TE Vwgh Erkenntnis 2020/10/6 Ra 2019/19/0332

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Veröffentlicht am 06.10.2020
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
19/05 Menschenrechte
20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

ABGB §138 Z9
AsylG 2005 §2 Abs3
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs3 idF 2009/I/122
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs1
BFA-VG 2014 §9 Abs2
B-VG Art7 Abs1
FrPolG 2005 §52
FrPolG 2005 §52 Abs3
FrPolG 2005 §52 Abs9
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs2 Z2
FrPolG 2005 §53 Abs2 Z3
MRK Art8
MRK Art8 Abs2

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens, die Hofräte Dr. Pürgy und Mag. Stickler sowie die Hofrätin Dr.in Lachmayer und den Hofrat Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des M R, vertreten durch Dr. Mario Züger, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Seilergasse 16, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Juli 2019, W133 2205217-1/15E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) zu Recht erkannt:

Spruch

I. Die Revision wird, insoweit sie sich gegen die Aberkennung des Status des Asylberechtigten und die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten richtet, zurückgewiesen.

II. Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein im Jahr 1984 geborener Staatsangehöriger Afghanistans, reiste am 4. Oktober 1994 mit seinem Vater und seinen fünf Brüdern illegal nach Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Vater verließ kurz danach Österreich, seine Söhne blieben zurück. Der Revisionswerber verfügte in den Jahren 1996 bis 2000 über jeweils befristete Aufenthaltstitel. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 9. Juni 2000 wurde dem Revisionswerber Asyl gewährt und festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

2        Im Jahr 2010 heiratete der Revisionswerber eine Staatsangehörige Afghanistans, die im Jahr 2011 nach Österreich kam. Sie verfügt über einen eigenen Aufenthaltstitel in Form einer befristeten Rot-Weiß-Rot-Karte Plus. Mit seiner Ehefrau hat der Revisionswerber vier Kinder, die in den Jahren 2013 bis 2018 in Österreich geboren wurden und ebenfalls über eine befristete Aufenthaltserlaubnis (Rot-Weiß-Rot-Karte Plus) verfügen. Im Übrigen leben noch zwei Brüder des Revisionswerbers in Österreich.

3        Der Revisionswerber wurde in den Jahren 2006 bis 2011 insgesamt sechsmal wegen verschiedener Delikte (u.a. Sachbeschädigung, Raufhandel, Diebstahl, sittliche Gefährdung von Personen unter 16 Jahren, Körperverletzung) verurteilt, wobei jedes Mal eine bedingte Haftstrafe verhängt wurde. Diese Verurteilungen sind bereits getilgt. Im Jahr 2018 wurde der Revisionswerber wegen §§ 107b Abs. 1, 107 Abs. 1 StGB (fortgesetzte Gewaltausübung und gefährliche Drohung) wegen vorsätzlich begangener strafbarer Handlungen zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt, weil er über längere Zeit hindurch fortgesetzte Gewalt gegenüber seiner Ehefrau ausgeübt hatte. Aufgrund dieser Gewaltausübungen wurde zweimal ein Betretungsverbot verhängt; die Ehefrau befand sich auch einmal in einem Frauenhaus.

4        Mit Bescheid vom 22. August 2018 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) dem Revisionswerber den Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 (iVm Art. 1 Abschnitt C Z5 GFK) ab und stellte fest, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme. Es erkannte ihm den Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zu, erteilte keinen Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005 und erließ eine Rückkehrentscheidung. Die Zulässigkeit der Abschiebung wurde festgestellt und die Frist zur freiwilligen Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt. Zudem wurde ein Einreiseverbot für die Dauer von sieben Jahren verhängt und der Konventionsreisepass entzogen.

5        Dagegen erhob der Revisionswerber fristgerecht Beschwerde. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wurde die Ehefrau des Revisionswerbers als Zeugin einvernommen. Das BVwG wies die Beschwerde als unbegründet ab. Beweiswürdigend führte es aus, die Asylgewährung an den damals minderjährigen Revisionswerber habe darauf beruht, dass der Aufenthalt seiner Eltern zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht bekannt gewesen sei sowie auf den Angaben im Asylverfahren, dass sein Vater aufgrund seiner ehemaligen beruflichen Tätigkeit einer Verfolgung durch die Mudjaheddins ausgesetzt gewesen sei. In weiterer Folge habe sich jedoch herausgestellt, dass der Vater des Revisionswerbers nach Afghanistan zurückgekehrt sei. Dem Revisionswerber sei es während des Aberkennungsverfahrens nicht gelungen, glaubhaft zu machen, dass ihm nach wie vor Verfolgung in Afghanistan drohen würde. Er habe auf die Frage, warum er Afghanistan damals verlassen habe, lediglich angegeben, dass man diesbezüglich seinen Vater fragen müsse. Weiters habe er ausgeführt, dass sein Vater vor Jahren in Kabul eines natürlichen Todes gestorben sei.

6        Die Situation in Afghanistan in Bezug auf das verfahrensrelevante Vorbringen, der Vater des Revisionswerbers sei aufgrund seiner ehemaligen beruflichen Tätigkeit von den Mudjaheddins verfolgt worden, habe sich in den vergangenen Jahren nachhaltig geändert. Aus der Berichtslage lasse sich für Afghanen im Hinblick auf einen langen Aufenthalt in Europa und einer damit zusammenhängenden „Verwestlichung“ allgemein keine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eintretende Verfolgungsgefahr bzw. Diskriminierungsgefahr von asylrelevanter Intensität ableiten. Das BFA habe zu Recht einen Wegfall der Umstände, die seinerzeit zur Asylgewährung geführt hätten, angenommen. Andere Asylgründe seien nicht hervorgekommen.

7        § 7 Abs. 3 AsylG 2005, wonach das BFA einem Fremden den Status des Asylberechtigten nach Abs. 1 Z 2 nicht mehr aberkennen könne, wenn die Aberkennung nicht innerhalb von fünf Jahren nach Zuerkennung erfolge, stehe der Aberkennung des Status des Asylberechtigten fallgegenständlich nicht entgegen, weil der Revisionswerber im vorliegenden Fall straffällig im Sinne von § 2 Abs. 3 AsylG 2005 geworden sei.

8        Der Revisionswerber könne zwar nicht nach Kabul, seinen Heimatort, zurückkehren, weil ihm dort eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde, er habe aber eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative (IFA) in den Städten Mazar-e Sharif und Herat. Beim Revisionswerber handle es sich um einen gesunden, erwachsenen und arbeitsfähigen Mann, der über Schulbildung und reichlich Arbeitserfahrung (zum Beispiel als Koch und Taxifahrer) verfüge und bei dem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne.

9        Der Revisionswerber sei in Afghanistan geboren und mit zehn Jahren nach Österreich gekommen. Er sei mit seinen Brüdern aufgewachsen. Aus seiner Eheschließung sei erkennbar, dass er sich nach wie vor den traditionellen afghanischen Werten verbunden fühle. Der Revisionswerber spreche zuhause Dari, seine Frau würde Paschtu sprechen. Es sei daher davon auszugehen, dass der Revisionswerber die Landessprache beherrsche und auch mit den kulturellen Gepflogenheiten in Afghanistan nach wie vor vertraut sei. Zur Erleichterung seiner Rückkehr könnte der Revisionswerber zudem eine finanzielle Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen, die zumindest in der ersten Zeit als Überbrückung dienen könne, bis er eine Arbeit gefunden habe. Er könne anfangs auch Unterstützung von seinen Schwiegereltern, welche sich in Afghanistan aufhielten und zu denen er Kontakt habe, erhalten. Zudem könne er auch Unterstützung von seinen zahlreichen, in Europa lebenden Verwandten erhalten.

10       Auch wenn eine Rückführung zu einer schwierigen Lebenssituation bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht führen könne, werde damit aber entsprechend der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs noch nicht die reale Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse und somit eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Bezug auf Mazar-e Sharif dargetan.

11       Hinsichtlich der Rückkehrentscheidung führte das BVwG aus, dass im vorliegenden Fall nicht zuletzt wegen der sehr langen Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers von rund 25 Jahren und dem Vorhandensein von vier Kindern, der Ehepartnerin und von zwei Brüdern von einem bestehenden Privat- und Familienleben des Revisionswerbers in Österreich auszugehen sei. Die Rückkehrentscheidung stelle somit einen starken Eingriff in das Familien- und Privatleben des Revisionswerbers dar. Die gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK gebotene Abwägung falle jedoch nach Ansicht des BVwG in Übereinstimmung mit dem BFA zu Lasten des Revisionswerbers aus.

12       Der Revisionswerber lebe in Österreich mit seinen vier Kindern und seiner Ehefrau im gemeinsamen Haushalt. Er habe im Jänner 2010 nach muslimischem Recht seine Ehefrau geheiratet, es handle sich dabei um eine arrangierte, jedoch um keine Zwangsehe. Die Ehefrau des Revisionswerbers sei im Jahr 2011 in der Folge legal nach Österreich eingereist. Vor dem Zeitpunkt der Einreise habe keinerlei Familienleben zwischen den beiden bestanden. Zwischen dem Zeitpunkt der Eheschließung und der Einreise der Ehefrau sei der Revisionswerber wegen eines Vorfalles in einem Freibad im Juli 2010 in Österreich zur Anzeige gebracht und in der Folge im März 2011 für diese Tat wegen sittlicher Gefährdung von Personen unter 16 Jahren auch strafgerichtlich verurteilt worden. Diese Vorstrafe sei zum Entscheidungszeitpunkt zwar getilgt; dieser Ablauf zeige aber deutlich auf, in welcher Form der Revisionswerber sich trotz erfolgter Eheschließung in Österreich verhalten habe. Der Ehefrau sei eine Verurteilung des Revisionswerbers wegen eines Sexualdeliktes auch noch im Zuge der Verhandlung im Juli 2019 nicht bekannt gewesen.

13       Aus der Verurteilung des Revisionswerbers im Jahr 2018 ergebe sich zudem, dass er bereits vier Monate nach dem Umzug seiner Ehefrau nach Österreich im Jahr 2011 begonnen habe, sie im Zuge von Streitigkeiten wiederholt zu misshandeln. In der mündlichen Verhandlung sei beim erkennenden Gericht der Eindruck entstanden, dass die Ehefrau des Revisionswerbers von diesem massiv unter Druck gesetzt werde. Sie habe in der Verhandlung versucht darzulegen, dass sie nunmehr ein gutes Verhältnis zum Revisionswerber habe, doch sei der Eindruck entstanden, dass sie diese Aussagen nur tätigte, weil sie Angst vor ihm gehabt habe. Nach der Beurteilung des BVwG handle es sich beim Revisionswerber um einen Mann, von welchem eine hohe Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit, vor allem in Bezug auf strafbare Handlungen gegenüber Frauen (insbesondere gegenüber seiner eigenen Ehefrau), ausgehe. Die kriminelle Vergangenheit des Revisionswerbers sei seiner Ehefrau nur rudimentär bekannt. Über seine Verurteilung im Jahr 2010 wegen sittlicher Gefährdung von Personen unter 16 Jahren sei ihr nichts bekannt gewesen, wobei diesem Umstand deshalb besondere Bedeutung zukomme, als sich in der Familie zwei minderjährige heranwachsende Mädchen befänden, die aktuell erst fünf und zwei Jahre alt seien.

14       Die Ehefrau und die Kinder des Revisionswerbers seien weder von diesem abhängig, noch stehe er zu seiner Familie in einem Abhängigkeitsverhältnis. Die Frau und die Kinder verfügten über eigene Aufenthaltsberechtigungen in Österreich. Die Ehefrau bemühe sich zudem nach ihren eigenen Angaben in der Verhandlung bereits um einen unbefristeten Aufenthaltstitel für sich und die Kinder in Österreich.

15       Es stehe der Ehefrau und den Kindern frei, den Revisionswerber in Afghanistan - zumindest gelegentlich - zu besuchen. Es erscheine dem Revisionswerber weiters zumutbar, den Kontakt - abgesehen von Besuchen seitens seiner Familie in Afghanistan oder einem benachbarten Land - durch elektronische Medien (z.B. Skype), Briefe und Telefon aufrecht zu erhalten.

16       Beim Revisionswerber handle es sich um eine Person, welche im Laufe des Aufenthaltes in Österreich umfassende erhebliche kriminelle Energie gezeigt habe. Trotz der mehrfachen Verurteilungen bestünden auch noch zum Entscheidungszeitpunkt kein Unrechtsbewusstsein oder aufrichtige Reue des Revisionswerbers.

17       Der Revisionswerber sei zwar immer wieder berufstätig gewesen, habe aber auch wiederholt Notstandshilfe/Überbrückungshilfe und Arbeitslosengeld bezogen. Derzeit beziehe er ebenfalls wieder Arbeitslosengeld.

18       Der Aufenthalt des Revisionswerbers im Bundesgebiet gefährde die öffentliche Ordnung und Sicherheit in erheblichem Ausmaß. Es bestehe ein großes öffentliches Interesse an der Verhinderung seines weiteren Aufenthaltes in Österreich.

19       Bezüglich des Einreiseverbotes führte das BVwG aus, dass die Erlassung des Einreiseverbotes zur Verhinderung weiterer strafbarer Handlungen, somit zur Erreichung von im Art 8 Abs. 2 EMRK genannten Zielen, dringend geboten sei. Die öffentlichen Interessen würden die privaten Interessen des Revisionswerbers überwiegen. Das Ausmaß von sieben Jahren stehe im Vergleich zur grundsätzlich zulässigen Höchstdauer von zehn Jahren, zum dargestellten Gesamtfehlverhalten des Revisionswerbers und der vorgenommenen Gefährdungsprognose in angemessener Relation.

20       Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit vorbringt, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, ob die mit dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2009 eingeführte Bestimmung in § 7 Abs. 3 AsylG 2005, dass bei Straffälligkeit im Sinne des § 2 Abs. 3 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten auch nach Ablauf von fünf Jahren aberkannt werden könne, rückwirkend auch auf alle Fälle angewandt werden dürfe, in denen im Zeitpunkt der mit demFremdenrechtsänderungsgesetz 2009 eingeführten Einschränkung die Fünfjahresfrist bereits abgelaufen sei und ein berechtigtes Vertrauen auf eine geschützte Rechtsposition bestanden habe.

21       Weiters sei das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es sich bei der Annahme der IFA nicht ausreichend mit den persönlichen Umständen des Revisionswerbers auseinandergesetzt habe. Insbesondere habe das BVwG nicht ausreichend berücksichtigt, dass der Revisionswerber seit seinem zehnten Lebensjahr in Österreich lebe und ohne Eltern aufgewachsen sei, in Österreich sozialisiert worden sei und aufgrund seines 25-jährigen Aufenthaltes im Bundesgebiet mit den kulturellen Gepflogenheiten im Herkunftsstaat Afghanistan nicht vertraut sei.

22       Zudem sei bei Erlassung der Rückkehrentscheidung eine unvertretbare Interessenabwägung erfolgt. Der Revisionswerber sei seit 25 Jahren rechtmäßig in Österreich aufhältig und habe den Großteil seines Lebens in Österreich verbracht. Er habe ein Familienleben mit Frau und vier (Klein-)Kindern aufgebaut; das strafrechtliche Fehlverhalten sei unverhältnismäßig gewichtet worden.

23       Hinsichtlich des Einreiseverbotes bringt die Revision vor, dass die Gefährdungsprognose und die Bemessung des Einreiseverbotes in unvertretbarer Weise erfolgt seien.

24       Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, erwogen:

25       Die Revision ist teilweise zulässig und begründet.

Zu I.:

26       Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

27       Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

28       Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

29       Gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 ist der Status eines Asylberechtigten einem Fremden von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn einer der in Art. 1 Abschnitt C der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Endigungsgründe eingetreten ist. Darunter fällt auch der Wegfall der Umstände, auf Grund deren ein Fremder als Flüchtling anerkannt worden ist (Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK). Gemäß § 7 Abs. 3 AsylG 2005 (in der Fassung seit dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2009, BGBl. Nr. 122/2009) kann einem Fremden, der straffällig iSd § 2 Abs. 3 AsylG 2005 geworden ist, der Status des Asylberechtigten nach § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 auch nach Ablauf einer Frist von fünf Jahren nach Zuerkennung aberkannt werden.

30       Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das BVwG, wenn es in der Sache selbst entscheidet, die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Entscheidung zugrunde zu legen (vgl. etwa VwGH 21.5.2019, Ra 2019/14/0222, mwN). Im Zeitpunkt der Aberkennung des Status des Asylberechtigten des Revisionswerbers war § 7 Abs. 3 AsylG 2005 unstrittig in Geltung. Das BVwG ist daher zu Recht davon ausgegangen, dass eine Aberkennung in Hinblick auf die Straffälligkeit des Revisionswerbers auch nach Ablauf der 5-Jahresfrist möglich war.

31       Der Verfassungsgerichtshof judiziert in ständiger Rechtsprechung, dass ein Schutz auf das Vertrauen in einen unveränderten Fortbestand der gegebenen Rechtslage verfassungsrechtlich nicht gegeben sei (vgl. VfGH 9.10.2017, E 2536/2016, mwN).

32       Die Revision bringt nicht vor, dass die Annahme des BVwG, es sei zu einem Wegfall jener Umstände gekommen, die seinerzeit zur Asylgewährung geführt haben, fehlerhaft gewesen sei. Im Bezug auf die Aberkennung des Status eines Asylberechtigten wird daher keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung aufgezeigt.

33       Im Hinblick auf die Nichtgewährung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten bringt die Revision vor, das BVwG habe sich bei der Annahme der IFA in Mazar-e Sharif oder Herat nicht ausreichend mit den persönlichen Umständen des Revisionswerbers auseinandergesetzt.

34       Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung dargelegt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren IFA sprechen zu können. Demzufolge reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der IFA nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Die Frage der Zumutbarkeit der IFA stellt letztlich eine - von der Asylbehörde bzw. dem Verwaltungsgericht zu treffende - Entscheidung im Einzelfall dar, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit zu treffen ist (vgl. etwa VwGH 23.10.2019, Ra 2019/01/0400, mwN).

35       Nach den Feststellungen des BVwG handelt es sich bei dem Revisionswerber um einen jungen, gesunden Mann, der in Afghanistan geboren wurde und im Alter von zehn Jahren nach Österreich gekommen ist. Er sei im erwerbsfähigen Alter, spreche zu Hause mit seinen Kindern Dari und mit seiner Frau Pashtu, beherrsche daher die Landessprachen und verfüge über Schulbildung und Berufserfahrung. Er könne auf die Unterstützung seiner in Afghanistan lebenden Schwiegereltern zurückgreifen sowie Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen. Vor diesem Hintergrund vermag die Revision nicht aufzuzeigen, dass die Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichts unvertretbar erfolgt wäre.

36       Soweit die Revision in diesem Zusammenhang vorbringt, das BVwG habe nicht berücksichtigt, dass der Revisionswerber in Österreich ohne Eltern aufgewachsen sei, in Österreich sozialisiert worden und daher mit den kulturellen Gepflogenheiten in Afghanistan nicht vertraut sei, ist darauf zu verweisen, dass das BVwG festgestellt hat, dass der Revisionswerber mit seinen Brüdern aufgewachsen sei, weiterhin einen afghanischen Freundeskreis habe, sowie eine afghanische Frau geheiratet habe, die bis zum Jahr 2011 in Afghanistan gelebt habe. Dass das BVwG aufgrund dieser in der Revision nicht bestrittenen Umstände davon ausgegangen ist, dass der Revisionswerber mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut sei, begegnet keinen vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Bedenken.

37       Soweit die Revision vorbringt, es fehle Rechtsprechung, ob die Verweisung einer Person, die seit ihrem zehnten Lebensjahr ohne Eltern in Österreich lebe und hier sozialisiert worden sei und in den Städten Mazar-e Sharif und Herat über keine familiären Anknüpfungspunkte verfüge, auf eine IFA zumutbar sei, ist auf die zur selben Berichtslage ergangene Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, dass für einen alleinstehenden, gesunden, erwachsenen Mann ohne besondere Vulnerabilität die Existenz eines sozialen Netzwerkes in Mazar-e Shariffür die Verfügbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht erforderlich ist (vgl. VwGH 15.4.2020, Ra 2019/20/0340). Allein die Tatsache, dass ein Asylwerber in seinem Herkunftsstaat über keine familiären Kontakte verfügt, hindert die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht, und zwar selbst dann, wenn er nicht in Afghanistan geboren wurde, dort nie gelebt und keine Angehörigen in Afghanistan hat (vgl. VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160, zu einem im Iran Geborenen; 30.12.2019, Ra 2019/18/0241 und 26.6.2020, Ra 2020/14/0249, zu einem in Pakistan Geborenen).

38       Auch in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten wird daher in der Revision keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen.

Zu II:

39       Zulässig und begründet ist die Revision jedoch mit ihrem Vorbringen zur Rückkehrentscheidung.

40       Die in der vorliegenden Rechtssache durch das BVwG in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. etwa VwGH 30.7.2020, Ra 2020/20/0130, mwN).

41       Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 2.9.2019, Ra 2019/20/0407 bis 0408, mwN).

42       Die Revision bringt vor, dass das strafrechtliche Fehlverhalten des Revisionswerbers in unverhältnismäßiger Weise gewichtet worden sei, weil er bereits seit 25 Jahren in Österreich rechtmäßig aufhältig sei und sich ein Familienleben aufgebaut habe.

43       Das BVwG hat in der Interessenabwägung die für den Revisionswerber sprechenden Umstände (gute Deutschkenntnisse, Schulbesuch im Inland, Berufstätigkeit in Österreich, lange Aufenthaltsdauer, Familienleben) mit den gegen ihn sprechenden Umständen (Straffälligkeit, fallweiser Bezug von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe) abgewogen und ist zum Schluss gekommen, dass die öffentlichen Interessen an einer Außerlandesbringung die privaten Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib im Inland überwiegen würden.

44       Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. etwa VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0282, Rn. 12, mwN).

45       Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes führt allerdings auch ein mehr als zehnjähriger Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend zu einem Überwiegen des persönlichen Interesses, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (vgl. VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005).

46       Insbesondere strafrechtliche Verurteilungen stellen derartige Umstände dar, die die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland und eine erfolgte Integration relativieren können, wobei in dem Zusammenhang auch länger zurückliegende Straftaten berücksichtigt werden können (vgl. VwGH 16.7.2020, Ra 2020/21/0113). Auch eine bereits erfolgte Tilgung von Straftaten führt entgegen der Annahme in der Revision nicht dazu, dass die Straffälligkeit eines Fremden bei der Abwägung gemäß Art. 8 EMRK nicht berücksichtigt werden dürfe, insbesondere wenn zu getilgten Strafen noch ungetilgte Straftaten hinzukommen (vgl. etwa VwGH 22.2.2011, 2010/18/0073; 18.12.1998, 97/19/0858). Das BVwG durfte somit das gesamte straffällige Verhalten des Revisionswerbers in seine Abwägung miteinbeziehen.

47       Das BVwG durfte in seiner Interessenabwägung zudem berücksichtigen, dass das strafbare - gewalttätige - Verhalten des Revisionswerbers sich gegen seine Ehefrau gerichtet hatte, wodurch der Eingriff in das Familienleben mit ihr stark relativiert wird (VwGH 6.7.2010, 2010/22/0096).

48       Das BVwG hat allerdings nicht hinreichend darauf Bedacht genommen, dass der vorliegende Fall durch eine besonders lange und nahezu durchgehend rechtmäßige Aufenthaltsdauer von 25 Jahren gekennzeichnet ist. Zudem ist die Revision im Recht, wenn sie moniert, dass das Kindeswohl nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Das BVwG führt selbst an, dass es ein aufrechtes Familienleben mit den Kindern gebe und die Ehefrau des Revisionswerbers in der mündlichen Verhandlung angegeben habe, dass das Verhältnis der Kinder zum Vater gut sei.

49       Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung betont (vgl. VwGH 26.2.2020, Ra 2019/18/0456, mwN). Ein Kind hat grundsätzlich Anspruch auf „verlässliche Kontakte“ zu beiden Elternteilen (vgl. VwGH 30.4.2020, Ra 2019/21/0134 mwN).

50       In diesem Zusammenhang hat der Verwaltungsgerichtshof schon ausgesprochen, dassdie Aufrechterhaltung des Kontaktes mittels moderner Kommunikationsmittel mit einem Kleinkind, wie den jüngeren Kindern des Revisionswerbers, kaum möglich ist und dem Vater eines Kindes (und umgekehrt) grundsätzlich das Recht auf persönlichen Kontakt zukommt (VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0128). Der Verweis auf die Kontaktmöglichkeiten via Skype vermögen daher nicht dem Interesse der Kinder an einem stabilen Kontakt zum Vater Rechnung zu tragen.

51       Das BVwG setzt sich auch nicht ausreichend damit auseinander, ob es der - dann alleinstehenden - Mutter mit vier kleinen Kindern möglich und zumutbar wäre, regelmäßig nach Afghanistan oder ein Nachbarland zu fahren, um den Revisionswerber zu besuchen. Ebenso hat sich das BVwG nicht damit auseinandergesetzt, ob - angesichts des befristeten Aufenthaltstitels von Ehefrau und Kindern - das gemeinsame Familienleben in einem anderen Land als Österreich fortgesetzt werden könnte.

52       Im Ergebnis hat das BVwG seine Entscheidung mit einem relevanten Verfahrensmangel belastet, weil nicht auszuschließen ist, dass das Bundesverwaltungsgericht nach näherer fallbezogener Auseinandersetzung mit dem Kindeswohl und der langen rechtmäßigen Aufenthaltsdauer zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass das persönliche Interesse des Revisionswerbers am Verbleib im Bundesgebiet das öffentliche Interesse an der Beendigung seines unrechtmäßigen Aufenthalts überwiegt.

53       Das angefochtene Erkenntnis war daher im Umfang der Erlassung der Rückkehrentscheidung und der darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

54       Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 6. Oktober 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019190332.L00

Im RIS seit

24.11.2020

Zuletzt aktualisiert am

24.11.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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