TE Bvwg Erkenntnis 2020/8/19 L516 2233287-1

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Veröffentlicht am 19.08.2020
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Entscheidungsdatum

19.08.2020

Norm

AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs4
VwGVG §28 Abs2

Spruch

L516 2233287-1/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Paul NIEDERSCHICK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb XXXX , StA Staatenlos, vertreten durch Mag. Josef Phillip BISCHOF & Mag. Andreas LEPSCHI, Rechtsanwälte, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.06.2020, IFA-Zahl/Verfahrenszahl: 150788202/191187607, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 57 AsylG als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II wird gemäß § 28 Abs 2 VwGVG stattgegeben und es wird festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer auf Dauer unzulässig ist.

Gemäß § 55 Abs 1 AsylG wird XXXX der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

III. Die Spruchpunkte III, IV und VI werden gemäß § 28 Abs 2 VwGVG ersatzlos behoben.

B)

Die ordentliche Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) erteilte dem Beschwerdeführer mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid (I.) keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG, erließ (II.) eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 4 FPG, stellte (III.) fest, dass die Abschiebung nach Armenien gemäß § 46 FPG zulässig sei, sprach (IV.) aus, dass gemäß § 55 Abs 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe, sprach (V.) aus, dass einer Beschwerde gemäß § 18 Abs 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt werde und erließ (VI.) gemäß § 53 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Einreiseverbot.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde. Der Bescheid wird zur Gänze angefochten.

Das Bundesverwaltungsgericht erkannte mit Beschluss vom 28.07.2020 der Beschwerde gemäß § 18 Abs 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zu.

1. Sachverhalt:

[regelmäßige Beweismittel-Abkürzungen: S=Seite; AS=Aktenseite des Verwaltungsaktes des BFA; NS=Niederschrift; OZ=Ordnungszahl des Verfahrensaktes des Bundesverwaltungsgerichtes; ZMR=Zentrales Melderegister; IZR=Zentrales Fremdenregister; GVS= Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich; SD=Staatendokumentation des BFA; LIB=Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA]

1.1 Der Beschwerdeführer führt in Österreich den im Spruch angeführten Namen sowie das ebenso dort angeführte Geburtsdatum. Er ist in Armenien geboren, seit 17.10.1993 hält er sich durchgehend in Österreich auf. Der Beschwerdeführer hatte ursprünglich die armenische Staatsangehörigkeit inne, am 17.07.1998 schied er aus dem armenischen Staatsverband aus (Bestätigung Botschaft der Republik Armenien vom 27.07.1998, AS 231). Über eine andere Staatsangehörigkeit verfügt der Beschwerdeführer nicht, er ist staatenlos (Bescheid, S 14, 15). Er ist Angehöriger der armenischen Volksgruppe und der armenisch-apostolischen Glaubensgemeinschaft (EV 17.01.2020, S 3).

Der Beschwerdeführer hat eine Deutschprüfung auf dem Sprachniveau B1 abgelegt und verfügt über solche Deutschkenntnisse, dass bei der Einvernahme durch das BFA am 17.01.2020 ein Dolmetscher nicht erforderlich war. Der Beschwerdeführer ist gesund (EV 17.01.2020, S 2, 3).

1.2 In Österreich leben die Kinder, seine geschiedene Ehefrau, die Mutter und die Schwester des Beschwerdeführers. In Armenien leben keine Familienmitglieder des Beschwerdeführers, sein Vater ist bereits verstorben. Zuletzt war der Beschwerdeführer 2018, zur Beerdigung des Vaters, in Armenien, ansonsten war er seit 1993 nicht mehr dort. Die Mutter ist armenische Staatsangehörige, die österreichische Staatsbürgerschaft wurde ihr jedoch bereits zugesichert. Sie lebt alleine und weist einen Grad der Behinderung von 50% auf, weshalb der Beschwerdeführer für seine Mutter Erledigungen, Einkäufe, die Organisation der Arzttermine und das Übersetzen beim Arzt übernimmt. Zu seiner geschiedenen Ehefrau hat der Beschwerdeführer ein gutes Verhältnis, beide kümmern sich um den knapp zwölfjährigen Sohn, der bei der geschiedenen Ehefrau wohnt. Der Beschwerdeführer bringt seinen Sohn vor allem zu dessen Sportkursen und holt ihn von dort auch wieder ab. Die beiden gemeinsamen Töchter sind bereits erwachsen, eine wohnt bei der Mutter, die andere in ihrem eigenen Haushalt, es bestehen auch zwischen den Töchtern und dem Beschwerdeführer gute Verhältnisse, sie treffen sich mehrmals wöchentlich. Die Töchter sind österreichische Staatsbürgerinnen. Der Beschwerdeführer lebt auch mit seiner verwitweten Schwester, die österreichische Staatsangehörige ist, im gemeinsamen Haushalt und nimmt bei einer bestehenden engen Bindung Erziehungs- und Fürsorgeaufgaben für die beiden minderjährigen Kinder seiner Schwester, seiner Nichte und seinem Neffen, wahr und ist auch für diese eine wichtige Bezugsperson (EV 17.01.2020, S 4, 5; Unterstützungsschreiben AS 327, 328).

1.3 Der Beschwerdeführer arbeitete im Juni 2020 als Kellner (AS 331), zuvor arbeitete bei einer Transportfirma (EV 17.01.2020, S 6). Leistungen aus der Grundversorgung für hilfsbedürftige Fremde bezog der Beschwerdeführer ausschließlich von März 2016 bis August 2017(GVS).

Seine freie Zeit verbringt er mit seiner Familie, geht in die Kirche, spielt bei den von der Kirche organisierten Fußballturnieren mit und hilft in der Kirche auch beim Ausmalen oder beim Telefondienst (EV 17.01.2020, S 6).

1.4 Der Beschwerdeführer ist aktuell 48 Jahre alt. Seit 17.10.1993, somit seit fast 27 Jahren, hält sich der Beschwerdeführer, nach unrechtmäßiger Einreise, durchgehend in Österreich auf. Von 03.08.2001 bis 31.08.2002 verfügte der Beschwerdeführer über eine humanitäre Aufenthaltsberechtigung in Österreich. Am 24.07.2003 wurde ihm eine Niederlassungsbewilligung ausgestellt. Mit Bescheid vom 31.08.2004 wurde gegen den Beschwerdeführer ein Aufenthaltsverbot für die Dauer von zehn Jahren ausgesprochen, das dagegen eingebrachte Rechtsmittel wurde vom Verwaltungsgerichtshof abgewiesen; das Aufenthaltsverbot hat er nie angetreten. Zwischen 05.02.2010 und 12.05.2015 hatte der Beschwerdeführer Duldungskarten inne (AS 233f). Danach erteilte das BFA am 18.07.2017 dem Beschwerdeführer aus Gründen des Art 8 EMRK den Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus. Über diesen Aufenthaltstitel verfügte der Beschwerdeführer von 18.07.2017 bis 17.07.2018 und in der Folge erhielt der Beschwerdeführer den Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot-Karte plus“ mit einer Gültigkeit bis zum 19.07.2020 (IZR).

1.5 Mit seit 31.03.2020 rechtskräftigem Urteil eines österreichischen Landesgerichtes wurde der Beschwerdeführer zuletzt bei einem Strafrahmen von zwei Jahren Freiheitsstrafe zu zehn Monaten Freiheitsstrafe bedingt bei einer Probezeit von 3 Jahren verurteilt. Das Gericht erkannte diesbezüglich, dass der Beschwerdeführer schuldig sei, das Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgift gemäß § 27 Abs 2a SMG begangen zu haben, indem er drei Stück Substitol-Kapseln zu einem Kaufpreis von je EUR 20,00 Abnehmern überlassen habe. Es führte in seiner Begründung aus, dass der Beschwerdeführer nicht den Eindruck vermittelt habe, sich illegal Drogen zu besorgen und in der Folge zu verkaufen, da er um ein rechtstreues Leben bemüht sei und so gewirkt habe, als würde es sich bei der strafgegenständlichen Handlung um eine Ausnahmesituation gehandelt haben. Als mildernd habe vom Landesgericht kein Umstand berücksichtigt werden können, erschwerend seien die vier einschlägigen Vorstrafen gewesen (Urteil vom 29.10.2019, S 4, 8= AS 151ff)). In den Jahren 2004, 2006 und 2012 weist das Strafregister weitere vier Verurteilungen des Beschwerdeführers auf (Strafregister der Republik Österreich).

1.6 Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie hat Armenien die Einreise von Personen untersagt, die weder Staatsbürger Armeniens noch Familienangehörige eines Staatsbürgers oder rechtmäßige Bewohner Armeniens sind. Reisende, denen die Einreise nach Armenien gestattet ist, müssen sich 14 Tage lang in Selbstquarantäne begeben. (Quelle: LIB der Staatendokumentation vom 25.06.2020, S 30, 42f)

Alle armenischen Staatsbürger sind berechtigt, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen. (Quelle: LIB der Staatendokumentation vom 25.06.2020, S 35)

Um Zugang zu kostenlosen medizinischen Primärleistungen zu erhalten, muss eine Person armenischer Staatsbürger sein und in einer der Polikliniken oder primären Gesundheitseinrichtungen (Primary Healthcare – PHC) in der Nähe ihres Wohnortes registriert sein. In diesen Polikliniken oder PHC-Einrichtungen sind alle allgemeinen und wichtigsten spezialisierten medizinischen Dienstleistungen völlig kostenlos (einschließlich Impfungen und routinemäßiger labortechnischer Untersuchungen). (Quelle: LIB der Staatendokumentation vom 25.06.2020, S 38)

Alle armenischen StaatsbürgerInnen, einschließlich Rückkehrende, Asylsuchende und Flüchtlinge, haben ohne Einschränkungen das Recht auf Dienstleistungen von Krankenversicherungen. Rückkehrende, die nicht von der staatlichen Krankenkasse profitieren, können eine freiwillige private Krankenversicherung abschließen. Ein gültiger Ausweis oder Reisepass ist erforderlich für die Neuregistrierung oder Erneuerung einer bereits vorhandenen Registrierung (IOM 2019). (Quelle: LIB der Staatendokumentation vom 25.06.2020, S 39)

Rückkehrer werden grundsätzlich nach Ankunft in die Gesellschaft integriert. Sie haben Zugang zu allen Berufsgruppen, auch im Staatsdienst, und überdurchschnittlich gute Chancen, Arbeit zu finden. Für rückkehrende Migranten wurde ein Beratungszentrum geschaffen; es handelt sich um ein Projekt der französischen Büros für Einwanderung und Migration. Rückkehrer können sich auch an den armenischen Migrationsdienst wenden, der ihnen mit vorübergehender Unterkunft und Beratung zur Seite steht. Fälle, in denen Rückkehrer festgenommen oder misshandelt wurden, sind nicht bekannt. (Quelle: LIB der Staatendokumentation vom 25.06.2020, S 42)

2. Beweiswürdigung:

Die Sachverhaltsfeststellungen stützen sich auf den Verwaltungsverfahrensakt des BFA. Die konkreten Beweismittel sind bei den Sachverhaltsfeststellungen bzw in der Beweiswürdigung jeweils in Klammer angeführt. Die Länderfeststellungen zu Armenien (oben 1.6) beruhen auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA vom 25.06.2020.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

Zu einem Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (§ 57 AsylG)

3.1 Fallbezogen liegen nach dem festgestellten Sachverhalt die gesetzlichen Voraussetzungen des § 57 AsylG für die Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels nicht vor. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers war zuletzt weder seit einem Jahr geduldet noch ist eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen zu erteilen; schließlich hat der Beschwerdeführer auch nicht glaubhaft gemacht, Opfer von Gewalt geworden zu sein sowie, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

3.2 Die Beschwerde gegen die mit Spruchpunkt I ausgesprochene Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wird daher abgewiesen.

Zur Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung und Unzulässigkeit der Abschiebung nach Armenien (§ 52 FPG; § 9 BFA-VG)

3.3 Die Zulässigkeit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme, insbesondere der hier in Rede stehenden Rückkehrentscheidung, setzt nach § 9 Abs. 1 BFA-VG unter dem dort genannten Gesichtspunkt eines Eingriffs in das Privat- und/oder Familienleben voraus, dass ihre Erlassung zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Im Zuge dieser Beurteilung ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Im Rahmen der so gebotenen Interessenabwägung kann nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes unter dem Gesichtspunkt der Bindungen zum Heimatstaat (§ 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG) auch der Frage Bedeutung zukommen, ob sich der Fremde bei einer Rückkehr in diesen Staat eine Existenzgrundlage schaffen kann (VwGH 17.04.2020, Ra 2019/21/0188).

3.4 Seit der Beschwerdeführer 1993, im Alter von 21 Jahren, aus Armenien ausgereist ist, hält er sich, abgesehen von Urlaubsaufenthalten und einer Reise zur Beerdigung seines Vaters im Jahr 2018 durchgehend, somit seit 27 Jahren, in Österreich auf. Trotz der strafrechtlichen Verurteilungen kann diese lange Dauer des inländischen Aufenthalts des Beschwerdeführers, die mit entsprechend langer Abwesenheit von Armenien einhergeht, nicht gänzlich ausgeblendet werden. Zudem sind die privaten und familiären Interessen des Beschwerdeführers in Österreich in Anschlag zu bringen.

3.5 Im gegenständlichen Fall handelt es sich beim Beschwerdeführer nicht um einen Staatsangehörigen von Armenien, sondern um eine staatenlose Person. Als solche ist es für den Beschwerdeführer derzeit, aufgrund der durch das Coronavirus verursachten Pandemie, nicht möglich, überhaupt in Armenien einzureisen. Hinsichtlich des Aufbaues einer neuen Lebensgrundlage ist weiters zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer, da er nicht armenischer Staatsangehöriger ist, nicht berechtigt ist, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen. Auch ist es dem Beschwerdeführer nicht möglich, kostenlose medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen und da er weder einen armenischen Reisepass verfügt noch davon auszugehen ist, dass er einen anderen gültigen armenischen Ausweis innehat, ist es dem Beschwerdeführer auch nicht möglich, eine freiwillige private Krankenversicherung abzuschließen (vgl oben Punkt 1.6). Der Beschwerdeführer ist, aufgrund seiner Staatenlosigkeit, auch nicht als Rückkehrer zu betrachten, für den diverse Beratungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen würden und es ist auch nicht davon auszugehen, dass er überdurchschnittlich gute Chancen am Arbeitsmarkt haben würde. Zusätzlich wird die Lage des Beschwerdeführers im Falle einer Rückkehr nach Armenien dadurch erschwert, dass er über die Hälfte seines Lebens in Österreich verbracht hat (27 Jahre) und dort keinen familiären Anschluss mehr hat. Insofern die Behörde davon ausgeht, dass es dem Beschwerdeführer zumutbar sei, im Falle der Rückkehr die armenische Staatsbürgerschaft bei der armenischen Botschaft in Wien zu beantragen und wiederanzunehmen und deshalb die gegenständliche Rückkehrentscheidung zulässig sei, so lässt die Behörde diese Behauptung unbegründet. Dem Akt ist auch nicht zu entnehmen, dass das BFA bereits angestrebt hätte, den Beschwerdeführer zur Wiederannahme seiner früheren Staatsangehörigkeit anzuhalten und wäre die Wiedererlangung der armenischen Staatsbürgerschaft jedenfalls der Ausreise vorzulagern, was wiederum nicht in Einklang zu bringen ist mit der ausgesprochenen sofortigen Ausreiseverpflichtung des Beschwerdeführers.

3.6 Unabhängig von der Frage der Wiedererlangung der armenischen Staatsangehörigkeit ist festzuhalten, dass in Österreich die Mutter, die Schwester, die ehemalige Ehefrau und die Kinder des Beschwerdeführers leben. Das jüngste Kind, ein Sohn, ist derzeit knapp zwölf Jahre alt. Die Aufrechterhaltung des persönlichen Kontaktes des Sohnes zum Beschwerdeführer entspricht der Wahrung des Kindeswohles. Ein Kind hat grundsätzlich Anspruch auf „verlässliche Kontakte“ zu beiden Elternteilen (vgl. VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0282). Im gegenständlichen Fall müsste der Sohn jedoch bei Durchsetzung der Rückkehrentscheidung (zumindest vorübergehend) ganz ohne Vater aufwachsen. Insofern die Kontakterhaltung über Internet und Telefon für faktisch möglich erachtet würde, ist darauf hinzuweisen, dass der Erhaltung des persönlichen Kontaktes zwischen dem knapp 12jährigen Sohn und seinem Vater als nächste männliche Bezugsperson für die Entwicklung des Kindes als besonders wichtig erachtet wird und dieser nicht durch Telekommunikationsmittel ersetzt werden kann. Der Beschwerdeführer lebt auch mit seiner verwitweten Schwester im gemeinsamen Haushalt und nimmt bei einer bestehenden engen Bindung Erziehungs- und Fürsorgeaufgaben für die beiden minderjährigen Kinder seiner Schwester wahr. Der Beschwerdeführer ist somit in Österreich familiär vernetzt und verfügt mit seiner beruflichen Tätigkeit, seinen Tätigkeiten in seiner Glaubensgemeinschaft und seinen Hobbies auch über private Anknüpfungspunkte in Österreich. Zu berücksichtigen ist weiters, dass das BFA trotzt der strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers der Jahre 2004 bis 2012 den Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ aus Gründen des Art 8 EMRK erteilte; die Aufenthaltsberechtigung wurde in der Folge in den Aufenthaltstitel Rot-Weiß-Rot-Karte plus umgewandelt. Hinsichtlich der zuletzt erfolgten Verurteilung ist festzuhalten, dass das Strafgericht im Falle des Beschwerdeführer bei einem Strafrahmen von bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe eine bedingte Freiheitsstrafe von 10 Monaten als Androhung für ausreichend erachtete, das Gericht von einem einmaligen Vorfall ausging und zu der Beurteilung kam, dass der Beschwerdeführer um ein rechtstreues Leben sehr bemüht ist, und davon ausging, dass es sich bei der vom Beschwerdeführer verübten Tat um eine Ausnahmesituation gehandelt habe (Urteil LG 29.10.2019, S 8 (AS 165)). Diese Verurteilung vermag somit für das Bundesverwaltungsgericht kein solches Gewicht aufzuweisen, als dass sie die gesamte Aufenthaltsdauer und das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers derart relativieren würde, als dass die Ausreise des Beschwerdeführers zwingend erforderlich wäre um die öffentlichen Interessen zu wahren. Gleiches gilt auch für die Nichtbefolgung des Ausreisebefehls aus dem Jahr 2004, auch sie tritt angesichts der Aufenthaltsdauer und der danach erteilten Aufenthaltstitel in den Hintergrund (vgl dazu VwGH 04.03.2020, Ra 2020/21/0010 zu einem Fall in dem die 10-Jahres Judikatur einschlägig war).

3.7 Das Bundesverwaltungsgericht kommt daher zu dem Ergebnis, dass unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des vorliegenden Falles das private Interesse des Beschwerdeführers an der Fortführung seines Privatlebens in Österreich das öffentliche Interesse an einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme überwiegt. Es ist auch keine ausreichende Rechtfertigung zu erkennen, warum öffentliche Interessen es zwingend erfordern würden, dass der Beschwerdeführer nach 27 Jahren Aufenthalt Österreich verlassen müsste.

3.8 Es erweist sich daher die im angefochtenen Bescheid angeordnete aufenthaltsbeendende Maßnahme als unzulässig und eine Rückkehrentscheidung daher auf Dauer unzulässig.

3.9 Nach diesem Ergebnis liegen auch nicht mehr die gesetzlichen Voraussetzungen für den Ausspruch hinsichtlich der Zulässigkeit der Abschiebung (Spruchpunkt III), der Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt IV) sowie die Erlassung eines Einreiseverbotes vor (Spruchpunkt VI).

3.10 Der Beschwerdeführer übt zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit aus, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze erreicht wird und hat zudem die Integrationsprüfung auf dem Niveau B1 bestanden.

3.11 Es ist daher im Ergebnis spruchgemäß der Beschwerde gegen Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides stattzugeben, festzustellen, dass gemäß § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist, sowie dem Beschwerdeführer gemäß § 55 Abs 1 AsylG den Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten zu erteilen.

3.12 Ein gesonderter Abspruch über Spruchpunkt V des angefochtenen Bescheides des BFA, mit welchem der Beschwerde ursprünglich die aufschiebende Wirkung abgesprochen worden war, konnte im gegenständlichen Fall unterbleiben, da bereits mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.07.2020, L516 2233287-1/2Z, der Beschwerde gemäß § 18 Abs 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt wurde, womit dem Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers Rechnung getragen wurde.

Zu B)

Revision

3.13 Die ordentliche Revision ist nicht zulässig, da die für den vorliegenden Fall relevante Rechtslage durch die zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geklärt ist.

3.14 Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung plus Aufenthaltsdauer Deutschkenntnisse ersatzlose Teilbehebung Erwerbstätigkeit Geringfügigkeitsgrenze Integration Interessenabwägung Kindeswohl Privat- und Familienleben private Interessen Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig staatenlos strafrechtliche Verurteilung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:L516.2233287.1.01

Im RIS seit

28.01.2021

Zuletzt aktualisiert am

28.01.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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