige Austausch von Gefangenen, die Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, und eine relativ erfolgreiche Waffenruhe im August 2019 (KAS 4.2020). Auch im April 2020 kam es wieder zu einem Gefangenenaustausch (RFE/RL 16.4.2020).
In den nicht von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk kam es besonders 2014/15 zu schwersten Menschenrechtsverletzungen. Obwohl die Separatisten seither die öffentliche Ordnung und eine soziale Grundversorgung im Wesentlichen wiederhergestellt haben, werden zahlreiche Grundrechte (v.a. Meinungs- und Religionsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Eigentumsrechte) weiterhin systematisch missachtet (AA 29.2.2020).
In den selbsternannten Volksrepubliken Donezk (DPR) und Luhansk (LPR) gibt es seit 2014 keine unabhängige Justiz und das Recht auf ein faires Verfahren wird systematisch eingeschränkt. Es werden Inhaftierungen auf unbestimmte Zeit ohne gerichtliche Überprüfung und ohne Anklage oder Gerichtsverfahren berichtet. Bei Verdacht auf Spionage oder Verbindungen zur ukrainischen Regierung werden von Militärgerichten geheime Gerichtsverfahren abgehalten, gegen deren Urteile es nahezu keine Beschwerdemöglichkeit gibt und die Berichten zufolge lediglich dazu dienen, bei der Verfolgung von Personen einen Anschein von Legalität zu wahren. Willkürliche Verhaftung sind in der DPR und der LPR weit verbreitet. 2018 wurde die Möglichkeit der Präventivhaft für 30 bis 60 Tage geschaffen, wenn eine Person an Verbrechen gegen die Sicherheit von DPR oder LPR beteiligt gewesen sein soll. Die Präventivhaft wird Angehörigen nicht mitgeteilt (incommunicado) und kein Kontakt zu einem Rechtsbeistand und Verwandten zugelassen. Der Zustand der Hafteinrichtungen in den separatistisch kontrollierten Gebieten verschlechtert sich weiter und wird als hart und teils lebensbedrohlich bezeichnet. Berichten zufolge existiert in den Gebieten Donezk und Luhansk in Kellern, Abwasserschächten, Garagen und Industrieunternehmen ein umfangreiches Netz inoffizieller Haftstätten. Es gibt Berichte über schweren Mangel an Nahrungsmitteln, Wasser, sanitären Einrichtungen und angemessener medizinischer Versorgung. Es gibt Berichte über systematische Übergriffe gegen Gefangene, wie körperliche Misshandlung, Folter, Hunger, sexuelle Gewalt, öffentliche Demütigung, Verweigerung der medizinischen Versorgung und Einzelhaft sowie den umfangreichen Einsatz von Gefangenen als Zwangsarbeiter zur persönlichen Bereicherung der separatistischen Anführer (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 2020).
Im Donbas unterdrücken die Separatisten die Rede- und Pressefreiheit durch Belästigung, Einschüchterung, Entführungen und Übergriffe auf Journalisten und Medien (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 2020, ÖB 2.2019). Die Separatisten verhindern auch die Übertragung ukrainischer und unabhängiger Fernseh- und Radioprogramme in von ihnen kontrollierten Gebieten. In der LPR sollen die Websites von mehr als 50 ukrainischen Nachrichtenagenturen blockiert worden sein. Journalisten werden in der DNR genau überwacht, müssen die „Behörden“ der Separatisten z.B. über ihre Aktivitäten informieren oder werden von Mitgliedern bewaffneter Gruppen begleitet, wenn sie sich in der Nähe der Kontaktlinie bewegen. Es sind nur Demonstrationen zulässig, welche von den lokalen „Behörden“ unterstützt oder organisiert werden; oft mit erzwungener Teilnahme. In der DNR/LNR können nationale und internationale zivilgesellschaftliche Organisationen nicht frei arbeiten. Es gibt eine steigende Zahl von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die von den Separatisten gegründet wurden (USDOS 11.3.2020).
Es gibt es eine massive Zerstörung von zivilem Eigentum und Infrastruktur in den Konfliktgebieten. Auch Schulen und medizinische Einrichtungen waren und bleiben weiterhin betroffen. Zuweilen ist vielerorts die Strom- und Wasserversorgung unterbrochen oder nur zeitweise gesichert, ohne die im Winter auch nicht geheizt werden kann. Aufgrund der fehlenden Rechtsstaatlichkeit in den Separatistengebieten sind dort Frauen besonders gefährdet. Es gibt Berichte über Missbrauch, Sexsklaverei und Menschenhandel (ÖB 2.2019). Die meisten LGBTI-Personen sind aus den separatistischen Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk geflohen oder verstecken ihre sexuelle Orientierung bzw. Geschlechtsidentität (USDOS 13.3.2019). 2019 soll sich laut Berichten das soziale Stigma und die Intoleranz aufgrund der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität verschärft haben; v.a. aufgrund der Anwendung von Gesetzen, welche die "Propaganda gleichgeschlechtlicher Beziehungen" kriminalisieren (USDOS 11.3.2020). Obwohl DNR und LNR in ihren Verfassungen Religionsfreiheit garantieren, sind Anhänger von Glaubensrichtungen, die nicht der russisch-orthodoxen Kirche angehören, Verfolgung ausgesetzt. Am schlimmsten betroffen sind die Zeugen Jehovas, die 2018 als extremistische Organisation vollständig verboten wurden und deren Eigentum beschlagnahmt wurde (FH 2020).
Die separatistischen Kräfte im Gebiet Donezk verboten die humanitäre Hilfe der ukrainischen Regierung und schränken die Hilfe internationaler humanitärer Organisationen ein. Infolgedessen sind Berichten zufolge die Preise für Grundnahrungsmittel für viele Personen, die auf dem von Russland kontrollierten Gebiet verblieben, zu hoch. Menschenrechtsgruppen berichten auch über einen ausgeprägten Mangel an Medikamenten, Kohle und medizinischen Hilfsgütern. Es kommen weiterhin Konvois der russischen „humanitären Hilfe“ an, die nach Ansicht der ukrainischen Regierungsbeamten aber Waffen und Lieferungen für die separatistischen Streitkräfte enthalten (USDOS 11.3.2020). Die laufende Handelsblockade zwischen den besetzten Gebieten in der Ostukraine und dem Rest der Ukraine dämpfte, kombiniert mit Korruption und anhaltenden Kampfhandlungen, die Bemühungen zur Wiederbelebung der lokalen Wirtschaft. Viele Einwohner sind auf humanitäre Hilfe angewiesen (FH 2020).
Durch die Kontaktlinie, welche die Konfliktparteien trennt, wird das Recht auf Bewegungsfreiheit beschnitten und Gemeinden getrennt. Jeden Tag warten bis zu 30.000 Menschen stundenlang unter erschwerten Bedingungen an den fünf Checkpoints auf das Überqueren der Kontaktlinie. Unzureichend beschilderte Minen entlang der Straßen stellen eine Gefahr für die Wartenden dar (ÖB 2.2019; vgl. PCU 3.2019). Es gibt nur unzureichende sanitäre Einrichtungen, speziell auf separatistischer Seite (HRW 17.1.2019). Die Bewegungsfreiheit nach Russland ist weniger eingeschränkt (FH 2020).
Im Zuge der Kampfhandlungen zwischen der Ukraine und den Separatisten kam es 2014 in jenen Gebieten, in denen nicht die ukrainischen Streitkräfte selbst, sondern Freiwilligenbataillone eingesetzt waren, mitunter zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Diese Bataillone wurden in der Folgezeit sukzessive der Nationalgarde (Innenministerium) unterstellt, nur das Bataillon „Ajdar“ wurde in die Armee eingegliedert. Offiziell wurden Freiwilligenbataillone danach nicht mehr an der Kontaktlinie, sondern ausschließlich zur Sicherung rückwärtiger Gebiete eingesetzt. Die nicht immer klare hierarchische Einbindung dieser Einheiten hatte zur Folge, dass es auch in den von ihnen kontrollierten Gebieten zu Menschenrechtsverletzungen kam, namentlich zu Freiheitsberaubung, Erpressung, Diebstahl und Raub, evtl. auch zu extralegalen Tötungen. Diese Menschenrechtsverletzungen sind Gegenstand von teilweise schleppend verlaufenden Strafverfahren. Infolge des Übergangs von der ATO (Anti-Terror-Operation in der Ostukraine, geführt vom SBU, Anm.) zu der nunmehr von der Armee koordinierten OVK (Operation der Vereinigten Kräfte) mit April 2018, wurden verbliebene Freiwilligenverbände endgültig in die regulären Streitkräfte eingegliedert oder haben die OVK-Zone verlassen (AA 29.2.2020).
Es gibt Berichte über Entführungen auf beiden Seiten der Kontaktlinie. Am häufigsten wurden Zivilisten von den von Russland geführten Streitkräften an Ein-/Ausreisekontrollpunkten entlang der Kontaktlinie festgenommen. Beide Konfliktparteien setzen Landminen ohne Umzäunung, Beschilderung oder andere Maßnahmen ein, wodurch Opfer unter der Zivilbevölkerung verhindert werden könnten. Besonders akut sind die Risiken für Personen, die in Städten und Siedlungen in der Nähe der Kontaktlinie leben, sowie für Personen, welche die Kontaktlinie täglich überqueren müssen (USDOS 11.3.2020). Von Jänner bis November 2019 dokumentierte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte 162 konfliktbezogene zivile Unfallopfer; davon kamen 26 zu Tode, 136 wurden verletzt. Dabei wurden 101 der Unfälle durch Handfeuerwaffen und 58 durch Minen und Sprengstoffe verursacht. Insgesamt war im Jahr 2019 gegenüber 2018 ein Rückgang konfliktbedingter Unfälle um fast 40% zu verzeichnen (AA 29.2.2020). Zu den fünf Gruppen, die am stärksten vom Konflikt betroffen sind, gehören ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, IDPs, Kinder und Familien von Alleinerzieherinnen (UN 1.2020).
Im Juni 2019 begann die Russische Föderation damit, in einem erleichterten Verfahren russische Pässe für ukrainische Staatsbürger, die in den besetzten Gebieten leben, auszustellen (FH 2020). Acht Monate nach der Vereinfachung des Verfahrens zum Erwerb eines russischen Passes für die Donbas-Bewohner gab Russland bekannt, dass es bereits über 196.000 Ukrainern die Staatsbürgerschaft verliehen hatte (TMT 3.1.2020).
Quellen:
? AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020
? FH – Freedom House (2020): Freedom in the World Index 2020, Eastern Donbas, https://freedomhouse.org/country/eastern-donbas/freedom-world/2020, Zugriff 26.5.2020
? HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): World Report 2019 – Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002209.html, Zugriff 26.5.2020
? KAS – Konrad Adenauer Stiftung (4.2020): Ukrainische Politik im Schatten der Pandemie: Teil 1, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028885/Ukrainische+Politik+im+Schatten+der+Pandemie.+Teil+1.pdf, Zugriff 25.5.2020
? ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 20.5.2020
? PCU – Protection Cluster Ukraine (3.2019): Mine Action in Ukraine, https://www.unhcr.org/ua/wp-content/uploads/sites/38/2019/04/2019_03_advocacy_note_on_mine_action_eng-1.pdf, Zugriff 26.5.2020
? RFE/RL – Radio Free Europe, Radio Liberty (16.4.2020): Ukraine, Russia-Backed Separatists Hold Another Prisoner Swap, https://www.rferl.org/a/ukraine-russia-backed-separatists-begin-new-round-in-prisoner-swap/30558758.html, Zugriff 26.5.2020
? TMT – The Moscow Times (3.1.2020): Kyiv Post: Moscow Says it Issued Nearly 200,000 Russian Passports in Ukraine’s Donbass, https://www.themoscowtimes.com/2020/01/03/kyiv-post-moscow-says-it-issued-nearly-200000-russian-passports-in-ukraines-donbass-a68807, Zugriff 26.5.2020
? UN – United Nations (1.2020): UKRAINE, At a glance: 2020 Humanitarian Needs Overview, https://www.humanitarianresponse.info/sites/www.humanitarianresponse.info/files/documents/files/ukriane_2020_hno_at_a_glance-en.pdf, Zugriff 25.5.2020
? USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020
? USDOS – US Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004269.html, Zugriff 26.5.2020
Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 27.5.2020
Die ukrainische Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Gerichte sind aber trotz Reformmaßnahmen der Regierung weiterhin ineffizient und anfällig für politischen Druck und Korruption. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gering. Trotz der Bemühungen um eine Reform der Justiz und der Generalstaatsanwaltschaft ist Korruption bei Richtern und Staatsanwälten weiterhin ein Problem. Zivilgesellschaftliche Gruppen bemängeln weiterhin die schwache Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und der Judikative. Einige Richter behaupten Druckausübung durch hochrangige Politiker. Einige Richter und Staatsanwälte erhielten Berichten zufolge Bestechungsgelder. Andere Faktoren, welche das Recht auf ein faires Verfahren behindern, sind langwierige Gerichtsverfahren, insbesondere bei Verwaltungsgerichten, unterfinanzierte Gerichte und mangelnde Möglichkeiten Urteile durchzusetzen (USDOS 11.3.2020).
Die ukrainische Justizreform trat im September 2016 in Kraft, der langjährige Prozess der Implementierung der Reform dauert weiter an. Bereits 2014 startete ein umfangreicher Erneuerungsprozess mit der Annahme eines Lustrationsgesetzes, das u.a. die Entlassung aller Gerichtspräsidenten sowie die Erneuerung der Selbstverwaltungsorgane der Richterschaft vorsah. Eine im Februar 2015 angenommene Gesetzesänderung zur „Sicherstellung des Rechtes auf ein faires Verfahren“ sieht auch eine Erneuerung der gesamten Richterschaft anhand einer individuellen qualitativen Überprüfung („re-attestation“) aller Richter vor, die jedoch von der Zivilgesellschaft als teils unzureichend kritisiert wurde. Bislang wurden laut Informationen von ukrainischen Zivilgesellschaftsvertretern rund 2.000 der insgesamt 8.000 in der Ukraine tätigen Richter diesem Prozess unterzogen, wobei rund 10% entweder von selbst zurücktraten oder bei der Prozedur durchfielen. Ein wesentliches Element der Justizreform ist auch der vollständig neu gegründete Oberste Gerichtshof, der am 15. Dezember 2017 seine Arbeit aufnahm. Allgemein ist der umfassende Erneuerungsprozess der Richterschaft jedoch weiterhin in Gange und schreitet nur langsam voran. Die daraus resultierende häufige Unterbesetzung der Gerichte führt teilweise zu Verfahrensverzögerungen. Von internationaler Seite wurde die Annahme der weitreichenden Justizreform weitgehend begrüßt (ÖB 2.2019).
2014 wurde auch eine umfassende Reform der Staatsanwaltschaft in Gang gesetzt. In erster Linie ging es dabei auch darum, das schwer angeschlagene Vertrauen in die Institution wieder herzustellen, weshalb ein großer Teil dieser Reform auch eine Erneuerung des Personals vorsieht. Im Juli 2015 begann die vierstufige Aufnahmeprozedur für neue Mitarbeiter. Durchgesetzt haben sich in erster Linie jedoch Kandidaten, die bereits in der Generalstaatsanwaltschaft Erfahrung gesammelt hatten. Weiters wurde der Generalstaatsanwaltschaft ihre Funktion als allgemeine Aufsichtsbehörde mit der Justizreform 2016 auf Verfassungsebene entzogen, was jedoch noch nicht einfach gesetzlich umgesetzt wurde. Jedenfalls wurde in einer ersten Phase die Struktur der Staatsanwaltschaft verschlankt, indem über 600 Bezirksstaatsanwaltschaften auf 178 reduziert wurden. 2017 wurde mit dem Staatsanwaltschaftsrat („council of prosecutors“) ein neues Selbstverwaltungsorgan der Staatsanwaltschaft geschaffen. Es gab bereits erste Disziplinarstrafen und Entlassungen, Untersuchungen gegen die Führungsebene der Staatsanwaltschaft wurden jedoch vorerst vermieden. Auch eine spezialisierte Antikorruptions-Staatsanwaltschaft wurde geschaffen. Diese Reformen wurden vor allem wegen der mangelnden personellen Erneuerung der Staatsanwaltschaft kritisiert. Auch erhöhte die Reform die Belastung der Ankläger, die im Durchschnitt rund je 100 Strafverfahren gleichzeitig bearbeiten, was zu einer Senkung der Effektivität der Institution beiträgt. Allgemein bleibt aber, trotz einer signifikanten Reduktion der Zahl der Staatsanwälte, diese im europäischen Vergleich enorm hoch, jedoch ineffizient auf die zentrale, regionale und lokale Ebene verteilt (ÖB 2.2019).
Die jüngsten Reforminitiativen, die sich gegen korrupte und politisierte Gerichte wenden, sind ins Stocken geraten oder blieben hinter den Erwartungen zurück. Das neue Hohe Anti-Korruptionsgericht, das im September 2019 seine Arbeit aufgenommen hat, hat noch keine Ergebnisse erzielt. Obwohl es Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren gibt, können Personen mit finanziellen Mitteln und politischem Einfluss in der Praxis einer Strafverfolgung wegen Fehlverhaltens entgehen (FH 4.3.2020). Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis orientieren sich an westeuropäischen Standards. Untersuchungshaft wird nach umfassender Reform des Strafverfahrensrechts erkennbar seltener angeordnet als früher (AA 29.2.2020). Nach den 2019 veröffentlichten Statistiken des World Prison Bureau sind etwa 36% der Gefangenen in der Ukraine Untersuchungshäftlinge (FH 4.3.2020).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020
- ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 20.5.2020
- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020
Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 6.7.2020
Das Innenministerium ist für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Ordnung zuständig. Das Ministerium beaufsichtigt das Personal der Polizei und anderer Strafverfolgungsbehörden. Der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) ist für den Staatsschutz im weitesten Sinne, den nicht-militärischen Nachrichtendienst sowie für Fragen der Spionage- und Terrorismusbekämpfung zuständig. Das Innenministerium untersteht dem Ministerkabinett, der SBU ist direkt dem Präsidenten unterstellt. Das Verteidigungsministerium schützt das Land vor Angriffen aus dem In- und Ausland, gewährleistet die Souveränität und die Integrität der Landesgrenzen und übt die Kontrolle über die Aktivitäten der Streitkräfte im Einklang mit dem Gesetz aus. Der Präsident ist der oberste Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Das Verteidigungsministerium untersteht direkt dem Präsidenten. Der Staatliche Steuerfiskus übt über die Steuerpolizei Strafverfolgungsbefugnisse aus und untersteht dem Ministerkabinett. Der dem Innenministerium unterstellte Staatliche Migrationsdienst setzt die staatliche Politik in Bezug auf Grenzsicherheit, Migration, Staatsbürgerschaft und Registrierung von Flüchtlingen und anderen Migranten um (USDOS 11.3.2020).
Die Sicherheitsbehörden unterstehen generell effektiver ziviler Kontrolle. Die Regierung hat es jedoch im Allgemeinen versäumt, angemessene Schritte zu unternehmen, um Missbräuche durch Beamte strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen stellten erhebliche Mängel bei den Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte fest. Zuweilen wenden die Sicherheitskräfte selbst übermäßige Gewalt an, um Proteste aufzulösen (USDOS 11.3.2020), oder verabsäumen es in einzelnen Fällen, Opfer vor Belästigung oder Gewalt zu schützen. Dies betrifft vor allem Hassverbrechen gegen ethnische Minderheiten, insbesondere Roma, LGBT-Personen, Feministinnen oder Personen, die von ihren Angreifern als „anti-ukrainisch“ wahrgenommen werden. Auch die Misshandlung von Festgenommenen durch die Polizei ist weiterhin ein Problem (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 16.4.2020).
Während der Maidan-Proteste 2013/2014 kam es zu Menschenrechtsverletzungen durch die gewaltsame Unterdrückung der Proteste durch Sicherheitskräfte, mehr als 100 Menschen wurden getötet, hunderte verletzt. Die laufende Untersuchung zu diesen Verbrechen ist langsam und ineffektiv (AI 16.4.2020). Es wurden dennoch einige Fortschritte erzielt, 422 Menschen wurden angeklagt, 52 verurteilt und 9 davon mit einer Gefängnisstrafe belegt. Die Gesellschaft fordert jedoch, dass auch diejenigen, die die Befehle zur Tötung gaben, zur Rechenschaft gezogen werden, und nicht nur jene, die diesen Befehlen folgten (BTI 2020).
In den letzten Jahren wurden u.a. Reformen im Bereich der Polizei durchgeführt (AA 29.2.2020). Das sichtbarste Ergebnis der ukrainischen Polizeireform ist die Gründung der Nationalen Polizei nach europäischen Standards, mit starker Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, als von der Politik grundsätzlich unabhängiges Exekutivorgan. Mit November 2015 ersetzte die Nationale Polizei offiziell die bestehende und aufgrund von schweren Korruptionsproblemen in der Bevölkerung stark diskreditierte „Militsiya“. Alle Mitglieder der Militsiya hatten grundsätzlich die Möglichkeit, in die neue Truppe aufgenommen zu werden, mussten hierfür jedoch einen „Re-Attestierungsprozess“ samt umfangreichen Schulungsmaßnahmen und Integritätsprüfungen durchlaufen. Im Oktober 2016 verkündete die damalige Leiterin der Nationalen Polizei den erfolgreichen Abschluss dieses Prozesses, in dessen Zuge 26% der Polizeikommandanten im ganzen Land entlassen, 4.400 Polizisten befördert und im Gegenzug 4.400 herabgestuft wurden. Zentrale Figur der Polizeireform war die ehemalige georgische Innenministerin Khatia Dekanoidze, die jedoch am 14. November 2016 aufgrund des von ihr bemängelnden Reformfortschrittes, zurücktrat. Zu ihrem Nachfolger wurde, nach einem laut Einschätzung der EU Advisory Mission (EUAM) offenen und transparenten Verfahren, im Februar 2017 Serhii Knyazev bestellt. Das Gesetz „Über die Nationalpolizei“ sieht eine Gewaltenteilung zwischen dem Innenminister und dem Leiter der Nationalen Polizei vor. Der Innenminister ist ausschließlich für die staatliche Politik im Rechtswesen zuständig, der Leiter der Nationalen Polizei konkret für die Polizei. Dieses europäische Modell soll den Einfluss des Ministers auf die operative Arbeit der Polizei verringern. Dem Innenministerium unterstehen seit der Reform auch der Staatliche Grenzdienst, der Katastrophendienst, die Nationalgarde und der Staatliche Migrationsdienst. Festzustellen ist, dass der Innenminister in der Praxis immer noch die Arbeit der Polizei beeinflusst und die Reform somit noch nicht vollständig umgesetzt ist. Das nach dem Abgang von Khatia Dekanoidze befürchtete Zurückrollen diverser erzielter Reformen, ist laut Einschätzung der EUAM, jedenfalls nicht eingetreten. Das im Juni 2017 gestartete Projekt „Detektive“ – Schaffung polizeilicher Ermittler/Zusammenlegung der Funktionen von Ermittlern und operativen Polizeieinsatzkräften, spielt in den Reformen ebenfalls eine wichtige Rolle. Wie in westeuropäischen Staaten bereits seit langem praktiziert, soll damit ein- und derselbe Ermittler für die Erhebung einer Straftat, die Beweisaufnahme bis zur Vorlage an die Staatsanwaltschaft zuständig sein. Bislang sind in der Ukraine, wie zu Sowjetzeiten, immer noch die operative Polizei für die Beweisaufnahme und die Ermittler für die Einreichung bei Gericht zuständig. Etwas zögerlich wurde auch die Schaffung eines „Staatlichen Ermittlungsbüros (SBI)“ auf den Weg gebracht und mit November 2017 ein Direktor ernannt. Das SBI hat die Aufgabe, vorgerichtliche Erhebungen gegen hochrangige Vertreter des Staates, Richter, Polizeikräfte und Militärangehörige durchzuführen, sofern diese nicht in die Zuständigkeit des Nationalen Antikorruptions-Büros (NABU) fallen. Die Auswahl der Mitarbeiter ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Mit Unterstützung der EU Advisory Mission (EUAM) wurde 2018 auch eine „Strategie des Innenministeriums bis 2020“ sowie ein Aktionsplan entwickelt (ÖB 2.2019). Kritiker bemängeln, dass bei den Reformen der Strafverfolgung ab 2015 systemische Fragen im Innenministerium und im Strafrechtssystem nicht behandelt wurden, und dass sich das weit verbreitete kriminelle Verhalten von Polizisten, Ermittlern und Staatsanwälten fortsetzt bzw. sich in einigen Fällen sogar verschlechtert hat (AC 30.6.2020).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020
- AC – Atlantic Council (30.6.2020):Ukraine’s powerful Interior Minister Avakov under fire over police reform failures, https://www.atlanticcouncil.org/blogs/ukrainealert/ukraines-powerful-interior-minister-avakov-under-fire-over-police-reform-failures/, Zugriff 6.7.2020
- AI – Amnesty International (16.4.2020): Human Rights in Eastern Europe and Central Asia - Review of 2019 - Ukraine [EUR 01/1355/2020], https://www.ecoi.net/de/dokument/2028174.html, Zugriff 20.5.2020
- BTI – Bertelsmann Transformation Index (2020): Ukraine, Country Report 2020, https://www.bti-project.org/de/berichte/country-report-UKR.html, Zugriff 22.5.2020
- ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 19.5.2020
- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020
Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 27.5.2020
Folter sowie grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Bestrafungen, die gegen die Menschenwürde verstoßen, sind gemäß Artikel 28 der ukrainischen Verfassung verboten. Die Ukraine ist seit 1987 Mitglied der UN-Anti-Folter-Konvention (CAT) und seit 1997 Teilnehmerstaat der Anti-Folter-Konvention des Europarats (AA 29.2.2020).
Trotzdem gibt es Berichte, dass Strafverfolgungsbehörden an solchen Misshandlungen beteiligt waren. Obwohl Gerichte keine unter Zwang zustande gekommene Geständnisse mehr als Beweismittel verwenden, gibt es Berichte über von Exekutivbeamten durch Folter erzwungene Geständnisse. Die Misshandlung von Gefangenen durch die Polizei blieb ein weit verbreitetes Problem. In einem Bericht des UN-Sonderberichterstatters über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe von Jänner 2019 heißt es, dass der Sonderberichterstatter zahlreiche Vorwürfe von Folter und Misshandlung durch die Polizei erhalten habe, darunter auch gegen Jugendliche, fast imm