Entscheidungsdatum
25.05.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
I414 2205279-2/5E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christan EGGER als Einzelrichter über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Algerien, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.04.2020 Zl. XXXX , zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Die im Jahr 1984 geborene Beschwerdeführerin stammt aus Algerien. Sie stellte nach rechtmäßiger Einreise in Österreich am 01.07.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Rahmen der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab sie an, Christin zu sein. Sie habe in Algerien Rechtswissenschaften studiert und in der Folge als Anwältin gearbeitet. Als Anwältin habe sie einen Eid ablegen müssen. Eines Tages habe sie sich vor ihren Arbeitskollegen unbewusst bekreuzigt. In der Folge habe sie im Jahr 2013 mit ihrem Arbeitgeber Probleme bekommen. Sie fühle sich zum Christentum hingezogen und beschäftige sich seit 2011 mit dieser Religion. In Algerien habe sie nie die Gelegenheit gehabt sich Taufen zu lassen. Christen würden in Algerien von Moslems bedroht werden. Darüber hinaus werden Christen von den Islamisten getötet. Weiters betonte die Beschwerdeführerin, dass dies ihr einziger Fluchtgrund sei.
Am 28.02.2017 wurde die Beschwerdeführerin vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen. Sie gab zunächst an, gesund, geschieden zu sein und keine Kinder zu haben. Sie sei zum Christentum konvertiert. Ende 2016 habe sie entschlossen Algerien zu verlassen. Als fluchtauslösendes Ereignis gab sie an, dass sie aufgrund ihres christlichen Glaubens Mitte 2016 Probleme gehabt habe. Aufgrund ihrer Tätigkeit als Anwältin sei ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden. Man habe aufgrund ihrer religiösen Einstellung versucht ihr einen Diebstahl zu unterstellen. Sie habe anschließen den Arbeitgeber gewechselt und sei legal nach Österreich gereist. In Österreich sei sie Mitglied der Freikirche der XXXX .
Am 16.03.2018 wurden zwei Bekannte der Beschwerdeführerin und Mitglieder der XXXX zeugenschaftlich einvernommen.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl richtete eine Anfrage an die Staatendokumentation hinsichtlich der Tätigkeit im öffentlichen Dienst als Christin. Die diesbezügliche Anfragebeantwortung langte am 19.06.2018 ein.
Am 31.07.2018 wurde die Beschwerdeführerin neuerlich vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.08.2018 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Algerien gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß §§ 55 und 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Algerien gemäß § 46 FPG 2005 zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte die belangte Behörde aus, dass die Beschwerdeführerin hinsichtlich ihrer Glaubensausrichtung keine wesentlichen Inhalte vermitteln konnte. Ferner habe die Beschwerdeführerin die XXXX in XXXX wieder verlassen. Zugleich gab die Beschwerdeführerin an, dass sie keine Probleme aufgrund ihrer Religion mit dem algerischen Staat gehabt habe. Zusammengefasst führte die belangte Behörde aus, dass das Vorbringen der Beschwerdeführerin unglaubwürdig sei.
Gegen den Bescheid erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde.
Mit Beschwerdeergänzung vom 27.12.2018 wurde als Beweis eine Taufurkunde einer Freikirche - „ XXXX Gemeinde XXXX “ - datiert mit 18.11.2018, eine Bestätigung über die Teilnahme eines Taufvorbereitungskurses der XXXX und diverse Integrationsbestätigungen sowie Fotos vorgelegt. Darüber hinaus wurde ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin aufgrund ihres religiösen Bekenntnisses in Algerien verfolgt worden sei.
Am 11.02.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit eines Dolmetschers für die arabische Sprache, der Beschwerdeführerin und ihrer Vertretung, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Dabei wurde die Beschwerdeführerin über die Gründe ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat und über ihre privaten und persönlichen Verhältnisse einvernommen. Im Rahmen der Verhandlung wurde die Beschwerdeführerin auch ausdrücklich gefragt, ob sie hinsichtlich der Fluchtgründe etwas ergänzen wolle und ob diese unverändert seien. Die Beschwerdeführerin gab dazu an, dass ihre Gründe nach wie vor dieselben seien. Sie gab ergänzend an, dass sie sich in Algerien taufen lassen wollte und ihre Religion frei ausüben habe wollen. Nun sei sie hier in Österreich getauft worden und könne ihre Religion in Freiheit ausüben.
Mit mündlich verkündeten Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11.02.2019, Zl. I409 2205279-1/9E, wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
In der Folge wurde kein Antrag auf Ausfertigung des Erkenntnisses gestellt. Das Erkenntnis erwuchs in Rechtskraft.
Am 11.03.2020 wurde die Beschwerdeführerin einer fremdenpolizeilichen Kontrolle unterzogen. In der Folge wurde gegen die Beschwerdeführerin die Schubhaft verhängt.
Am selben Tag stellte die Beschwerdeführerin aus dem Stande der Schubhaft gegenständlichen Folgeantrag auf internationalen Schutz. Im Rahmen der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab sie an, dass sie von ihren Eltern bedroht werde und sie nicht mehr nach Algerien zurückkehren wolle. Die Eltern der Beschwerdeführerin würden es ablehnen, dass sie Christin sei und sie würden die algerische Polizei darüber informieren, dass sie konvertiert sei. Die Beschwerdeführerin habe Angst von der Polizei verhaftet zu werden. Sollte sie nach Algerien abgeschoben werden, würde sie jedenfalls von der algerischen Polizei gefunden werden.
Am 24.03.2020 wurde die Beschwerdeführerin in Anwesenheit eines Dolmetschers, der Rechtsberatung durch ein Organ des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen. Sie gab an, dass sie vor fünf Jahren konvertiert und in Österreich 2018 getauft worden sei. Den christlichen Glauben habe sie in Algerien heimlich ausgeübt. Als sie Algerien verlassen habe, hätte niemand gewusst, dass sie Christin sei. Sie habe Angst vor ihrer Familie und der Polizei in Algerien. Nachdem sie erfahren habe, dass sie nach Algerien abgeschoben werden sollte, habe sie ihren Eltern erzählt, dass sie Christin sei. Daher werde sie von ihren Eltern „mündlich“ bedroht. Ihre Familie werde die algerische Polizei verständigen.
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.04.2020 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz vom 11.03.2020 hinsichtlich des Status des Asylberechtigten sowie des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 Abs 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Algerien gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.).
Begründend wurde ausgeführt, dass kein neuer entscheidungsrelevanter Sachverhalt hervorgekommen sei, zumal die Beschwerdeführerin sich auf jene Gründe stützte, die sie im bereits rechtskräftig entschiedenen vorangegangenen Verfahren vorbrachte.
Mit Verfahrensanordnung vom 04.05.2020 wurde der Beschwerdeführerin der Verein Menschrechte Österreich als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.
Mit Schriftsatz vom 20.05.2020 wurde fristgerecht Beschwerde erhoben. Begründend wird im Wesentlichen vorgebracht, dass keine entschiedene Sache vorliegen würde. Die Beschwerdeführerin sei in Österreich getauft worden und die Konversion sei den Eltern bekannt geworden, die algerische Polizei würde von diesem Umstand von den Eltern der Beschwerdeführerin informiert werden. Die von der belangten Behörde eingeholten Informationen würden das Vorbringen der Beschwerdeführerin bestätigen. Die Beschwerdeführerin als Christin sei es nicht möglich in Algerien als Rechtsanwältin zu arbeiten. Darüber hinaus wäre sie einer Verfolgung ausgesetzt. Aufgrund der Konversion zum Christentum liege ein Asylgrund vor. Insofern die Auffassung vertreten werde, dass entschiedene Sache deshalb vorliege, weil die Rechtskraft des Erstverfahrens einer neuerlichen inhaltlichen Entscheidung entgegenstehe, sei auf das Vorabentscheidungsverfahren Ro 2019/14/0006 vom 18.12.2019 verwiesen. Als Mangelhaftigkeit des Verfahrens werde geltend gemacht, dass der bevollmächtigte Vertreter nicht zur Teilnahme an der Einvernahme der Beschwerdeführerin geladen worden sei.
Mit Schriftsatz vom 08.05.2020, bei der zuständigen Gerichtsabteilung vollständig eingelangt am 25.05.2020, legte die Behörde die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die unter Punkt I. getroffenen Ausführungen werden als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:
1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin
Die volljährige Beschwerdeführerin ist geschieden, kinderlos und Staatsangehörige Algeriens.
Die Identität der Beschwerdeführerin steht fest.
Die Beschwerdeführerin leidet an keinen schweren, lebensbedrohlichen Krankheiten und ist arbeitsfähig.
Die Beschwerdeführerin verfügt über eine Schulausbildung und hat das Studium der Rechtswissenschaften in Algerien absolviert. Die Muttersprache der Beschwerdeführerin ist Arabisch, überdies spricht sie Französisch.
Die Familie der Beschwerdeführerin, bestehend aus ihrer Mutter und ihren Geschwistern, lebt in Algerien.
Die Beschwerdeführerin weist in Österreich keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher, beruflicher oder kultureller Hinsicht auf.
Die Beschwerdeführerin reiste spätestens am 01.07.2017 rechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte ihren ersten Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 01.08.2018 wurde der Asylantrag abgewiesen und eine aufenthaltsbeendende Maßnahme erlassen. Die dagegen fristgerecht erhobene Beschwerde wurde mit mündlich verkündeten Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11.02.2019 als unbegründet abgewiesen. Es wurde kein Antrag auf Ausfertigung des Erkenntnisses gestellt. Diese Entscheidung erwuchs in Rechtskraft.
In der Folge reiste die Beschwerdeführerin aus dem österreichischen Bundesgebiet aus und wurde in der Schweiz, sowie in Deutschland erkennungsdienstlich behandelt.
Aus dem Stande der Schubhaft stellte die Beschwerdeführerin am 12.03.2020 gegenständlichen Folgeantrag auf internationalen Schutz.
Zwischen rechtskräftigem Abschluss des Erstverfahrens und der Zurückweisung des gegenständlichen Folgeantrages auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache ist keine wesentliche Änderung der Sach- und Rechtslage eingetreten. Die Beschwerdeführerin brachte im gegenständlichen Asylverfahren keine entscheidungsrelevanten neuen Fluchtgründe vor, denen zumindest ein glaubhafter Kern innewohnt.
Die Beschwerdeführerin befindet sich derzeit in Schubhaft.
1.2. Zur aktuell vorliegenden Pandemie aufgrund des Corona-Virus
COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Am 25.02.2020 wird das Coronavirus in Österreich registriert. In Algerien gibt es mit Stand 14.05.2020 6.442 bestätigte Infektionen und mit Stand 15.05.2020 529 Todesfälle sowie mit Stand 15.05.2020 3.158 genesene Patienten. Im Vergleich gibt es in Österreich derzeit mit Stand 14.05.2020 16.058 bestätigte Infektionen und mit Stand 15.05.2020 626 Todesfälle sowie 14.405 genesene Patienten.
Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf.
1.3. Zu den Feststellungen zur Lage in Algerien
Hinsichtlich der aktuellen Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers sind gegenüber den im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen keine entscheidungs-maßgeblichen Änderungen eingetreten. Im angefochtenen Bescheid wurde das "Länderinformationsblatt der Staatendokumentation" zu Algerien zitiert. Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens ist auch keine Änderung bekannt geworden, sodass diese Ausführungen nicht zu beanstanden sind.
Algerien ist ein sicherer Herkunftsstaat.
Politische Lage
Letzte Änderung am 18.3.2020
Nach der Verfassung von 1996 ist Algerien eine demokratische Volksrepublik (AA 17.4.2019). Algerien, das größte Land Afrikas, gilt als wichtiger Stabilitätsanker in der Region (KAS 27.2.2019). Der Präsident wird für fünf Jahre direkt gewählt, seine Amtszeit ist seit der letzten Verfassungsreform im Jahr 2016 auf zwei Mandate begrenzt. Neben der nach Verhältniswahlrecht (mit Fünfprozent-Klausel) gewählten Nationalen Volksversammlung (Assemblée Populaire Nationale) besteht eine zweite Kammer (Conseil de la Nation oder Sénat), deren Mitglieder zu einem Drittel vom Präsidenten bestimmt und zu zwei Dritteln von den Gemeindevertretern gewählt werden. Die Gewaltenteilung ist durch die algerische Verfassung von 1996 gewährleistet, jedoch initiiert oder hinterfragt das Parlament seither selten Gesetzesvorschläge der Regierung und die Macht hat sich innerhalb der Exekutive zunehmend gefestigt. Präsident Bouteflika regierte weitgehend durch Präsidialdekret (BS 2018). Der Senatspräsident vertritt den Staatspräsidenten (AA 17.4.2019).
Algerien erlebte ab Februar 2019 die größten und nachhaltigsten Anti-Regierungsdemonstrationen seit seiner Unabhängigkeit 1962. Jeden Freitag überfluten Algerier die Straßen in der Hauptstadt Algier und anderswo, zunächst aus Protest gegen die Wiederwahl ihres viermaligen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika, der seit seinem schweren Schlaganfall 2013 nur noch selten öffentlich auftrat; dann, nach seinem Rücktritt am 2.4.2019, um den Übergang zu einer demokratischeren Regierungsführung zu fordern (HRW 14.1.2020; vgl. AA 17.4.2019, BAMF 18.2.2019). Die Proteste („Hirak“) gehen Stand Februar 2020 auch nach 5243 Wochen ungemindert weiter (Standard 18.2.2020; vgl. Standard 12.12.2019, Guardian 13.12.2019) und verlaufen meist friedlich (BAMF 25.2.2019; vgl. Standard 13.12.2019, DF 9.12.2019), dennoch setzt die Polizei Tränengas, Wasserwerfer und Schlagstöcke ein, um die Menge zu zerstreuen (BAMF 25.2.2019; vgl. TB 22.2.2019, AI 18.2.2020).
Während die Staatsführung mit behutsamen Konzessionen und vom Hirak misstrauisch beäugten Reformversprechen versucht, die Bewegung auszubremsen, geht der Sicherheitsapparat weiter mit Repressalien gegen Demonstranten und Oppositionelle vor. Fast 1.400 Hirak-Aktivisten müssen sich mittlerweile vor Gericht verantworten, mehrere hundert sitzen schon hinter Gittern (Standard 18.2.2020; vgl. AI 18.2.2020). Der konsequent friedlich agierende Hirak ist immer noch führungslos und nur partiell strukturiert. Das Regime verfolgt die Strategie des Aussitzens (Standard 18.2.2020).
Eine neue Präsidentschaftswahl wurde für den 4.7.2019 angesetzt und wegen der Proteste verschoben (HRW 14.1.2020; vgl. FAZ 12.12.2019). Schließlich wurde am 12.12.2019 Abdelmadjid Tebboune zum neuen Präsidenten der Republik gewählt. Er gewann den ersten Wahlgang mit 58,15% der abgegebenen Stimmen (TSA 13.12.2019; vgl. DF 14.12.2019, Spiegel 13.12.2019, BBC 13.12.2019). Ein zweiter Wahlgang ist somit nicht notwendig (TSA 13.12.2019; vgl. Spiegel 13.12.2019). Die unterlegenen Gegenkandidaten waren Abdelkader Bengrina (17,38%), Ali Benflis (10,55%), Azzedine Mihoubi (7,26%) und Abdelaziz Belaïd (6,66%) (HP 13.12.2019).
Von den fünf zugelassenen Kandidaten waren drei in früheren Regierungen unter dem ehemaligen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika vertreten (Spiegel 13.12.2019; vgl. DF 14.12.2019, ARTE 14.12.2019). Auch der Wahlsieger Tebboune war unter Bouteflika mehrfach Minister und im Jahr 2017 drei Monate lang Ministerpräsident (DF 14.12.2019; vgl. ARTE 14.12.2019).
Etwa 24 Millionen Menschen waren wahlberechtigt (DF 14.12.2019; vgl. FAZ 12.12.2019). Viele Menschen boykottierten den Urnengang, weil die zugelassenen Kandidaten in ihren Augen Marionetten des alten Bouteflika-Regimes waren (ARTE 14.12.2019; vgl. Guardian 13.12.2019). Mehrere Oppositionsparteien wollten einen gemeinsamen Gegenkandidaten aufstellen - konnten sich allerdings nicht einigen (TB 22.2.2019; vgl. TS 26.3.2019). Die Wahlbeteiligung lag bei ca. 40 Prozent (TSA 13.12.2019; vgl. BBC 13.12.2019, ARTE 14.12.2019, Guardian 13.12.2019). Das ist die niedrigste Wahlbeteiligung, die je bei einer Präsidentschaftswahl in Algerien verzeichnet wurde (Guardian 13.12.2019). Die Wahlbehörde zeigte sich mit dem Verlauf des Wahltages zunächst zufrieden; in 95 Prozent der Wahllokale sei der Betrieb reibungslos angelaufen (FAZ 12.12.2019). Es waren keine ausländischen Wahlbeobachtermissionen zugelassen (Reuters 12.12.2019; vgl. FAZ 12.12.2019).
Der Wahltag selbst wurde durch Proteste und Aufrufe zum Boykott der Wahlen beeinträchtigt (BBC 13.12.2019; vgl. ARTE 14.12.2019, Guardian 13.12.2019). Lokale Medien berichteten von zahlreichen Zwischenfällen. In der Hauptstadt Algier waren Tausende Menschen auf den Straßen, um gegen die Wahl zu protestieren (FAZ 12.12.2019; vgl. Spiegel 13.12.2019). Zentrum des Widerstandes gegen die Abstimmung war die Berberregion Kabylei im Osten des Landes (Standard 13.12.2019), wo es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Wahllokale wurden mit Backsteinen und Zement verschlossen, Wahlunterlagen in Brand gesetzt. Laut Medienberichten griffen die Sicherheitskräfte hart durch. Die Polizei setzte Tränengas ein. Vertreter der sogenannten Hirak-Protestbewegung beklagten Hunderte verhaftete und verletzte Menschen (DF 14.12.2019; vgl. FAZ 12.12.2019; BBC 13.12.2019).
In Tizi Ouzou und Bejaia sind die Wahlbüros aus Sicherheitsgründen geschlossen worden (FAZ 12.12.2019; vgl. Spiegel 13.12.2019, TSA 13.12.2019). Der Wahlvorgang wurde auch in Boumerdès, Bouira, Bordj Bou Arreridj, Sétif und Jijel unterbrochen (TSA 13.12.2019). In Bouira hatten Demonstranten das Büro der Wahlkommission in Brand gesetzt (Spiegel 13.12.2019). In Béjaïa wurde ein Wahllokal überfallen und die Urnen zerstört (Reuters 12.12.2019; vgl. Standard 13.12.2019). Die Staatsführung um Armeechef Gaïd Salah sah die Wahlen als Mittel, die politische Krise zu beenden (Reuters 12.12.2019). Während mit dem Urnengang die Legitimität der politischen Führung erneuert werden sollte, gehen die im Februar 2019 ausgebrochenen Massenproteste auch nach 43 Wochen ungemindert weiter (Standard 12.12.2019; vgl. Guardian 13.12.2019), wobei diese Demonstrationen weitgehend friedlich ablaufen (Standard 13.12.2019; vgl. DF 9.12.2019). Die Stimmung im Land ist jedoch aufgeheizt. Die Abstimmung gilt den Regierungsgegnern dabei auch als eine Provokation: Gaïd Salah setzte bisher vergeblich darauf, dass die Proteste in offene Gewalt umschlagen (Standard 13.12.2019).
Viele Demonstranten kündigten an, die offiziellen Ergebnisse nicht anzuerkennen (Reuters 12.12.2019). Der Wahlsieg von Tebboune löste erneut Massenproteste aus (ARTE 14.12.2019; vgl. BBC 13.12.2019). Der neue Präsident ist bei den vielen Demonstranten genauso verhasst wie seine vier Kontrahenten bei der Präsidentschaftswahl. Die Protestbewegung will weitermachen, bis das Regime aus Vertrauten des ehemaligen Machthabers Bouteflika tatsächlich fällt (DF 14.12.2019; vgl. FAZ 12.12.2019).
Quellen:
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- AI - Amnesty International (18.2.2020): Algeria 2019, https://www.amnesty.org/en/countries/middle-east-and-north-africa/algeria/report-algeria/, Zugriff 26.2.2020
- ARTE - Association Relative à la Télévision Européenne (14.12.2019): Algerien: Massenproteste gegen neuen Präsidenten, https://www.arte.tv/de/videos/094394-000-A/algerien-massenproteste-gegen-neuen-praesidenten/, Zugriff 16.12.2019
- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Deutschland (18.2.2019): Briefing Notes 18 Februar 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003659/Deutschland___Bundesamt_f%C3%BCr_Migration_und_Fl%C3%BCchtlinge%2C_Briefing_Notes%2C_18.02.2019_%28deutsch%29.pdf, Zugriff 4.6.2019
- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Deutschland (25.2.2019): Briefing Notes 25 Februar 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003661/Deutschland___Bundesamt_f%C3%BCr_Migration_und_Fl%C3%BCchtlinge%2C_Briefing_Notes%2C_25.02.2019_%28deutsch%29.pdf, Zugriff 4.6.2019
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- FAZ - Frankfurter Allgemeine (12.12.2019): Massenproteste und Sturm auf Wahlbüros, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wahl-in-algerien-massenproteste-und-sturm-auf-wahlbueros-16532460.html, Zugriff 16.12.2019
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- TB - Tagesblatt (22.2.2019): Tausende protestieren in Algerien: Polizei löst Demonstration auf, https://www.tagblatt.ch/newsticker/international/tausende-protestieren-in-algerien-polizei-lost-demonstration-auf-ld.1096496, Zugriff 28.2.2019
- TS - Tagesschau.de (26.3.2019): Protest gegen Bouteflikas fünfte Kandidatur, https://www.tagesschau.de/ausland/algerien-proteste-101.html, Zugriff 28.5.2019
- TSA - Tout sur l’Algérie (13.12.2019): Abdelmadjid Tebboune élu président de la République, https://www.tsa-algerie.com/abdelmadjid-tebboune-elu-president-de-la-republique/, Zugriff 16.12.2019,
- ZO - Zeit Online (11.4.2019): Algerien: Präsidentschaftswahl soll im Juli stattfinden, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-04/algerien-wahl-praesident-abdelaziz-bouteflika-proteste, Zugriff 28.5.2019
Sicherheitslage
Letzte Änderung am 31.1.2020
Demonstrationen finden seit Mitte Februar 2019 fast täglich in allen größeren Städten statt, die größten Protestmärsche nach den Freitagsgebeten. Auch wenn diese bisher weitgehend friedlich verlaufen sind, können gewaltsame Auseinandersetzungen nicht ausgeschlossen werden (AA 29.5.2019; vgl. Standard 12.12.2019, Guardian 13.12.2019). Die Sicherheitslage in gewissen Teilen Algeriens ist weiterhin gespannt. Es gibt immer noch terroristische Strukturen, wenn auch reduziert (ÖB 11.2019). Das Risiko von Terroranschlägen islamistischer Gruppen und Entführungen mit kriminellem oder terroristischem Hintergrund ist besonders hoch (BMEIA 29.5.2019; vgl. AA 29.5.2019). Landesweit kann es zu Behinderungen durch Demonstrationen und Streiks kommen (BMEIA 29.5.2019). Da jedoch Algerien in den 1990er Jahren ein Jahrzehnt des Terrorismus erlebt hat, bevorzugt die große Mehrheit der Algerier Frieden und lehnt Instabilität ab (BS 2018). Algerien steht auch aufgrund seines riesigen Staatsgebietes vor Herausforderungen. Dies erschwert den Kampf gegen den Terrorismus noch mehr. Die Überreste von terroristischen Gruppen aus den 90er Jahren in der Sahara und einigen nördlichen Regionen stellen immer noch eine massive Einschränkung der Regierungsführung dar (BS 2018).
Der djihadistische Terrorismus in Algerien ist stark zurückgedrängt worden; Terroristen wurden Großteils entweder ausgeschaltet, festgenommen oder haben oft das Land verlassen, was zur Verlagerung von Problemen in die Nachbarstaaten, z.B. Mali, führte. Gewisse Restbestände oder Rückzugsgebiete sind jedoch v.a. in der südlichen Sahara (so z.B. angeblich Iyad ag Ghali) vorhanden. Gruppen, wie die groupe salafiste pour la prédication et le combat (GSPC), die den 1997 geschlossenen Waffenstillstand zwischen dem algerischen Militär und der AIS nicht anerkannte, sich in die Saharagebiete zurückzog und 2005 mit Al Qaida zur AQIM verband, sind auf kleine Reste reduziert und in Algerien praktisch handlungsunfähig. Inzwischen hat sich diese Gruppe wieder mehrmals geteilt, 2013 u.a. in die Mouvement d’unité pour je jihad en Afrique occidentale (MUJAO). Ableger dieser Gruppen haben den Terroranschlag in Amenas/Tigentourine im Jänner 2013 zu verantworten. 2014 haben sich mit dem Aufkommen des „Islamischen Staates“ (IS) Veränderungen in der algerischen Terrorismusszene ergeben. AQIM hat sich aufgespalten und mindestens eine Teilgruppe, Jund al-Khilafa, hat sich zum IS bekannt. Diese Gruppe hat die Verantwortung für die Entführung und Enthauptung des französischen Bergführers Hervé Gourdel am 24.9.2014 übernommen. Dies war 2014 der einzige Anschlag, der auf einen Nicht-Algerier zielte. Ansonsten richteten sich die terroristischen Aktivitäten ausschließlich auf militärische Ziele (ÖB 11.2019).
Islamistischer Terrorismus und grenzübergreifende Kriminalität in der Sahelregion stellen weiterhin Bedrohungen für die Stabilität Algeriens dar. Algerien ist massiv in der Bekämpfung des Terrorismus engagiert und hat sein Verteidigungsbudget auf mehr als 10 Mrd. EUR erhöht (somit das höchste in Afrika). Eine kleine Anzahl islamistischer Extremisten operiert vor allem in der Sahara und den Berberregionen. Unsicherheit in der Region und die Aktivitäten des IS in einigen Nachbarländern machen diese jedoch zu einer potenziellen Bedrohung (BS 2018).
Die Sicherheitssituation betreffend terroristische Vorfälle hat sich jedoch inzwischen weiter verbessert, die Sicherheitskräfte haben auch bislang unsichere Regionen wie die Kabylei oder den Süden besser unter Kontrolle, am relativ exponiertesten ist in dieser Hinsicht noch das unmittelbare Grenzgebiet zu Tunesien, Libyen und zu Mali. Es kommt jedoch mehrmals wöchentlich zu Razzien und Aktionen gegen Terroristen oder deren Unterstützer (ÖB 11.2019).
Nach Angaben der offiziellen Armeepublikation „El Djeich“ (andere Quellen sind nicht öffentlich zugänglich) wurden 2018 32 Terroristen getötet, 25 festgenommen, 132 ergaben sich, weiters wurden 170 „Terrorismusunterstützer“ festgenommen (MDN 1.2019; vgl. ÖB 12.2019). Dieselbe Quelle gibt für das Jahr 2019 an, dass 15 Terroristen getötet und 25 festgenommen wurden, 44 ergaben sich; weiters wurden 245 „Terrorismusunterstützer“ festgenommen (MDN 1.2020). Wie in den Vorjahren kam es auch 2019 zu bewaffneten Vorfällen zwischen Sicherheitskräften und Terroristen, bei denen inoffiziellen Angaben zufolge auch aufseiten der Armee Tote verzeichnet wurden, was jedoch nicht öffentlich gemacht wird (ÖB 11.2019).
Spezifische regionale Risiken
Von Terroranschlägen und Entführungen besonders betroffen ist die algerische Sahararegion, aber auch der Norden und Nordosten des Landes (v.a. Kabylei). Die Gefahr durch den Terrorismus, der sich in erster Linie gegen die staatlichen Sicherheitskräfte richtet, besteht fort (AA 29.5.2019). 2017 gab es (mindestens) vier Anschläge mit eindeutig islamistischem Hintergrund, und zwar in Blida, Constantine, Oued Djemaa (Wilaya Blida), Ferkane (Wilaya Tebessa) und Tiaret (ÖB 11.2019).
Vor Reisen in die Grenzgebiete zu Libyen, Niger, Mali, Mauretanien, Tunesien und Marokko sowie in die sonstigen Saharagebiete, in ländliche Gebiete, Bergregionen (insbesondere Kabylei) und Gebirgsausläufer (Nord-Westen von Algier und Wilaya de Batna) wird gewarnt (BMEIA 29.5.2019; vgl. AA 29.5.2019, FD 29.5.2019). Ausgenommen davon sind nur die Städte Algier, Annaba, Constantine, Tlemcen und Oran (BMEIA 29.5.2019; ). Im Rest des Landes besteht weiterhin hohes Sicherheitsrisiko (BMEIA 29.5.2019). Praktisch nicht mehr existent sind die früher häufigen Entführungen, besonders in der Region Kabylei von wohlhabenden Einheimischen mit kriminellem Hintergrund (Lösegeldforderung). In den südlichen Grenzregionen zu Niger und Mali und jenseits der Grenzen gehen terroristische Aktivitäten, Schmuggel und Drogenhandel ineinander über. Es wird angenommen, dass AQIM in Nordmali, aber auch andernorts vereinzelt mit der lokalen Bevölkerung für Schmuggel aller Art zusammenarbeitet (ÖB 11.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (29.5.2019): Algerien: Reise- und Sicherheitshinweise (Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/algerien-node/algeriensicherheit/219044#content_0, Zugriff 29.5.2019
- BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (29.5.2019): Reiseinformationen Algerien, Sicherheit & Kriminalität, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/algerien/, Zugriff 29.5.2019
- BS - Bertelsmann Stiftung (2018): BTI 2018 - Algeria Country Report, https://www.bti-project.org/de/berichte/laenderberichte/detail/itc/DZA/, Zugriff 29.5.2019
- FD - France Diplomatie (29.5.2019): Conseils aux Voyageurs - Algérie - Sécurité, http://www.diplomatie.gouv.fr/fr/conseils-aux-voyageurs/conseils-par-pays/algerie/, Zugriff 29.5.2019
- Guardian, the (13.12.2019): Thousands march in Algeria after controversial election result, https://www.theguardian.com/world/2019/dec/13/algeria-braced-for-protests-as-former-pm-wins-presidential-election, Zugriff 16.12.2019
- MDN - Ministère de la Défense Nationale – Algérie (1.2019): Bilan opérationnel 2018 - Résultats probants dans la lutte antiterroriste, in: El Djeich N°666 (Janvier 2019) S 19-20, https://www.mdn.dz/site_principal/sommaire/revue/images/EldjeichJan2019Fr.pdf, Zugriff 16.1.2020
- MDN - Ministère de la Défense Nationale – Algérie (1.2020): Lutte contre le terrorisme et le crime organisé - Bilan opérationnel 2019, in: El Djeich N°678 (Janvier 2020) S 75, https://www.mdn.dz/site_principal/sommaire/revue/images/EldjeichJan2020Fr.pdf, Zugriff 16.1.2020
- ÖB - Österreichische Botschaft Algier (11.2019): Asylländerbericht Algerien
- Standard, der (12.12.2019): Umstrittene Präsidentenwahl in Algerien, https://www.derstandard.at/story/2000112165637/umstrittener-urnengang-in-algerien?ref=article, Zugriff 16.12.2019
Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung am 18.3.2020
Obwohl die Verfassung eine unabhängige Justiz vorsieht, beschränkt die Exekutive die Unabhängigkeit der Justiz (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 2018). Der Präsident hat den Vorsitz im Obersten Justizrat, der für die Ernennung aller Richter (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 2018), sowie Staatsanwälte zuständig ist (USDOS 11.3.202019). Der Oberste Justizrat ist für die richterliche Disziplin und die Ernennung und Entlassung aller Richter zuständig (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 2018). Die in der Verfassung garantierte Unabhängigkeit von Gerichten und Richtern wird in der Praxis nicht gänzlich gewährleistet (BS 2018; vgl. USDOS 11.3.2020), sie ist häufig äußerer Einflussnahme und Korruption ausgesetzt (USDOS 11.3.2020). Die Justizreform wird zudem nur äußerst schleppend umgesetzt. Algerische Richter sehen sich häufig einer außerordentlich hohen Arbeitsbelastung ausgesetzt, was insbesondere in Revisions- und Berufungsphasen zu überlangen Verfahren führt (AA 25.6.2019). Ein berufsständisches Gesetz zu Status und Rolle der Anwaltschaft existiert nicht (BS 2018), der jedoch unter dem Einfluss der Exekutive steht (BS 2018). Praktische Entscheidungen über richterliche Kompetenzen werden vom Obersten Justizrat getroffen (BS 2018). Die Richter werden für eine Dauer von zehn Jahren ernannt und können u.a. im Fall von Rechtsbeugung abgelöst werden (AA 25.6.2019). Im Straf- und Zivilrecht entscheiden Justizministerium und der Präsident der Republik mittels weisungsabhängiger Beratungsgremien über das Fortkommen von Richtern und Staatsanwälten. Das Rechtswesen kann so unter Druck gesetzt werden, besonders in Fällen, in denen politische Entscheidungsträger betroffen sind. Es ist der Exekutive de facto nachgeordnet. Im Handelsrecht führt die Abhängigkeit von der Politik zur inkohärenten Anwendung der Anti-Korruptionsgesetzgebung, da auch hier die Justiz unter Druck gesetzt werden kann (GIZ 12.2016a).
Das algerische Strafrecht sieht explizit keine Strafverfolgung aus politischen Gründen vor. Es existiert allerdings eine Reihe von Strafvorschriften, die aufgrund ihrer weiten Fassung eine politisch motivierte Strafverfolgung ermöglichen. Dies betrifft bisher insbesondere die Meinungs- und Pressefreiheit, die durch Straftatbestände wie Verunglimpfung von Staatsorganen oder Aufruf zum Terrorismus eingeschränkt werden. Rechtsquellen sind dabei sowohl das algerische Strafgesetzbuch als auch eine spezielle Anti-Terrorverordnung aus dem Jahre 1992. Für die Diffamierung staatlicher Organe und Institutionen durch Presseorgane bzw. Journalisten werden in der Regel Geldstrafen verhängt (AA 25.6.2019; vgl. GIZ 12.2016a).
Die Verfassung gewährleistet das Recht auf einen fairen Prozess (USDOS 11.3.2020), aber in der Praxis respektieren die Behörden nicht immer die rechtlichen Bestimmungen, welche die Rechte des Angeklagten wahren sollen (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 4.4.2018). Für Angeklagte gilt die Unschuldsvermutung und sie haben das Recht auf einen Verteidiger, dieser wird, falls nötig, auf Staatskosten zur Verfügung gestellt. Die meisten Verhandlungen sind öffentlich. Angeklagte haben das Recht auf Berufung. Die Aussage von Frauen und Männern wiegt vor dem Gesetz gleich (USDOS 11.3.2020). Den Bürgerinnen und Bürgern fehlt nach wie vor das Vertrauen in die Justiz (AA 25.6.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (25.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014264/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Demokratischen_Volksrepublik_Algerien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_25.06.2019.pdf, Zugriff 27.11.2019
- BS - Bertelsmann Stiftung (2018): BTI 2018 - Algeria Country Report, https://www.bti-project.org/de/berichte/laenderberichte/detail/itc/DZA/, Zugriff 15.2.2018
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (12.2016a): Algerien - Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/algerien/geschichte-staat/, Zugriff 29.5.2019
- USDOS – U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Algeria, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ALGERIA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 17.3.2020
Allgemeine Meschenrechtslage
Letzte Änderung am 18.3.2020
Staatliche Repressionen, die allein wegen Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfolgen, sind in Algerien nicht feststellbar (AA 25.6.2019). Algerien ist den wichtigsten internationalen Menschenrechtsabkommen beigetreten. Laut Verfassung werden die Grundrechte gewährleistet. Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen haben seit Ende der 1990er Jahre abgenommen, bestehen jedoch grundsätzlich fort (AA 17.4.2019). Meinungs- und Versammlungsfreiheit werden eingeschränkt (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 2018, AI 18.2.2020) und die Unabhängigkeit der Justiz ist mangelhaft. Weitere bedeutende Menschenrechtsprobleme sind übermäßige Gewaltanwendung durch die Polizei, inklusive Foltervorwürfe (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 18.2.2020), sowie die Einschränkung der Möglichkeit der Bürger, ihre Regierung zu wählen. Weitverbreitete Korruption begleitet Berichte über eingeschränkte Transparenz bei der Regierungsführung. Straffreiheit bleibt ein Problem (USDOS 11.3.2020).
Obwohl die Verfassung Meinungs- und Pressefreiheit gewährleistet, schränkt die Regierung diese Rechte ein (USDOS 11.3.2020; vgl. HRW 14.1.2020, BS 2018). NGOs kritisieren diese Einschränkungen. Bürger können die Regierung nicht ungehindert kritisieren. Es drohen Belästigungen und Verhaftungen; Bürger sind somit bei der Äußerung von Kritik zurückhaltend (USDOS 11.3.2020). Alle Medienanbieter, auch privat, stehen unter Beobachtung (USDOS 11.3.2020).
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit werden Demonstrationen regelmäßig nicht genehmigt bzw. in Algier komplett verboten (AA 25.6.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, HRW 14.1.2020). Ergebnis ist, dass die Möglichkeiten politischer Tätigkeit weiterhin eng begrenzt sind. Oppositionelle politische Aktivisten beklagen, aufgrund von Anti-Terrorismus-Gesetzen und solchen zur Begrenzung der Versammlungsfreiheit oder Vergehen gegen „Würde des Staates und die Staatssicherheit“ festgenommen zu werden (ÖB 11.2019). Oppositionelle Gruppierungen haben zudem oft Schwierigkeiten, Genehmigungen für Veranstaltungen in geschlossenen Räumen zu erhalten (AA 25.6.2019).
Algerien erlebte ab Februar 2019 die größten und nachhaltigsten Anti-Regierungsdemonstrationen seit seiner Unabhängigkeit 1962. Jeden Freitag überfluten Algerier die Straßen in der Hauptstadt Algier und anderswo. Als Reaktion auf die anhaltenden Proteste, zerstreuten die Behörden friedliche Demonstrationen, hielten willkürlich Protestierende fest, blockierten von politischen und Menschenrechtsgruppen organisierte Treffen und inhaftierten Kritiker (HRW 14.1.2020; vgl. AI 18.2.2020). Die Sicherheitskräfte haben verschärfte Kontrollen an den Zufahrtsstraßen nach Algier eingerichtet, um die Teilnehmerzahlen in der Hauptstadt zu senken (AA 25.6.2019).
Das Gesetz garantiert der Regierung weitreichende Möglichkeiten zur Überwachung und Einflussnahme auf die täglichen Aktivitäten von zivilgesellschaftlichen Organisationen. Das Innenministerium muss der Gründung zivilgesellschaftlicher Organisationen zustimmen, bevor diese gesetzlich zugelassen werden (USDOS 11.3.2020).
Das im Jahr 2012 verabschiedete Gesetz über Vereinigungen erleichterte auch die Gründung von politischen Parteien (BS 2018), wofür wie bei anderen Vereinigungen eine Genehmigung des Innenministeriums nötig ist. Politische Parteien auf Basis von Religion, Ethnie, Geschlecht, Sprache oder Region sind verboten. Es gibt jedoch islamistisch ausgerichtete Parteien, v.a. jene der Grünen Allianz (USDOS 11.3.202013.3.2019). Seit Verabschiedung des Parteigesetzes 2012 nahm die Anzahl der Parteien deutlich zu. Dies führte jedoch auch zu einer Zersplitterung der Opposition (BS 2018). Oppositionsparteien können sich grundsätzlich ungehindert betätigen, soweit sie zugelassen sind, und haben Zugang zu privaten und – in sehr viel geringerem Umfang – staatlichen Medien. Jedoch haben einzelne Parteien kritisiert, dass ihnen teils die Ausrichtung von Versammlungen erschwert wird und sie Bedrohungen und Einschüchterungen ausgesetzt sind (AA 25.6.2019).
Die CNDH als staatliche Menschenrechtsorganisation (Ombudsstelle) hat eine konsultative und beratende Rolle für die Regierung. Sie veröffentlicht jährlich Berichte zur Menschenrechtslage im Land (USDOS 11.3.2020). Zahlreiche Einzelfälle zeigen, dass die Funktion einer echten Ombudsstelle gegenüber der Verwaltung fehlt (ÖB 11.2019).
Verschiedene nationale Menschenrechtsgruppen operieren und können ihre Ergebnisse publizieren. Sie sind jedoch in unterschiedlichem Ausmaß Einschränkungen durch die Regierung ausgesetzt. Gesetzlich ist es allen zivilen Organisationen vorgeschrieben, sich bei der Regierung zu registrieren. Dennoch operieren einige Organisationen ohne Registrierung und werden seitens der Regierung toleriert (USDOS 11.3.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (25.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014264/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Demokratischen_Volksrepublik_Algerien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_25.06.2019.pdf, Zugriff 27.11.2019
- AA - Auswärtiges Amt (17.4.2019): Algerien - Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/algerien-node/-/222160, Zugriff 31.5.2019
- AI - Amnesty International (18.2.2020): Algeria 2019, https://www.amnesty.org/en/countries/middle-east-and-north-africa/algeria/report-algeria/, Zugriff 26.2.2020
- BS - Bertelsmann Stiftung (2018): BTI 2018 - Algeria Country Report, https://www.bti-project.org/de/berichte/laenderberichte/detail/itc/DZA/, Zugriff 31.5.2019
- HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 – Algeria, https://www.hrw.org/world-report/2020/country-chapters/algeria, Zugriff 15.1.2020
- ÖB - Österreichische Botschaft Algier (11.2019): Asylländerbericht Algerien.
- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Algeria, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ALGERIA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 17.3.2020
Religionsfreiheit
Letzte Änderung am 18.3.2020
Die Bevölkerung besteht zu 99% aus sunnitischen Moslems und zu weniger als 1% aus Christen, Juden und anderen (CIA 3.3.2020). Verschiedene inoffizielle Schätzungen geben die Anzahl der Christen in Algerien zwischen 20.000 und 200.000 an. Durch den Zuzug von Studenten und Migranten aus Subsahara-Afrika ist die Anzahl der Christen in den letzten Jahren gestiegen. Mit dem Vatikan unterhält Algerien seit 1972 über einen Nuntius diplomatische Beziehungen (AA 25.6.2019).
Die Verfassung gewährleistet Glaubensfreiheit. Gesetzliche Bestimmungen gestatten allen Individuen die Freiheit, ihre Religion auszuüben, solange die öffentliche Ordnung und gesetzliche Bestimmungen gewahrt bleiben (USDOS 21.6.2019). Die Verfassung erklärt den Islam zur Staatsreligion (USDOS 21.6.2019; vgl. AA 25.6.2019), verbietet aber Diskriminierung aus religiösen Gründen (AA 25.6.2019). Auch in der Praxis ist die Religionsfreiheit gut etabliert. Christen können ihren Glauben an designierten Örtlichkeiten frei ausüben (BS 2018). Muslime, die zum Christentum konvertieren bzw. den Islam oder islamische Würdenträger kritisieren, sind gesellschaftlichen und rechtlichen Restriktionen ausgesetzt (BS 2018; vgl. USDOS 21.6.2019). Die kollektive Religionsausübung muslimischer wie nichtmuslimischer Religionen ist einem Genehmigungsvorbehalt unterworfen. Religiöse Gemeinschaften müssen sich als „Vereine algerischen Rechts“ beim Innenministerium akkreditieren lassen, Zulassungen bzw. Neubauten von Moscheen und Kirchen vorab durch eine staatliche Kommission genehmigt werden, und Veranstaltungen religiöser Gemeinschaften fünf Tage vor Veranstaltungsbeginn dem örtlichen Wali angezeigt werden. Diese dürfen nur in dafür vorgesehenen und genehmigungspflichtigen Räumlichkeiten stattfinden. Zuwiderhandlungen sind mit Strafe bedroht (AA 25.6.2019). Gemäß Verfassung sind politische Parteien auf Grundlage der Religion verboten (USDOS 11.3.2020). Missionierungstätigkeit (an Muslimen durch Nicht-Muslime) ist gesetzlich verboten und unter Strafe gestellt (Haftstrafe von zwei bis fünf Jahren) (USDOS 21.6.2019; vgl. AA 25.6.2019), sowie Geldstrafe (USDOS 21.6.2019).
Im Jahr 2018 führte die Regierung Ermittlungen gegen mindestens 85 Ahmadi-Muslime, darunter einige Verhaftungen, durch. Gründe beinhalteten etwa das Betreiben einer nicht autorisierten Religionsgemeinschaft, illegales Spendensammeln, Beten außerhalb eines autorisierten Gebetsplatzes. Ahmadi-Vertreter berichten von Schwierigkeiten mit der Verwaltung und Belästigungen, da sie keine registrierte Vereinigung sind. Christliche Gruppen berichten von Schwierigkeiten bei administrativen Vorgängen mit den Behörden. Es gibt Berichte über gesellschaftlichen Missbrauch oder Diskriminierung basierend auf Religionszugehörigkeit, Glauben oder Religionsausübung, v.a. gegenüber Konvertiten. Das Gesetz versagt Personen, die vom Islam zu einer anderen Religion konvertiert sind, ein Erbe zu erhalten (USDOS 21.6.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (25.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014264/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Demokratischen_Volksrepublik_Algerien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_25.06.2019.pdf, Zugriff 27.11.2019
- CIA - Central Intelligence Agency (3.3.2020): The World Factbook – Algeria – Military and Security, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/ag.html, Zugriff 18.3.2020
- USDOS - U.S. Department of State (21.6.2019): 2018 Report on international Religious Freedom, https://www.ecoi.net/de/dokument/2011003.html, Zugriff 27.11.2019
- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Algeria, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ALGERIA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 17.3.2020
Frauen
Letzte Änderung am 18.3.2020
Die Verfassung garantiert die Gleichstellung der Geschlechter (FH 4.3.2020), aber Frauen sind nach wie vor sowohl rechtlichen als auch gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Viele Frauen verdienen weniger als Männer in ähnlichen Positionen und es gibt nur wenige Frauen in Führungspositionen von Unternehmen (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 3.2019; AA 25.6.2019). Die Verfassung verbietet Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts und die Regierung setzt dies auch in der Praxis um. Frauen sind weiterhin rechtlicher (im Familienrecht) und sozialer Diskriminierung ausgesetzt (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; AA 25.6.2019).
Insbesondere in den unteren sozialen Schichten führen Scheidungen, Scheidungsfolgen und das diskriminierende Erbrecht (der Pflichtteil weiblicher Abkömmlinge ist im Vergleich zu dem der männlichen Miterben halbiert) häufig zu Mittellosigkeit und gesellschaftlicher Marginalisierung von Frauen. In Algier und anderen großen Städten des Nordens spielen Frauen gleichwohl eine maßgebliche Rolle in allen gesellschaftlichen Zusammenhängen. Der Regierung gehören aktuell fünf Ministerinnen an. Die Mehrheit der Frauen bleibt jedoch fest in patriarchalische Strukturen eingebunden. Eine Novelle des Familiengesetzbuchs („Code de la famille“), die die Situation vor allem geschiedener Frauen verbessert, wurde 2005 von der Nationalversammlung verabschiedet. Obwohl dadurch wesentliche Defizite des auf der Scharia fußenden Familienrechts, wie die Tutelle (lebenslange Vormundschaft durch den Vater oder ein anderes männliches Familienmitglied; Zustimmung des Vormunds zu allen wesentlichen Entscheidungen) oder ein eingeschränktes Scheidungsrecht, abgemildert worden sind, wirken traditionell-religiöse Regelungen vor allem der sunnitisch-malikitischen Rechtstraditionen des Landes faktisch in vieler Weise fort (AA 25.6.2019).
Vergewaltigung ist strafbar. Das Strafmaß beträgt fünf bis zehn Jahre und die Behörden setzen das Gesetz üblicherweise durch. Der Straftatbestand der innerehelichen Vergewaltigung existiert gesetzlich nicht (USDOS 11.3.2020). Der Straftatbestand der Vergewaltigung bezieht sich auf Sachverhalte außerhalb der Ehe (AA 25.6.2019). Viele Frauen zeigen Fälle von Vergewaltigung aufgrund von gesellschaftlichem und familiärem Druck nicht an (USDOS 11.3.2020). Das Strafgesetzbuch definiert Vergewaltigung nicht, bezeichnet sie jedoch als Angriff auf die Ehre. Während das algerische Gesetz zur Bekämpfung häuslicher Gewalt aus dem Jahr 2015 einige Formen häuslicher Gewalt kriminalisierte, enthielt es Schlupflöcher, die es ermöglichen, Verurteilungen fallen zu lassen oder die Strafen zu verringern, wenn die Opfer ihre Täter begnadigen (HRW 14.1.2020; vgl. AI 18.2.2020).
Sieben Monate nach der Annahme durch die Nationalversammlung stimmte auch der Senat im Dezember 2015 einer Gesetzesvorlage „zum Schutz der Frauen“ vor häuslicher Gewalt zu. Es handelt sich jedoch um eine abgemilderte Fassung – das Opfer kann durch Erklärung jederzeit das Strafverfahren beenden und riskiert daher, unter Druck gesetzt zu werden. Dennoch ist das neue Gesetz entsprechend den Äußerungen von NGOs und Zivilgesellschaft als bewusstseinsbildender Fortschritt zu sehen, der die Rechtswirklichkeit nicht unbeeinflusst lassen sollte. Dem Vernehmen nach gibt es landesweit nur eine Einrichtung, die mit einem Frauenhaus verglichen werden kann und die in Algier durch die Organisation „S.O.S. femmes en détresse“ betrieben wird (AA 25.6.2019). Es gibt Aufnahmezentren (centres d’accueil), an die sich Frauen in Notfällen wenden können (ÖB 11.2019). Es gibt keine Erkenntnisse zu weiblicher Genitalverstümmelung (AA 25.6.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (25.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014264/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Demokratischen_Volksrepublik_Algerien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_25.06.2019.pdf, Zugriff 27.11.2019
- AI - Amnesty International (18.2.2020): Algeria 2019, https://www.amnesty.org/en/countries/middle-east-and-north-africa/algeria/report-algeria/, Zugriff 26.2.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Algeria, https://freedomhouse.org/country/algeria/freedom-world/2020, Zugriff 4.3.2020
- HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 – Algeria, https://www.hrw.org/world-report/2020/country-chapters/algeria, Zugriff 15.1.2020
- ÖB - Österreichische Botschaft Algier (11.2019): Asylländerbericht Algerien.
- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Algeria, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ALGERIA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 17.3.2020
Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung am 18.3.2020
Die Verfassung garantiert Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Wiedereinbürgerung, diese Rechte werden jedoch von der Regierung in der Praxis eingeschränkt (USDOS 11.3.2020). Die meisten Bürger können relativ frei im In- und Ausland reisen (FH 4.3.2020). Die Regierung hält aus Gründen der Sicherheit Reiserestriktionen in die südlichen Bezirke El-Oued und Illizi, in der Nähe von Einrichtungen der Kohlenwasserstoffindustrie sowie der libyschen Grenze, aufrecht. Überlandreisen sind aufgrund von Terrorgefahr zwischen den südlichen Städten Tamanrasset, Djanet und Illizi eingeschränkt (USDOS 11.3.2020).
Jungen wehrpflichtigen Männern, die ihren Wehrdienst noch nicht abgeleistet haben, wird die Ausreise ohne Sondergenehmigung verweigert (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Sondergenehmigungen erhalten Studenten und Personen in besonderen Familienkonstellationen. Personen, die jünger als 18 Jahre sind, ist es gemäß Familienrecht nicht gestattet, ohne die Erlaubnis einer Aufsichtsperson ins Ausland zu reisen (USDOS 11.3.2020). Verheiratete Frauen, die jünger als 18 Jahre sind, dürfen ohne die Erlaubnis ihres Ehemanns nicht ins Ausland reisen (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Ehefrauen, die älter als 18 Jahre sind, sind Auslandsreisen auch ohne Erlaubnis des Ehemanns gestattet (USDOS 11.3.2020).
Quellen:
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Algeria, https://freedomhouse.org/country/algeria/freedom-world/2020, Zugriff 4.3.2020
- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Algeria, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/ALGERIA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 17.3.2020
Grundversorgung
Letzte Änderung am 18.3.2020
Algeriens Wirtschaft hängt stark vom Export von Erdöl und Erdgas ab. Dank anhaltend hoher Öl- und Gaspreise konnte Algerien über Jahre hinweg ein kontinuierliches Wachstum von durchschnittlich 3% verzeichnen. Die weiteren Prognosen mussten jedoch aufgrund des Preisverfalls bei Öl und Gas bereits nach unten korrigiert werden (GIZ 12.2016b).
Algerien leistet sich aus Gründen der sozialen und politischen Stabilität ein für die Möglichkeiten des Landes aufwendiges Sozialsystem, das aus den Öl- und Gasexporten finanziert wird. Algerien ist eines der wenigen Länder, die in den letzten 20 Jahren eine Reduktion der Armutsquote von 25% auf 5% erreicht hat. Schulbesuch und Gesundheitsfürsorge sind kostenlos. Energie, Wasser und Grundnahrungsmittel werden stark subventioniert. Ein Menschenrecht auf Wohnraum wird anerkannt. Für Bedürftige wird Wohnraum kostenlos zur Verfügung gestellt. Missbräuchliche Verwendung ist häufig (ÖB 11.2019).
Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist bislang durch umfassende Importe gewährleistet. Insbesondere im Vorfeld religiöser Feste, wie auch im gesamten Monat Ramadan, kommt es allerdings immer wieder zu substanziellen Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln. Für Grundnahrungsmittel wie Weizenmehl, Zucker und Speiseöl gelten Preisdeckelungen und Steuersenkungen. Im Bereich der Sozialfürsorge kommt, neben geringfügigen staatlichen Transferleistungen, vornehmlich der Familien-, im Süden des Landes auch der Stammesverband, für die Versorgung alter Menschen, Behinderter oder chronisch Kranker auf. In den Großstädten des Nordens existieren „Selbsthilfegruppen“ in Form von Vereinen, die sich um spezielle Einzelfälle (etwa die Einschulung behinderter Kinder) kümmern. Teilweise fördert das Solidaritätsministerium solche Initiativen mit Grundbeträgen (AA 25.6.2019).
Die Arbeitslosigkeit liegt Stand 2018 bei 12%, die Jugendarbeitslosigkeit (15-24-jährige) bei 30% (WKO 10.2019). Das staatliche Arbeitsamt Agence national d’emploi / ANEM (http://www.anem.dz/) bietet Dienste an, es existieren auch private Jobvermittlungsagenturen (z.B. http://www.tancib.com/index.php?page=apropos). Seit Februar 2011 stehen jungen Menschen Starthilfekredite offen, wobei keine Daten darüber vorliegen, ob diese Mittel ausgeschöpft wurden. Die Regierung anerkennt die Problematik der hohen Akademikerarbeitslosigkeit. Grundsätzlich ist anzumerken, dass allen staatlichen Genehmigungen/Unterstützungen eine (nicht immer deklarierte) sicherheitspolitische Überprüfung vorausgeht, und dass Arbeitsplätze oft aufgrund von Interventionen besetzt werden. Der offiziell erfasste Wirtschaftssektor ist von staatlichen Betrieben dominiert (ÖB 11.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (25.6.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014264/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Demokratischen_Volksrepublik_Algerien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_25.06.2019.pdf, Zugriff 27.11.2019
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (12.2016b): Algerien - Wirtschaft & Entwicklung, https://www.liportal.de/algerien/wirtschaft-entwicklung/, Zugriff 3.5.2019
- ÖB - Österreichische Botschaft Algier (11.2019): Asylländerbericht Algerien.
- WKO - Wirtschaftskammer Österreich (10.2019): Länderprofil Algerien, https://wko.at/statistik/laenderprofile/lp-algerien.pdf, Zugriff 18.3.2020
Medizinische Versorgung
Letzte Änderung am 31.1.2020
Grundsätzlich ist medizinische Versorgung in Algerien allgemein zugänglich und kostenfrei. Der Standard in öffentlichen Krankenhäusern entspricht nicht europäischem Niveau (ÖB 11.2019; vgl. AA 25.6.2019) Krankenhäuser, in denen schwierigere Operationen durchgeführt werden können, existieren in jeder größeren Stadt; besser ausgestattete Krankenhäuser gibt es an