RS Vfgh 2020/12/10 E2281/2020

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Veröffentlicht am 10.12.2020
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Index

16/02 Rundfunk

Norm

EMRK Art10
BVG-Rundfunk ArtI Abs2
ORF-G §4 Abs5 Z2 und Z3, §10 Abs7
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Verstoß gegen das Recht auf Meinungsäußerungs- und Rundfunkfreiheit mangels Verletzung der "Distanzierungspflicht" des ORF durch eine Moderatorin wegen Bezeichnung eines Parteiobmanns als "plemplem" durch einen Politikwissenschaftler bei einer Sachanalyse in der ZIB 2; keine Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit durch die – im Sachzusammenhang mit dem Thema des Interviews ergangene – Meinungsäußerung des vom ORF unabhängigen Politikwissenschaftlers

Rechtssatz

Das allgemeine Objektivitätsgebot des §4 Abs5 ORF-G ist differenziert zu sehen, je nachdem, welche Stellung demjenigen, der Kommentare oder Stellungnahmen und Sachanalysen vornimmt, in Bezug auf den ORF. Erfolgt ein Kommentar oder eine Stellungnahme bzw Sachanalyse von einer Person, die von den Sendungsverantwortlichen zu einer solchen Beurteilung in der Sendung eingeladen wird, die aber selbst in die redaktionelle Verantwortung nicht eingebunden ist, also in diesem Sinn von einem vom ORF unabhängigen Dritten, so bemisst sich die (Auswahl-)Verantwortung des ORF gemäß §4 Abs5 Z2 ORF-G insbesondere unter Vielfaltsgesichtspunkten. Handelt es sich demgegenüber um unmittelbar dem ORF zuzurechnende, weil redaktionell verantwortliche Personen, trifft den ORF insbesondere die (Inhalts-)Verantwortung nach §4 Abs5 Z3 ORF-G. Dabei kommt es auf die Beurteilung der jeweils in Rede stehenden Äußerungen in ihrem Gesamtzusammenhang im Hinblick auf Art und Inhalt der betreffenden Sendung und das Thema an, zu dem im Konkreten Kommentar und Sachanalyse erfolgen, wobei die durch Art10 EMRK geschützte journalistische Gestaltungs- und Meinungsäußerungsfreiheit immer zu berücksichtigen ist.

Unstrittig ist, dass es sich bei *** nicht um einen journalistischen Mitarbeiter des ORF handelt, der in die Redaktion der Nachrichtensendung "ZIB 2" eingebunden ist und für diese Sendung oder für die damit in Zusammenhang stehende Sendung "Sommergespräche" redaktionelle Verantwortung trägt.

Ausschlaggebend dafür, ob die beanstandeten Äußerungen von *** am Maßstab der Z2 oder der Z3 des §4 Abs5 ORF-G zu messen sind, ist zunächst allein der Umstand, dass dieser nicht in den Redaktionszusammenhang der einschlägigen Sendungen eingebunden ist und er an der redaktionellen Gestaltung der Sendungen nicht mitwirkt. Er ist Gast in der Sendung und Interviewpartner der "ZIB 2"-Moderatorin.

Anders als das BVwG annimmt, handelt es sich daher bei den Äußerungen von *** in der in Rede stehenden Sendung nicht um "eigene" Kommentare oder Sachanalysen des ORF (§4 Abs5 Z3 ORF-G), sondern der ORF kommt mit der Einladung von *** in die Sendung seiner Aufgabe der Vermittlung von für die Allgemeinheit wesentlichen Kommentaren, Standpunkten und kritischen Stellungnahmen iSd §4 Abs5 Z2 ORF-G nach.

Die Äußerungen und Beurteilungen, die *** im hier einschlägigen Zusammenhang in der Nachrichtensendung getätigt hat, sind daher inhaltlich grundsätzlich nicht dem ORF, sondern ihm selbst zuzurechnen. Der VfGH hat im vorliegenden Verfahren somit ausschließlich die vom BVwG angenommene Verletzung von Bestimmungen des ORF-G durch den ORF zu beurteilen. Dieser Verstoß des ORF liegt nach Auffassung des BVwG darin, dass die in der Sendung getätigte Äußerung von *** die nach §10 Abs7 ORF-G gebotene sachliche Form und den gebotenen Sachzusammenhang zum Thema der Sendung nicht gewahrt hätte und die Moderatorin ihrer Distanzierungspflicht nach §4 Abs5 Z3 ORF-G nicht nachgekommen wäre.

Im Hinblick auf §4 Abs5 Z2 ORF-G trifft den ORF für die Äußerungen von *** in der hier vorliegenden Sendung insbesondere, wie oben dargelegt, eine (Auswahl-)Verantwortung im Hinblick auf eine angemessene Berücksichtigung der Vielfalt der im öffentlichen Leben vertretenen Meinungen, wenn er ihm eine zwar nicht alleinige, aber doch qualifizierte Deutungshoheit über Geschehnisse aus politikwissenschaftlicher Sicht zuerkennt und anvertraut. Dabei können etwa vertragliche Bindungen zur Sicherung der Unparteilichkeit des Experten ebenso eine Rolle spielen, wie es entscheidend auf den Gesamtzusammenhang der einschlägigen Sendungen des ORF insgesamt ankommt.

Eine gewisse inhaltliche, unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Objektivitätsgebotes des §4 Abs5 ORF-G wahrzunehmende Verantwortung für Kommentare und Stellungnahmen durch Dritte im Sinne des §4 Abs5 Z2 ORF-G trifft den ORF aber insoweit, als gemäß §10 Abs1 ORF-G alle Sendungen, mithin auch Kommentare und Stellungnahmen gemäß §4 Abs5 Z2 ORF-G, die Menschenwürde und die Grundrechte anderer zu achten haben (vgl auch §10 Abs6 ORF-G). Weiters stellt §10 Abs7 ORF-G an Kommentare und Analysen, somit auch an entsprechende Expertenstellungnahmen iSd §4 Abs5 Z2 ORF-G, wie im vorliegenden Zusammenhang durch ***, gewisse Anforderungen an die Sachlichkeit und nachvollziehbare Tatsachenbasiertheit.

Indem das BVwG die beanstandete Äußerung des *** als eine Verletzung des Gebotes der Sachlichkeit und Objektivität, für das der ORF einzustehen hätte, qualifiziert, unterstellt es den einschlägigen Bestimmungen des ORF-G aber einen mit den für die Auslegung dieser Regelungen maßgeblichen Schranken des Art10 EMRK nicht zu vereinbarenden Inhalt. Die beanstandete Meinungsäußerung findet im Gesamtzusammenhang des Themas des Interviews und in dem das Thema mitbestimmenden vorangegangenen "Sommergespräch" eine Grundlage, die der Beurteilung des Experten ein nachvollziehbares Sachsubstrat bietet, und die verwendete Formulierung wahrt die Grenzen des §10 Abs1 und Abs6 ORF-G iVm Art10 Abs2 EMRK:

Das Thema, das durch die Sendung "Sommergespräche" für die nachfolgende Analyse durch den Politikwissenschafter in der Sendung "ZIB 2" aufgespannt wird, beinhaltet nicht nur das konkrete, von einer ORF-Journalistin mit *** im Zuge der "Sommergespräche" geführte Interview als solches, sondern schließt den Gesamtkontext der politischen Tätigkeit der von *** geführten, im Nationalrat vertretenen politischen Partei, ihre bisherige politische Entwicklung und das zukünftige Konzept ebenso mit ein. Wenn sich ein Spitzenpolitiker wie hier der Obmann einer (zum damaligen Zeitpunkt) im Parlament vertretenen Partei einer, nicht auf einen konkreten Anlass bezogenen, politischen Diskussion wie in den "Sommergesprächen" stellt, dann werden damit der Gesamtkontext der politischen Tätigkeit der von ihm geführten politischen Partei, ihre bisherige politische Entwicklung und das zukünftige Konzept dieser Partei ebenso zum Thema gemacht wie die politische Bedeutung des Parteiobmannes und die öffentliche Wahrnehmung seiner Funktion.

Angesichts der im Zuge seiner Beurteilung von *** mehrfach thematisierten, im Einzelnen zumindest schwer nachvollziehbaren Aussagen des Parteiobmannes bezieht sich die Äußerung "plemplem" deutlich auf diesen in der Analyse thematisierten Eindruck einer gewissen "Verwirrtheit" des Parteiobmannes. Sie erfolgt damit im Sachzusammenhang mit dem Thema des Interviews und zielt auf die politische Funktion und deren Wahrnehmung durch den Politiker und nicht etwa losgelöst davon auf die unmittelbare Privat- oder Persönlichkeitssphäre des ***. Gibt der Politiker durch sein Verhalten und seine Äußerungen dazu Anlass, muss es der entsprechenden Beurteilung im Interesse jenes freien öffentlichen Diskurses, den Art10 EMRK gewährleistet, auch möglich sein, darauf hinzuweisen, "dass der Kaiser nackt ist".

Angesichts der Maßstäbe, die ein in der Öffentlichkeit stehender Spitzenpolitiker an öffentlicher Auseinandersetzung und, auch in scharfer, polemischer und angriffiger Form vorgetragener, Kritik gegen sich gelten lassen muss, bleibt die für sich pointierte und polemische Wortwahl im Gesamtzusammenhang innerhalb dessen, was im Rahmen einer Stellungnahme wie der von *** im vorliegenden Zusammenhang gegenüber einem Politiker nach Art10 EMRK zulässig ist.

Grundsätzlich besteht, wie der EGMR bereits mehrfach festgehalten hat, keine Verpflichtung eines Journalisten, sich vom Inhalt einer Äußerung eines Dritten, die er in Form einer Stellungnahme oder eines Zitates wiedergibt oder die er in einer Interviewsituation als Antwort erhält, in dem Sinn "zu distanzieren", dass der Journalist Aussagen des Dritten bzw seines Gegenübers relativieren müsste, weil sie "verletzen, schockieren oder beunruhigen". Auch nach dem spezifisch für den ORF geltenden Objektivitätsgebot des §4 Abs5 Z3 ORF-G ist ein journalistischer Mitarbeiter, etwa eine Moderatorin einer Nachrichtensendung wie im vorliegenden Zusammenhang, nicht gehalten, Aussagen ihres Interviewpartners über Dritte laufend zu bewerten und gegebenenfalls zu relativieren.

Eine Reaktionsnotwendigkeit kann sich aus dem Objektivitätsgebot des §4 Abs5 ORF-G nur in besonderen Konstellationen ergeben. So etwa im Hinblick auf das Gebot der angemessenen Berücksichtigung der Vielfalt der im öffentlichen Leben vertretenen Meinungen iSd §4 Abs5 Z2 ORF-G, wenn angesichts der Zusammensetzung etwa einer Gesprächsrunde in einer Sendung oder auch eines Einzelinterviews darauf hinzuweisen ist, dass Dritte, über die entsprechend wertende Aussagen abgegeben werden, nicht anwesend sind und daher nicht reagieren können. Erforderlich ist eine solche Reaktion freilich nur dann, wenn nicht davon auszugehen ist, dass den Betroffenen eine entsprechende Darstellung ihrer Sichtweise und damit eine vergleichbar öffentliche Reaktion ohnehin möglich ist. Solches ist bei einem Spitzenpolitiker, der in der öffentlichen medialen Aufmerksamkeit steht und diese auch regelmäßig sucht, von vorneherein anzunehmen.

Selbst wenn man die in Rede stehende Äußerung des *** als Verstoß des ORF gegen §4 Abs5 iVm §10 Abs7 ORF-G sehen wollte, weil die Anforderungen an die faktenbasierte Nachvollziehbarkeit oder die Grenzen auch kritischer Wortwahl bei einer Sachanalyse nicht eingehalten wären, liegt bei den hier in Rede stehenden Äußerungen jedenfalls kein Fall vor, der den in einer entsprechenden Reaktionspflicht liegenden Eingriff in die journalistische Gestaltungsfreiheit des ORF und seiner Moderatorin im Lichte des Art10 Abs2 EMRK rechtfertigen würde.

Diese im Lichte des Art10 EMRK relevanten Zusammenhänge hat das BVwG verkannt, wenn es von einer unverzüglichen Reaktionspflicht der Moderatorin auf Äußerungen ihres Interviewpartners ausgegangen ist, die nach seiner Ansicht nicht im Einklang mit dem Gebot des §10 Abs7 ORF-G stünden. Es hat insofern dem von ihm herangezogenen §4 Abs5 Z3 iVm §10 Abs7 ORF-G einen mit der durch Art10 EMRK geschützten Rundfunkfreiheit, insbesondere der journalistischen Gestaltungsfreiheit des ORF, nicht zu vereinbarenden Inhalt unterstellt.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Medienrecht, Meinungsäußerungsfreiheit, Rundfunkfreiheit, Objektivitätsgebot, Partei politische, Ehrenbeleidigung, Auslegung verfassungskonforme

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:E2281.2020

Zuletzt aktualisiert am

06.04.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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