Entscheidungsdatum
09.04.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z4Spruch
W226 2228865-1/5E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. WINDHAGER über die Beschwerde vonXXXX XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.01.2020, Zl.: 731275100-180153758 zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der damals minderjährige BF, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Zugehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, reiste am 03.05.2003 gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und wurde für den BF durch seine gesetzliche Vertretung ein Asylerstreckungsantrag gestellt, welcher mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 13.10.2004, Zl. 03 12.751-BAT, abgewiesen wurde.
2. Dagegen erhob der BF im Wege seiner gesetzlichen Vertretung fristgerecht Berufung. Mit (Berufungs)bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom 03.08.2005 wurde der Berufung stattgegeben und dem BF gemäß §§ 10, 11 Abs. 1 AsylG Asyl (abgeleitet von seinem Vater) gewährt und kraft Gesetzes festgestellt, dass dem BF die Flüchtlingseigenschaft zukomme.
3. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 07.01.2015 (RK 07.01.2015) wurde der BF gem. § 142 (1) StGB § 15 StGB; § 270 (1) StGB; §§ 83 (1), 84 (1) StGB; § 15 StGB § 105 (1) StGB; §§ 83 (1), 84 (2) Z 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren, bedingt, Probezeit 3 Jahre, Anordnung der Bewährungshilfe, Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gem. § 21 Abs. 2 StGB, bedingt, Probezeit 5 Jahre, verurteilt (Junger Erwachsener).
Dem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 07.01.2015 ist zu entnehmen, dass der BF im bewussten und gewollten Zusammenwirken (als Mittäter) mit weiteren Personen Gewalt gegen mehrere Opfer ausübte und er durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben fremde bewegliche Sachen mit dem Vorsatz, sich oder weitere Beteiligte durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern weggenommen hat. So haben die Mittäter am 11.04.2014 zwei Opfern Bargeld weggenommen und auch versucht mehreren Opfern erhoffte Wertsachen und Bargeldbeträge wegzunehmen bzw. abzunötigen indem sie aggressiv auf die Opfer zugingen und diese umringten. Der BF sagte zu den Opfern, dass sie sich "in seinem Bezirk aufhalten würden" und daher "zahlen müssten", wobei er einer Person einen Stoß versetzte, sodass diese u Boden stürzte und ihm - nachdem er wieder aufgestanden ist- einen Schlag mit den flachen Hand ins Gesicht versetzte. Ein weiterer Mittäter hat sodann - über Anordnung des BF - die Opfer durchsucht, einem Opfer die Brieftasche weggenommen und EUR 20,- Bargeld daraus entnommen. Anschließend hat der BF von einem weiteren Opfer Geld verlangt, sodass dieses EUR 5,- übergab. Ein weiterer Mittäter hat sich während der Tatausführung im unmittelbaren Nahebereich aufgehalten, die Opfer an der Flucht gehindert und gegenüber einem Opfer angedeutet, ihm Faustschläge zu versetzen, indem er auf ihn zuging und ruckartige mit den Fäusten zuckte.
Ebenfalls am 11.04.2014 hat der BF nach seiner Betretung und Festnahme anlässlich der bereits dargestellten Taten zwei Polizeibeamte während einer Amtshandlung (Aufrechterhaltung der Festnahme) tätlich angegriffen, indem er ihnen Faustschläge und Fußtritte versetzt habe.
Weiters hat der BF am 10.11.2013 eine Person vorsätzlich am Körper verletzt, indem er ihr
mehrere Faustschläge ins Gesicht versetzte, wodurch das Opfer eine schwere Körperverletzung mit einer 24 Tagen übersteigenden Gesundheitsschädigung erlitt (Nasenbeinbruch, Verlust eines Zahnes sowie Bruch eines Zahnes).
Zudem hat der BF am 11.11.2013 zwei Personen durch gefährliche Drohung zu einer Unterlassung und zwar zur Abstandnahme von einer Anzeigenerstattung zu nötigen versuchte, indem er zu ihnen sinngemäß äußerte, dass er sie "umbringen werde, falls sie zur Polizei gehen bzw. jemanden von dem Vorfall erzählen würden".
Letztlich hat der BF am 09.04.2014 im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit zahlreichen weiteren, überwiegend unbekannt gebliebenen Personen ein Opfer vorsätzlich am Körper verletzt, indem sie gemeinsam gegen das Opfer tätlich wurden, wobei der BF dem Opfer einen Faustschlag gab, wodurch dieses zumindest Prellungen und Hämatome erlitt und die Tat von zumindest drei Personen in verabredeter Verbindung begangen wurde.
Als mildernd wurden das umfassende reumütige Geständnis, die Unbescholtenheit, das Alter unter 21 Jahren und der Umstand gewertet, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist. Erschwerend wurden die Faktenvielzahl sowie das Zusammentreffen mehrere Straftaten gewertet.
4. Am 26.03.2015 langte beim BFA die Strafkarte des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX (betreffend die Verurteilung vom 07.01.2015 ein).
5. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 17.12.2015 (RK) wurde der BF gem. §§ 142 (1), 143 2.Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten, Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gem. § 21 Abs. 2 StGB, verurteilt (Junger Erwachsener).
Dem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 17.12.2015 lässt sich folgender Schuldspruch entnehmen: Der BF hat am 21.08.2015 in XXXX im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit einer weiteren Person zwei Opfer durch gefährliche Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben unter Verwendung einer Waffe, nämlich unter Vorhalt eines Messers, fremde bewegliche Sachen (Bargeld in der Höhe von EUR 250,- ein Mobiltelefon der Marke IPhone sowie zwei Dosen Red Bul) mit dem Vorsatz weggenommen, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, indem der BF das Messer gegen eines der Opfer richtete und sie mit dem "Abstechen" bedrohte.
Als mildernd wurden das Geständnis, das Alter unter 21 Jahren und die psychische Erkrankung des BF gewertet. Erschwerend wurden die einschlägige Vorstrafe und die Begehung innerhalb der offenen Probezeit gewertet.
6. Mit Urteil des LG für Strafsachen XXXX vom 21.06.2016 (RK) wurde der BF gem. § 142 (1) StGB zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten, Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gem. § 21 Abs. 2 StGB, Zusatzstrafe, verurteilt (Junger Erwachsener).
Dem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 21.06.2016 ist zu entnehmen, dass der BF am 19.08.2015 im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit einem anderen Täter (Mittäter) mit Gewalt einem Opfer fremde bewegliche Sachen (Geldbörse samt Bargeld in Höhe von EUR 200,-) mit dem Vorsatz sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, wegnahm, indem der BF und der Mittäter das Opfer zu Boden stießen und es fixierten, wobei der Mittäter dann die Geldbörse des Opfers aus der Gesäßtasche entnahm.
Als mildernd wurden das reumütige Geständnis und das Alter von unter 21 Jahren zur Tatzeit gewertet. Erschwerend wurden das Zusammentreffend mehrerer strafbarer Handlungen, die einschlägige Vorstrafenbelastung und die Begehung innerhalb offener Probezeit gewertet.
7. In weiterer Folge langte beim BFA ein Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) vom 14.11.2017 ein, wonach der BF - und eine andere Person - verdächtigt seien, im Sommer 2015 die Durchführung von Terror- bzw. Mordanschlägen im Namen der Terrororganisation Islamischer Staat geplant zu haben. Es sei jedoch zu keiner Umsetzung der Pläne gekommen. Gegen beide Personen werde wegen der Unterstützung einer Terrororganisation sowie wegen Verbrecherischem Komplott ermittelt. Weiters führte das BVT in seinem Bericht aus, dass der BF in jedem Fall als "gefährliche Person" anzusehen sei und daher die dringende Anregung ergehe, die Einleitung von einem Aberkennungsverfahren zu prüfen.
8. Am 13.02.2018 leitete das BFA ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 7 AsylG 2005 ein.
9. Mit Urteil des LG für Strafsachen XXXX vom 14.02.2018 (RK 06.09.2018) wurde der BF gem. § 277 (1) StGB, § 278a StGB und § 278b (2) StGB zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten (Zusatzstrafe) unter Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gem. § 21 Abs. 2 StGB verurteilt.
Dem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom 14.02.2018 ist zu entnehmen, dass der BF gemeinsam mit zwei anderen Personen im Sommer 2015 - über Aufforderung und Anleitung eines tschetschenischen Mitglieds des IS ( XXXX ) - die gemeinsamen Ausführung eines Raubes (auf einen Waffenhändler zur Erbeutung von Waffen) sowie die anschließende Ausführung eines Mordes (Anschlag auf eine Polizeiinspektion und Tötung der dort anwesenden Polizisten) plante, wobei sie von der Ausführung bloß aufgrund eines medial bekannt gemachten anonymen Warnhinweises abließen. Der BF und zwei weitere Personen haben sich seit zumindest Sommer 2015 bis April 2017 als Mitglied an einer terroristischen Vereinigung (IS-Islamischer Staat) beteiligt, indem sie nachstehende Handlungen in dem Wissen, dass sie dadurch die Vereinigung und deren Aktivitäten förderten, gesetzt:
- die oben beschriebene Tat (Verabredung zur Ausführung eines Raubes sowie der terroristischen Straftat des Mordes an Polizeibeamten) begingen und einem tschetschenischen IS-Mitglied über den Planungsfortschritt regelmäßig Bericht erstatteten;
- sich zu einer "IS-Splittergruppe zwecks Errichtung eines Kalifates in Österreich" zusammenschlossen;
- im Sommer 2015 ein Video erstellten, in dem sie einen Treueschwur gegenüber dem Führer des IS (Abu Bakr Al Baghdadi) leisteten, wobei sie das Video anschließend dem IS-Mitglied " XXXX " übermittelten.
Weiters hat der BF im Jahr 2015 ein - noch auszuforschendes - IS-Mitglied von seiner von ihm damals geplanten Ausreise in das vom IS beherrschte Gebiet nach Syrien in Kenntnis gesetzt und sich erkundigt, welche Schritte er zu setzen habe, um erfolgreich nach Syrien zu reisen und sich dem IS anschließen zu können.
Als mildernd wurden das reumütige und überschießende Geständnis und das Alter von unter 21 Jahren gewertet. Erschwerend wurden das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen und die einschlägige Vorstrafe gewertet.
10. Am 22.05.2018 wurde der BF vom BFA in der Justizanstalt XXXX - XXXX niederschriftlich einvernommen.
Zu seinem Gesundheitszustand befragt, gab der BF an, stabil zu sein, sich wohl zu fühlen und seine Medikamente abgesetzt zu haben.
Zu seinen persönlichen Verhältnissen führte er aus, Tschetschenisch, Russisch, ein wenig Arabisch und perfekt Deutsch zu sprechen. Tschetschenisch und Russisch spreche er nach wie vor. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine nahen Angehörigen seien seine Eltern und seine sieben Geschwister. Er habe die Volks- und Hauptschule besucht und ein Jahr lang den Beruf "Bodenleger" gelernt. Zu Angehörigen in Österreich befragt, nannte der BF einen türkischen und einen österreichischen Staatsbürger.
Betreffend den Kontakt zu seinen Angehörigen im Herkunftsstaat befragt, gab der BF an, gar keinen Kontakt zu haben. Seine Großmutter, zwei Cousins, zwei Onkel und Tanten würden dort leben. Zuletzt habe er im Jahr 2014 telefonischen Kontakt gehabt.
Wenn er keine Arbeit habe, bekomme er Unterstützung vom AMS. Zu seiner Integration in Österreich führte er weiters aus, hier seit 2002 zu leben und ein Jahr gearbeitet zu haben. Eine Verfestigung in der österreichischen Gesellschaft durch ehrenamtliche Tätigkeiten etc. bestehe nicht.
Befragt, wie er rückblickend sein Verhalten im Zusammenhang mit seiner Straffälligkeit sehe, gab der BF an: "Ich habe große Fehler gemacht". Zu seinem weiteren Leben in Österreich gab er an, heiraten und leben oder in einem anderen Land neu durchstarten zu wollen.
Vom BFA befragt, welche konkreten Probleme er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland hätte, gab der BF an, dass sein Vater mit dem "alten Amt" zusammengearbeitet habe und er deswegen politisch verfolgt werde. Nach Vorhalt, dass der BF ein junger, gesunder Mann im arbeitsfähigen Alter sei, der sich dort eine Unterkunft suchen und einer Arbeit nachgehen könne, gab der BF an: "Ich weiß es nicht. Es hänge vom letzten Delikt ab (§ 278a, 278b)".
11. Am 08.11.2019 wurden dem BF aktuelle Länderfeststellungen zur Russischen Föderation sowie Fragen zu seiner Integration in Österreich übermittelt und ihm die Möglichkeit gegeben binnen einer Frist von zwei Wochen eine schriftliche Stellungnahme einzubringen, um Gründe (bzw. neue entscheidungsrelevante Änderungen) namhaft zu machen, die einer Aberkennung des Status entgegenstehen oder eine etwaige Gefährdungslage im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat darlegen würden.
12. Am 28.11.2019 langte die schriftliche Stellungnahme des BF ein. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Vater des BF sei damals der Leibwächter des tschetschenischen Präsidenten ( XXXX ) gewesen und habe somit für die damalige Regierung gearbeitet. Die meisten für diese Regierung tätigen Personen seien von Kadirow getötet worden. Jeder, der den Namen XXXX trage, werde in Tschetschenien gesucht und hingerichtet. Der BF befürchte im Falle einer Rückkehr nach Tschetschenien von Kadirowcy verfolgt und getötet zu werden. Zudem sei es sehr wahrscheinlich, dass die Regierung versuche über den BF an den Vater heranzukommen und bestehe die Gefahr, dass der BF zum Zwecke der Informationsgewinnung gefoltert werde. Aufgrund der in Tschetschenien gelebten Blutrache sei es absehbar, dass Kadirowcy veranlasse, die gesamte Familie zu beseitigen. Sämtliche schriftliche Beweise des Vaters, welche die Tätigkeit für die damalige Regierung belegen würden, seien vom Vater bewusst verbrannt worden. Bestätigen könne dies das internationale Komitee des Roten Kreuzes. Der Vater sei bereits einmal einem Mordversuch durch die tschetschenische Regierung entgangen. Die Personen namens XXXX und XXXX (mit hohen Funktionen für die Regierung) hätten damals eine wesentliche Rolle gespielt, diese seien ebenfalls von der neuen Regierung getötet worden.
Hinsichtlich der vom BFA gestellten Fragen, gab der BF an, es würden sein Vater, seine Ziehmutter, drei Brüder und drei Schwestern in Österreich leben. Seine letzte Wohnadresse in Tschetschenien sei Grosny gewesen. Bezüglich seiner beruflichen Perspektiven verwies der BF auf die beigelegte Teilnahmebestätigung eines Jugendcoachings. Diese zeige seine hohe Motivation bzw. Eignung für eine konkrete berufliche Integration in Österreich.
Mit der Stellungnahme legte der BF folgende Unterlagen vor:
- Teilnahmebestätigung Jugendcoaching;
- Bestätigung des Rates der Tschetschenen und Inguschen über die politische Verfolgung des BF;
- Bericht über die politischen Vorkommnisse in Tschetschenien mit namentlicher Erwähnung des Vaters;
- Berichtes des Roten Kreuzes;
- Fotos des Vaters von der damaligen politischen Tätigkeit;
- Stellungnahme des psychologischen Dienstes zur aktuellen Entwicklung/gefährlichkeitsrelevanten Entwicklung;
- Bericht des islamischen Seelsorgers;
- Bericht des Vereines " XXXX ".
13. Aus einem im Akt einliegenden Aktenvermerk des BFA vom 16.12.2019 geht hervor, dass dem BFA Informationen dahingehend vorliegen, dass der Vater des BF einen Grenzübertritt von Ungarn in die Ukraine mir russischem Reisepass (vom 04.12.2019) gemacht habe und daher Anhaltspunkte vorliegen, dass sich dieser freiwillig dem Schutz seines Herkunftsstaates unterstellt habe. Dem Vater sei am 12.08.2015 auf Antrag ein Reisepass durch die Russische Föderation ausgestellt worden. Der Vater habe durch den Beziehungsaufbau zu den Behörden seines Herkunftsstaates den Willen erkennen lassen, die Beziehung zum Herkunftsstaat zu normalisieren. Durch den tatsächlichen Erhalt des Reisepasses habe er den Schutz der Russischen Föderation auch erhalten. Der Vater habe durch die Handlungen gezeigt, dass er den Status eines international Schutzberechtigten nicht mehr benötige. Es sei von einer Erfüllung des Tatbestandes des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG auszugehen, eine Aberkennung beim Vater sei allerdings erst dann möglich, wenn die Niederlassungsbehörde dem Fremden rechtskräftig einen Aufenthaltstitel (Daueraufenthalt-EU) erteilt habe.
14. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 20.01.2020, erkannte das BFA den mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom 03.08.2005 zuerkannten Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 und 2 AsylG ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass dem BF die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Ferner wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den BF ein auf 10 Jahre befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).
Das BFA stellte fest, dass der BF russischer Staatsangehöriger sei, der Volksgruppe der Tschetschenen angehöre und sich zum muslimischen Glauben bekenne. Er sei in Tschetschenien aufgewachsen und habe bis 2003 dort gelebt. Seine Muttersprache sei Tschetschenisch, er spreche auch Russisch, Inguschisch, etwas Arabisch und Deutsch. Seine Medikamente zur Behandlung der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F 60.3) habe er seit 2018 abgesetzt. Er leide an keiner lebensbedrohlichen Krankheit. Er habe die Volks- und Hauptschule absolviert und ein Jahr lang eine Lehre als Bodenleger gemacht. Er sei ledig und kinderlos. In Österreich würden seine Eltern, sechs Geschwister und eine Nichte leben. In Tschetschenien würden nach wie vor die Großmutter, zwei Cousins, zwei Onkel und zwei Tanten leben. Zu diesen Personen habe er auch über 10 Jahre lang Kontakt gehabt. Er sei in Österreich vier Mal rechtskräftig verurteilt worden und befinde sich derzeit in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher. Aufgrund dieser Verurteilungen stelle er eine Gefahr für die Allgemeinheit und die Sicherheit der Republik Österreich dar.
Eine aktuelle bzw. individuelle Furcht vor Verfolgung in der Russischen Föderation habe er nicht glaubhaft machen können. Im Falle einer Rückkehr habe er in seinem Heimatland keine Gefährdungs- oder Gefahrenlage zu befürchten. Gegen seinen Vater - von welchem er seinen Asylstatus abgeleitet habe - sei am 08.12.2019 ein Aberkennungsverfahren eingeleitet worden. Auch dem Bruder des BF sei der Status des Asylberechtigten bereits aberkannt worden. Er könne seinen Lebensunterhalt in der Russischen Föderation bestreiten und würde dort Arbeits- und Unterstützungsmöglichkeiten durch Familienangehörige/Verwandte vorfinden. Die Lage in Tschetschenien bzw. der Russischen Föderation sei nicht mehr als fragil zu bezeichnen und stehe ihm die Möglichkeit offen, sich in jedem anderen Landesteil der Russischen Föderation niederzulassen.
Beweiswürdigend führte das BFA aus, dass dem BF der Status des Asylberechtigten im Familienverfahren wegen seinem Vater zuerkannt worden sei. Es sei daher zunächst darauf abzustellen, ob der Vater aktuell einer Verfolgungsgefahr in der Russischen Föderation ausgesetzt wäre. Gegen den Vater sei wegen der Meldung eines Grenzübertrittes im Dezember 2019 mit einem russischen Reisepass ein Aberkennungsverfahren eingeleitet worden. Dies sei ein Anhaltspunkt dafür, dass er sich freiwillig dem Schutz des Herkunftsstaates unterstellt habe. Auch hätten sich die Umstände bzw. die Lage in der Russischen Föderation seit damals wesentlich geändert. Es sei daher davon auszugehen, dass dem Vater aktuell keine Verfolgung im Herkunftsland drohe. Der BF selbst habe im Zuge des Aberkennungsverfahrens lediglich vorgebracht, dass er politisch verfolgt werden würde, weil sein Vater mit dem "alten Amt" zusammengearbeitet habe. Auch habe er angegeben, nach der Entlassung aus der Justizanstalt in einem "anderen Land neu durchstarten" zu wollen. Auch in der Stellungnahme habe er lediglich vage vorgebracht, dass jeder, der in Tschetschenien den Namen XXXX trage, gesucht und hingerichtet werden würde (Blutrache). Ansonsten habe er nur allgemeine Berichte der Tschetschenen und Inguschen vorgelegt. Individuelle Fluchtgründe habe er nicht glaubhaft und nicht substantiiert vorgebracht. Weiters sei hervorzuheben, dass Familienangehörige/Verwandte des BF im Herkunftsstaat leben können. Aus den Länderfeststellungen gehe hervor, dass sich die Lage in Tschetschenien in den letzten Jahren stabilisiert habe und der zweite Tschetschenienkrieg keine Auswirkungen mehr auf die Zivilbevölkerung habe. Die Situation nach dem Tschetschenienkrieg sei als nachhaltig befriedet anzusehen und bestehe keine aktuelle Gefahr, Opfer eines innerstaatlichen Konfliktes zu werden. Zusammengefasst sei der BF aktuell in seinem Heimatland keiner Verfolgung ausgesetzt und lasse sich im Falle einer Rückkehr keine Gefährdungslage ableiten. Eine Rückkehr in sein Heimatland sei ihm zumutbar. Der BF könne aber auch eine IFA in Anspruch nehmen. Aus den Länderfeststellungen gehe hervor, dass das Recht des freien Wohnsitzes auch Tschetschenen zustehe. Im Jahr 2010 sei es zu einer Vereinfachung des Registrierungsprozesses - insbesondere für temporäre Registrierungen - gekommen. Dafür müsse man lediglich einen Brief an die zuständige lokale Behörde schicken. Eine Registrierung sei für einen legalen Aufenthalt in der Russischen Föderation unabdingbar. Dieser ermögliche auch den Zugang zu Sozialhilfe und staatlich geförderten Wohnungen, zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt. Allen Staatsbürgern der Russischen Föderation - auch Rückkehrer - würden am Aufenthaltsort registriert werden. Die Registrierung dauere nach dem Gesetz ab Einlagen der Unterlagen drei Tage. Weiters gehe aus den Länderfeststellungen hervor, dass etwa 200.000 Tschetschenen alleine in Moskau leben würden und sei die tschetschenische Diaspora in allen russischen Großstädten in den letzten Jahren stark angewachsen.
Weiters wurde ausgeführt, dass der BF physisch gesund und arbeitsfähig sei. Er befinde sich im erwerbsfähigen Alter, verfüge über Schulbildung und über Berufserfahrung als Bodenleger. Eine grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben könne vorausgesetzt werden. Er könne sich seine Existenz mit Hilfs- und Gelegenheitsjobs sichern. Es würden keine hinreichenden Anhaltspunkte vorliegen, dass der BF in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation gelangen würde und könne er auch Unterstützung von seinen Angehörigen erlangen. Der BF sei bis 2003 in Tschetschenien aufgewachsen und sei daher mit den russischen Traditionen und Gepflogenheiten vertraut.
In rechtlicher Hinsicht wies die belangte Behörde auf die rechtskräftigen Verurteilungen des BF hin. Zum Endigungsgrund des § 7 Abs. 1 Z 2 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 der GFK wurde ausgeführt, dass der BF den Asylstatus nicht aufgrund eigener Fluchtgründe, sondern im Familienverfahren von seinem Vater bekommen habe. Bei einer Person, die den Asylstatus nie aufgrund eigener Fluchtgründe erhalten habe, wäre nach dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung keine Aberkennung möglich. Zu dieser Problematik bestehe eine uneinheitliche Rechtsprechung. Es sei zu prüfen, ob der Vater des BF einer aktuellen Gefährdung ausgesetzt sei. Eine aktuelle Gefährdung des Vaters sei zu verneinen, da gegen diesen bereits ein Aberkennungsverfahren eingeleitet worden sei. Dies wegen der Meldung über den erfolgten Grenzübertritt vom 04.12.2019 mit einem russischen Reisepass, was ein Anhaltspunkt dafür sei, dass sich der Konventionsflüchtling freiwillig wieder dem Schutz seines Herkunftslandes unterstellt habe. Auch im Falle des BF liege keine aktuelle Verfolgungsgefahr in der Russische Föderation im Zusammenhang mit den Vorkommnissen des Vaters im ersten Tschetschenienkrieg vor. Hinsichtlich des Ausschlussgrundes iSd § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG führte die belangte Behörde aus, dass die vom VwGH geforderten vier Voraussetzungen erfüllt seien. Der BF sei am 07.01.2015 wegen Raub, Körperverletzung, schwerer Körperverletzung, versuchter Nötigung und tätlichem Angriff auf einen Beamten zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden. Mit Urteil vom 17.12.2015 sei er wegen des Verbrechens des schweren Raubes (unter Verwendung eines Messers) zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten - mit Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher - verurteilt worden. Laut Sachverständigengutachten habe er zum Tatzeitpunkt unter einer geistigen und seelischen Abartigkeit höheren Grades gelitten, welche zumindest mitursächlich an der Tatbegehung gewesen sei. Weiters sei der Gutachter zum Schluss gekommen, dass mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit der neuerlichen Begehung von Straftaten mit schweren Folgen zu rechnen sei. Die Gefährlichkeitsprognose sei daher zu bejahen. Am 21.06.2016 sei er erneut wegen des Verbrechens des Raubes zu einer Zusatzfreiheitsstrafe von drei Monaten und zu einer Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher verurteilt worden. Mildernd sei das reumütige Geständnis und sein Alter (unter 21) gewertet worden. Erschwerende habe das Gericht das Zusammentreffen mehrerer Strafhandlungen, die einschlägige Vorstrafenbelastung und die Begehung innerhalb offener Probezeit gewertet. Zuletzt sei er am 14.02.2018 wegen der Verbrechens des verbrecherischen Komplotts, der kriminellen Organisation und der terroristischen Vereinigung zur ein unbedingten Zusatzfreiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden. Laut dem Gerichtsurteil sei er bei sämtlichen Taten in der Lage gewesen das Unrecht der Taten einzusehen und sich nach dieser Einsicht gemäß zu verhalten, er habe die Taten jedoch unter dem Einfluss der abnormen Persönlichkeit begangen. Das erkennende Gericht ging davon aus, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit zu befürchten sei, dass der BF unter dem Einfluss seiner geistigen seelischen Abartigkeit höheren Grades abermals derartige Handlungen mit schweren Folgen (Verbrecherisches Komplott, Unterstützung terroristischer Vereinigung und der kriminellen Organisation des IS) oder auch Raubüberfälle mit Gewaltanwendung oder sonstige Delikte mit Gewaltanwendung gegen andere Personen begehen werde. Der BF weise mehrere rechtskräftige Verurteilungen auf, habe zum wiederholten Male Verbrechen begangen und sei trotz Verurteilungen zu Freiheitsstrafen erneut einschlägig straffällig geworden. Die mehrfach einschlägigen Straftaten, die Tatwiederholungen und die Art und Weise der verübten Verbrechen im Zusammenhang mit dem Sachverständigengutachten würden Rückschlüsse auf die bestehende Wiederholungsgefahr des BF zulassen und auch deutlich seine Einstellung gegenüber den Bürgern in Österreich zeigen. Sein Verhalten sei geeignet das ordentliche und sichere Zusammenleben der Gemeinschaft zu gefährden und würde der BF eine erhebliche Gefahr für die Gemeinschaft darstellen. Auch sei die Einschätzung der Justizanstalt in die Zukunftsprognose einzubeziehen. Laut der Stellungnahme der Psychologin der JA XXXX könne trotz des sichtbaren Gefährlichkeitsabbaus im Zusammenhang mit dem Resozialisierungsprozess im derzeitigen Maßnahmenvollzug aufgrund der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung anhand der kriminalprognostischen Verfahren von einem überdurchschnittlichen Risiko für neuerliche Gewaltdelikte ausgegangen werden. Insgesamt sei der BF nicht mit den in Österreich rechtlich geschützten Werten verbunden. Trotz der Beteuerungen des BF, sich bessern zu wollen, könne keine positive Zukunftsprognose erstellt werden. Die Interessen der Republik Österreich würden gegenüber den Interessen des BF überwiegen.
Zur Rückkehrentscheidung wurde ausgeführt, dass seine Eltern, sechs Geschwister und eine Nichte in Österreich leben würden. Es bestehe kein gegenseitiges persönliches oder wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis zu diesen Personen. Der BF halte sich seit 16 Jahren in Österreich auf. Er sei viermal rechtskräftig verurteilt worden und stelle sein Verhalten eine erhebliche Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar. Er lehne die österreichische Rechtsordnung ab bzw. halte sich nicht daran. Sein Familienleben sei nur eingeschränkt schützenswert, da er aufgrund der Straftaten und der darauffolgenden Verurteilungen Trennungen von seiner Familie bewusst in Kauf genommen habe. Es gebe keine berufliche Verankerung im Bundesgebiet und verfüge er auch außerhalb der Familie nicht über derartig enge soziale Kontakte oder Integrationsverfestigungen, die einer Abschiebung entgegenstünden. Den Kontakt zu seinen Familienangehörigen könne er auf andere Weise (brieflich, telefonisch, durch soziale Netzwerke) aufrechterhalten.
Hinsichtlich des verhängten Einreiseverbotes führte die Behörde aus, dass § 53 Abs. 3 Z 1 FPG aufgrund seiner strafgerichtlichen Verurteilungen erfüllt sei. Aufgrund der Schwere seines Fehlverhaltens und der Gestaltung seines bisherigen Lebens in Österreich sei davon auszugehen, dass der BF eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. Zur Bemessung des Einreiseverbotes wurde darauf hingewiesen, dass er den Kontakt zu seiner Familie weiterhin aufrechterhalten könne und werde der Vater nach Erteilung eines Aufenthaltstitels nach dem NAG in der Lage sein, legal in die Russische Föderation zu reisen. Das öffentliche Interesse an Ordnung und Sicherheit überwiege gegenüber dem persönlichen Interesse des BF an einem Verbleib in Österreich. Aufgrund seiner - wiederholten - Verurteilungen wegen Körperverletzung und Raub sowie der letzten Verurteilung wegen der Verbrechen des verbrecherischen Komplotts, der kriminellen Organisation und terroristischen Vereinigung sei die Erlassung eines 10jährigen Einreiseverbotes gerechtfertigt.
15. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 21.01.2020 wurde dem BF für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.
16. Gegen den oben angeführten Bescheid des BFA erhob der BF fristgerecht Beschwerde, worin Rechtwidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften, Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens, mangelhafte Beweiswürdigung und unrichtige rechtliche Beurteilung geltend gemacht wurden. Die belangte Behörde habe es unterlassen, auf das individuelle Vorbringen des BF einzugehen und habe sie die Gesamtbeurteilung anhand der verfügbaren Länderinformationen verabsäumt. Aus den Länderinformationen ergebe sich eindeutig, dass sich die Bedrohungslage für Menschen wie den BF seit seiner Ausreise nicht geändert habe. Das substantiierte Vorbringen des BF vor dem BFA stimme mit den Länderfeststellungen der Russischen Föderation überein. Wie weit man bei einzelnen Fragen oder der freien Erzählung ins Detail gehen müsse, könne der BF nicht wissen, da er deren asylrechtliche Relevanz nicht kenne. Falls asylrelevante Antworten ausgeblieben seien, wäre der BF bereit gewesen, weiter an der Sachverhaltsfeststellung mitzuwirken. Der BF habe auf sämtliche Fragen glaubwürdig und nachvollziehbar geantwortet. Er halte seine Aussagen zu seinen Fluchtgründen, die er in der Einvernahme vor der belangten Behörde gemacht habe aufrecht. Das BFA habe nicht darauf hingewirkt, dass der BF die für die Entscheidung wesentlichen Angaben gemacht habe. Der BF sei aufgrund wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Herkunftslandes aufhältig, da er sonst Gefahr laufen würde physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt zu sein. Die Lage in Tschetschenien sei nach wie vor angespannt. NGOs würden weiterhin schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane (wie Folter, Verschwindenlassen von Personen, Geiselnahme, rechtswidriges Festhalten von Gefangenen und die Fälschung von Straftatbeständen) beklagen. Vorwürfe würden kaum untersucht werden, die Verantwortlichen würden Straflosigkeit genießen. Berichte über Personen, die wegen einfacher Kritik unter Druck gesetzt worden sei, würden sich häufen. Dem BF hätte somit der Status des Asylberechtigten nicht aberkannt werden dürfen. Hinsichtlich des subsidiären Schutzes wurde darauf hingewiesen, dass der BF bei einer Rückkehr einem Klima ständiger Bedrohung, struktureller Gewalt, unmittelbarer Einschränkungen und einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wäre. Er wäre somit mit hoher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt. Auch das verhängte Einreiseverbot sei nicht gerechtfertigt, bzw. die Höhe unangemessen, zumal sich die Kernfamilie des BF in Österreich befinde und er mit seinen Verwandten im Heimatland keinen Kontakt habe. Er sei in Österreich in die Schule gegangen und sei hier sozial verankert. Weiters habe er an einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung gelitten und sei er lediglich derzeit stabil und ohne medikamentöse Behandlung. Eine Rückkehr in sein Heimatland könne zu seinem Rückfall führen und für die Wiedereingliederung problematisch sein. Abschließend wurde die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
17. Am 02.03.2020 teilte das BFA dem Bundesverwaltungsgericht mit, dass dem Vater des BF laut Information der NAG-Behörde ein Aufenthaltstitel erteilt werde und dieser die Karte "Aufenthalt-EU" in spätestens 14 Tagen erhalten werde.
1. Feststellungen:
Der BF ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, Zugehöriger der tschetschenischen Volksgruppe und bekennt sich zum muslimischen Glauben.
Er wuchs in Tschetschenien (Grosny) auf, wo er gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern bis zu seiner Ausreise nach Europa lebte. Zum Zeitpunkt der Ausreise war der BF sieben Jahre alt.
Er reiste am 03.05.2003 gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern in das österreichische Bundesgebiet ein und wurde durch seine gesetzliche Vertretung ein Asylerstreckungsantrag gestellt, welcher vom Bundesasylamtes vom 13.10.2004, Zl. 03 12.751-BAT, abgewiesen wurde.
Die dagegen erhobene Berufung wurde mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom 03.08.2005 stattgegeben und dem BF gemäß §§ 10, 11 Abs. 1 AsylG Asyl - abgeleitet von seinem Vater - gewährt und kraft Gesetzes festgestellt, dass dem BF die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Der BF wurde viermal in Österreich rechtskräftig strafrechtlich verurteilt und zwar:
1.) LG F.STRAFS. XXXX XXXX vom 07.01.2015 (RK 07.01.2015)
§ 15 StGB § 105 (1) StGB
§ 142 (1) StGB § 15 StGB
§§ 83 (1), 84 (2) Z 2 StGB
§ 270 (1) StGB
§§ 83 (1), 84 (1) StGB
Datum der (letzten) Tat: 11.04.2014
Freiheitsstrafe 2 Jahre, bedingt, Probezeit 3 Jahre
Anordnung der Bewährungshilfe
Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 Abs. 2 STGB, bedingt, Probezeit 5 Jahre
Zusatz: Junge(r) Erwachsene(r)
Nachtrag: zu LG F.STRAFS. XXXX XXXX RK 07.01.2015
Probezeit verlängert auf insgesamt 5 Jahre
ausgesprochen durch:
LG F.STRAFS. XXXX XXXX vom 17.12.2015
Nachtrag: zu LG F.STRAFS. XXXX XXXX RK 07.01.2015
Aufhebung der Bewährungshilfe
ausgesprochen durch:
LG F.STRAFS. XXXX XXXX vom 11.02.2016
2.) LG F.STRAFS. XXXX XXXX vom 17.12.2015 (RK 17.12.2015)
§§ 142 (1), 143 2. Fall StGB
Datum der (letzten) Tat: 21.08.2015
Freiheitsstrafe 30 Monate
Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 Abs. 2 STGB
Zusatz: Junge(r) Erwachsene(r)
3.) LG F.STRAFS. XXXX XXXX vom 21.06.2016 RK (21.06.2016)
§ 142 (1) StGB
Datum der (letzten) Tat:19.08.2015
Freiheitsstrafe 3 Monate
Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 Abs. 2 STGB
Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf LG F.STRAFS. XXXX XXXX RK 17.12.2015
Zusatz: Junge(r) Erwachsene(r)
4.) LG F.STRAFS. XXXX XXXX vom 14.02.2018 (RK 06.09.2018)
§ 277 (1) StGB
§ 278b (2) StGB
Datum der (letzten) Tat: 01.04.2017
Freiheitsstrafe 6 Monate
Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 Abs. 2 STGB
Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf LG F.STRAFS. XXXX XXXX RK 17.12.2015
Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf LG F.STRAFS. XXXX XXXX RK 21.06.2016
Im Falle des BF kann keine positive Zukunftsprognose erstellt werden. Der BF hatte alle Möglichkeiten, seine Chancen in Österreich zu nützen und sich zu integrieren, was ihm jedoch, insbesondere vor dem Hintergrund seines strafrechtlichen Verhaltens und der diesbezüglichen Verurteilungen, nicht gelungen ist. Der BF ist im jungen Erwachsenenalter erstmals strafrechtlich in Erscheinung getreten und wurde mittlerweile vier Mal zu bedingten bzw. unbedingten Haftstrafen verurteilt. Der BF hält sich wegen der bereits mehrfach ausgeführten Straftaten derzeit unverändert in einer Justizanstalt (Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher) im Maßnahmenvollzug auf.
Festgestellt wird, dass der BF einen Asylausschlussgrund gemäß § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG verwirklicht hat. Er wurde von einem inländischen Gericht wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt und bedeutet aufgrund dieses strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft. Weiters ist der in Art. 1 Abschnitt C Z 5 der GFK angeführte Endigungsgrund eingetreten.
Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF oder seinem Vater (von welchem der BF seinen Asylstatus seinerseits abgleitet hat) im Falle der Rückkehr eine aktuelle Verfolgung aus asylrelevanten Gründen drohen würde.
Der Vater des BF - XXXX - hat sich einen Reisepass seines Heimatlandes (Russische Föderation) ausstellen lassen und wurde mit diesem Reisepass am 04.12.2019 bei einem Grenzübertritt von Ungarn in die Ukraine betreten. Gegen den Vater des BF wurde daher vom BFA ein Asylaberkennungsverfahren eingeleitet. Laut Information der zuständigen NAG-Behörde wird der Vater des BF zeitnah den Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt-EU" bekommen.
Dem Bruder des BF - XXXX - wurde mit Bescheid des BFA vom 29.03.2017, Zl.: 731275209-160821012 der am 03.08.2005 zuerkannte Status des Asylberechtigten gem. § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG aberkannt, ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt, ein Aufenthaltstitel gem. § 57 AsylG nicht erteilt und gegen den Bruder des BF eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist. Zudem wurde gegen den Bruder gem. § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf fünf Jahre befristetes Einreiseverbot erlassen. Der Bruder des BF erhob gegen diesen Bescheid fristgerecht Beschwerde, welche mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, Zl.: W196 2153294-1/19E als unbegründet abgewiesen wurde. Das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes erwuchs in Rechtskraft.
Der Bruder des BF wurde in Österreich mittlerweile bereits neunmal rechtskräftig strafrechtlich verurteilt und befindet sich derzeit in Strafhaft.
Der BF leidet an einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung (mit dissozialen Elementen, ICD-10: F60.3). Seine Medikamente nimmt er aus eigenem Verlangen nicht mehr ein. Er steht in der Justizanstalt in psychologischer/psychotherapeutischer/psychiatrischer Behandlung und hat dort zahlreiche Therapien gemacht.
Die Eltern sowie die Geschwister (drei Schwestern und drei Brüder) des BF leben in Österreich und sind - bis auf den Bruder XXXX - zum dauerhaften Aufenthalt in Österreich berechtigt. Ein Abhängigkeitsverhältnis zu den in Österreich aufenthaltsberechtigten Familienangehörigen des BF aus gesundheitlichen oder anderen Gründen besteht nicht. Die Beziehung, die im Wesentlichen seit seiner Haftaufenthalte nur durch Besuche in der Haft gelebt wurde, kann auch von der Russischen Föderation aus über elektronische Medien und Internet aufrechterhalten werden.
Der BF ist ledig, kinderlos und hat keine Obsorgeverpflichtungen. Der BF spricht und versteht Deutsch einwandfrei. Zusätzlich spricht und versteht er Tschetschenisch sowie Russisch. Er spricht auch ein wenig Arabisch. In Österreich besuchte der BF im Rahmen der Schulpflicht die Volks- und Hauptschule. Er hat eine Lehre als Bodenleger begonnen, hat diese aber nach einem Jahr wieder abgebrochen. In der Haft nimmt der BF seit Jänner 2019 an einem Jugendcoaching der Volkshochschule teil. Der BF konnte sich nach Eintritt der Volljährigkeit nicht selbständig im Bundesgebiet versorgen.
Der BF stellt weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar. Es kann nicht festgestellt werden, dass beim BF tatsächlich ein Lebenswandel stattfand.
Der BF ist erkennbar in der Lage, Hilfstätigkeiten auszuüben und ist auch arbeitswillig.
Eine Rückkehr des BF in die Russische Föderation stellt keine Verletzung von Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention dar. Im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation droht dem BF weder die Todesstrafe noch eine Haftstrafe unter unmenschlichen Bedingungen, Folter oder unmenschliche Behandlung.
Dem BF droht in der Russischen Föderation keine Doppelbestrafung und auch außerhalb der Strafverfolgung keine Verfolgung auf Grund des der Verurteilung in Österreich zugrundliegenden Verhaltens. Dem BF droht im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation keine Folter oder unmenschliche Behandlung auf Grund seiner Verurteilung in Österreich und des dieser Verurteilung zugrundeliegenden Verhaltens. Ihm droht im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation keine Verfolgung wegen der Asylantragstellung oder wegen des langjährigen Aufenthaltes außerhalb der Russischen Föderation.
Es ist dem BF jedenfalls möglich und zumutbar, sich in der Russischen Föderation, entweder in Tschetschenien selbst oder auch in anderen Landesteilen niederzulassen und anzumelden sowie durch eigene Erwerbstätigkeit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Viele russische Städte verfügen über eine große tschetschenische Diaspora und bieten die stärkeren Metropolen und Regionen Russlands bei vorhandener Arbeitswilligkeit auch Chancen für russische Staatsangehörige aus den Kaukasusrepubliken. Der BF hat auch Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung. Zudem sind weiterhin Verwandte des BF (ua. eine Großmutter, zwei Cousins, zwei Onkel und Tanten) im Heimatland aufhältig und kann der BF den Kontakt zu diesen Personen (notfalls über seine in Österreich lebende Familie) wiederherstellen.
Zur Lage in der Russischen Föderation/Tschetschenien:
1. Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen
Ende 2018 kam es in Tschetschenien wieder zur Verhaftung von Homosexuellen. Laut Angaben des russischen LGBT-Netzwerkes wurden mindestens 40 Frauen und Männer inhaftiert, mindestens zwei sollen im Zuge von Folter getötet worden sein (LGBT Netzwerk 14.1.2019, vgl. Nowaja Gaseta 18.1.2019). Laut dem Leiter des LGBT-Netzwerkes, Igor Kotschetkow, kam es nicht nur zur physischen Bedrohung bis zur Inkaufnahme des Todes der Festgehaltenen, sondern die Sicherheitskräfte sollen auch versucht haben, die Frauen und Männer daran zu hindern, aus der Teilrepublik auszureisen oder vor Gericht zu ziehen (NZZ 18.1.2019, vgl. UN News 13.2.2019). Die Kampagne, deren Muster und auch der Ort der Inhaftierung, eine Anlage in der Stadt Argun, erinnern an eine erste Welle an Verhaftungen von tschetschenischen Homosexuellen vor zwei Jahren. Nach Einschätzung von Menschenrechtsaktivisten gingen die Einschüchterungen, Festnahmen und Gewalttaten gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender weiter. Im Frühsommer 2017 hatte das Ermittlungskomitee von höchster Stelle in Moskau aus wegen starken internationalen Drucks eine Untersuchung der schwerwiegenden Vorwürfe angeordnet. Diese brachte allerdings nie konkrete Resultate (NZZ 18.1.2019, vgl. Nowaja Gaseta 18.1.2019).
Quellen:
- Russisches LGBT-Netzwerk (14.1.2019): New wave of persecution against LGBT people in Chechnya: around 40 people detained, at least two killed, https://lgbtnet.org/en/newseng/new-wave-persecution-against-lgbt-people-chechnya-around-40-people-detained-least-two-killed, Zugriff 28.2.2019
- Nowaja Gaseta (18.1.2019): , https://www.novayagazeta.ru/articles/2019/01/16/79205-legitimnye-zhertvy, Zugriff 28.2.2019
- NZZ - Neue Zürcher Zeitung (18.1.2019): In Tschetschenien hat eine neue Welle der Verfolgung Homosexueller begonnen, https://www.nzz.ch/international/in-tschetschenien-hat-eine-neue-welle-der-verfolgung-homosexueller-begonnen-ld.1452401, Zugriff 28.2.2019
- UN News (13.2.2019): LGBT community in Chechnya faces 'new wave of persecution': UN human rights experts, https://news.un.org/en/story/2019/02/1032641, Zugriff 28.2.2019
Änderungen seit Mai 2018:
Erstens wurde weitere, die Zeugen Jehovas betreffende Literatur in die "Föderale Liste extremistischer Materialien" des Justizministeriums der RF (http://minjust.ru/ru/extremist-materials?field_extremist_content_value) aufgenommen. Es handelt sich dabei um die Positionen 4471, 4472, 4485 bis 4488 und 4502, die aufgrund der Entscheidungen diverser russischer Gerichte am 5.7.2018 bzw. am 31.8.2018 in die Liste aufgenommen wurden. Zweitens wurde der Erlass N 11 "Über die gerichtliche Praxis in Strafsachen zu Verbrechen mit extremistischer Ausrichtung" des Plenums des Obersten Gerichts vom 28.6.2011 am 20.9.2018 novelliert, die Definition der Z 20 Abs. 2, was unter einer Teilnahme an einer extremistischen Organisation iSd Art. 282.2 russ. StGB zu verstehen ist, ist aber ebenso unverändert geblieben wie der Art. 282.2 russ. StGB ("Organisation der Tätigkeit einer extremistischen Organisation") selbst. Auch die Entscheidung des Obersten Gerichts der RF N AKPI 17-238 vom 20. April 2017, mit der das "Leitungszentrum der Zeugen Jehovas in Russland" als extremistische Organisation eingestuft und verboten wurde, ist unverändert gültig.
Unter dem Link http://gorod-che.ru/new/2018/10/10/58877 findet sich ein Artikel vom 10.10.2018, wonach fünf Bewohner der Kirowsker Oblast festgenommen wurden wegen des Versuches, die Tätigkeit einer religiösen Organisation, die die Glaubenslehre der Zeugen Jehovas weiterverbreitet, wieder aufzunehmen. Trotz der Verbotsentscheidung des Obersten Gerichts vom 20.4.2017 hätten die Festgenommenen laut Untersuchungskomitee - in voller Kenntnis der Gerichtsentscheidung - in der Zeit vom 16.8.2017 bis zum 29.9.2018 beschlossen, die religiöse Tätigkeit wieder aufzunehmen.
Unter Beachtung aller konspirativen Maßnahmen hätten sie jedes Mal in neuen Wohnungen Treffen von Jüngern und Teilnehmern der religiösen Vereinigung organisiert. Dort hätten sie biblische Lieder gesungen, die Fertigkeiten bei der Durchführung der missionarischen Tätigkeit vervollkommnet und in der Extremismus-Liste aufgeführte verbotene Literatur studiert (New World Translation of the Holy Scriptures, Nr. 4488 der Liste). Außerdem hätten sie eine verbotene religiöse Organisation finanziert, indem sie ca. 500.000 RUB von den Glaubensanhängern gesammelt hätten. Dieses Geld sei zwischen den Führern der Organisation für die Miete der Räumlichkeiten, für den Erwerb und die Wartung von Computern aufgewendet worden. Der Rest der Summe sei dem Leitungszentrum überwiesen worden.
Art. 282.3 des russ. StGB (http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_10699/51346ce1f845bc43ee6f3eadfa69f65119c941fa/) stellt die Finanzierung einer extremistischen Tätigkeit unter gerichtliche Strafe. Er lautet:
"Art. 282.3 Finanzierung einer extremistischen Tätigkeit
1. Die Zurverfügungstellung oder Sammlung von Mitteln oder die Erbringung finanzieller Dienstleistungen, wissentlich bestimmt für die Finanzierung der Organisation, der Vorbereitung und Begehung zumindest eines der Verbrechen extremistischer Ausrichtung oder für die Sicherstellung der Tätigkeit einer extremistischen Vereinigung oder extremistischen Organisation wird mit einer Geldstrafe in der Höhe von 300.000 bis 700.000 RUB bestraft oder in der Höhe des Arbeits- oder eines anderen Einkommens des Verurteilten für einen Zeitraum von 2 bis 4 Jahren oder mit Zwangsarbeiten für einen Zeitraum von 1 bis 4 Jahren mit dem Entzug des Rechts, bestimmte Positionen einzunehmen oder bestimmte Tätigkeiten auszuüben mit einer Frist bis zu 3 Jahren oder ohne einen solchen und mit einer Beschränkung der Freiheit mit einer Frist bis zu 1 Jahr oder mit Freiheitsstrafe von 3 bis 8 Jahren.
2. Diese Taten, begangen von einer Person unter Ausnutzung ihrer Amtsstellung wird mit einer Geldstrafe in der Höhe von 300.000 bis 700.000 RUB bestraft oder in der Höhe des Arbeits- oder eines anderen Einkommens des Verurteilten für einen Zeitraum von 2 bis 4 Jahren oder ohne eine solche oder mit Zwangsarbeiten für einen Zeitraum von 2 bis 5 Jahren mit dem Entzug des Rechts, bestimmte Positionen einzunehmen oder bestimmte Tätigkeiten auszuüben mit einer Frist bis zu 5 Jahren oder ohne einen solchen und mit einer Beschränkung der Freiheit mit einer Frist von 1 bis zu 2 Jahren oder mit Freiheitsstrafe von 5 bis 10 Jahren.
Anmerkung: Eine Person, die erstmals ein Verbrechen gemäß dieses Art. begangen hat, wird von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit frei, wenn sie mittels rechtzeitiger Benachrichtigung der Behörden oder auf andere Weise die Verhinderung des Verbrechens, das sie finanziert hat, sichergestellt hat, ebenso wenn sie die Verhinderung der Tätigkeit der extremistischen Gesellschaft oder der extremistischen Organisation sichergestellt hat, für deren Sicherstellung der Tätigkeit sie Mittel zur Verfügung gestellt oder gesammelt oder finanzielle Dienstleistungen erbracht hat, wenn in ihren Handlungen kein anderer Straftatbestand enthalten ist."
Teilnahmen an gemeinschaftlichen Zusammenkünften bzw. Missionierungen oder öffentlichen Handlungen (der Zeugen Jehovas) werden also von den russischen Behörden im Lichte der Verbotsentscheidung des Obersten Gerichts, des Auslegungserlasses und der Extremismus-Liste des russischen Justizministeriums im Rahmen der russischen Strafgesetze weiterhin verfolgt.
Eine nochmalige Internetrecherche der ÖB Moskau hat aber weiterhin keine Hinweise erbracht, dass einfache Gläubige der Zeugen Jehovas, die nicht an gemeinschaftlichen Zusammenkünften bzw. Missionierungen oder öffentlichen Handlungen teilnehmen, von legalen Repressionen betroffen wären.
Quellen:
- ÖB Moskau (23.10.2018): Information per Email
Bewegungsfreiheit bzw. Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens.
Bekanntlich werden innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten innerhalb Russlands seitens renommierter Menschenrechtseinrichtungen meist unter Verweis auf die Umtriebe der Schergen des tschetschenischen Machthabers Kadyrow im ganzen Land in Abrede gestellt. Der medialen Berichterstattung zufolge scheint das Netzwerk von Kadyrow auch in der tschetschenischen Diaspora im Ausland tätig zu sein. Dem ist entgegenzuhalten, dass renommierte Denkfabriken auf die hauptsächlich ökonomischen Gründe für die Migration aus dem Nordkaukasus und die Grenzen der Macht von Kadyrow außerhalb Tschetscheniens hinweisen. So sollen laut einer Analyse des Moskauer Carnegie-Zentrums die meisten Tschetschenen derzeit aus rein ökonomischen Gründen emigrieren: Tschetschenien bleibe zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht reiche allerdings nicht über die Grenzen der Teilrepublik hinaus. Zur Förderung der sozio-ökonomischen Entwicklung des Nordkaukasus dient ein eigenständiges Ministerium, das sich dabei gezielt um die Zusammenarbeit mit dem Ausland bemüht (ÖB Moskau 10.10.2018).
Quellen:
- ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email
Rechtsschutz / Justizwesen
Die russischen Behörden zeigen sich durchaus bemüht, den Vorwürfen der Verfolgung von bestimmten Personengruppen in Tschetschenien nachzugehen. Bei einem Treffen mit Präsident Putin Anfang Mai 2017 betonte die russische Ombudsfrau für Menschenrechte allerdings, dass zur Inanspruchnahme von staatlichem Schutz eine gewisse Kooperationsbereitschaft der mutmaßlichen Opfer erforderlich sei. Das von der Ombudsfrau Moskalkova gegenüber Präsident Putin genannte Gesetz sieht staatlichen Schutz von Opfern, Zeugen, Experten und anderen Teilnehmern von Strafverfahren sowie deren Angehörigen vor. Unter den Schutzmaßnahmen sind im Gesetz Bewachung der betroffenen Personen und deren Wohnungen, strengere Schutzmaßnahmen in Bezug auf die personenbezogenen Daten der Betroffenen sowie vorläufige Unterbringung an einem sicheren Ort vorgesehen. Wenn es sich um schwere oder besonders schwere Verbrechen handelt, sind auch Schutzmaßnahmen wie Umsiedlung in andere Regionen, Ausstellung neuer Dokumente, Veränderung des Aussehens etc. möglich. Die Möglichkeiten des russischen Staates zum Schutz von Teilnehmern von Strafverfahren beschränken sich allerdings nicht nur auf den innerstaatlichen Bereich. So wurde im Rahmen der GUS ein internationales Abkommen über den Schutz von Teilnehmern im Strafverfahren erarbeitet, das im Jahr 2006 in Minsk unterzeichnet, im Jahr 2008 von Russland ratifiziert und im Jahr 2009 in Kraft getreten ist. Das Dokument sieht vor, dass die Teilnehmerstaaten einander um Hilfe beim Schutz von Opfern, Zeugen und anderen Teilnehmern von Strafverfahren ersuchen können. Unter den Schutzmaßnahmen sind vorläufige Unterbringungen an einem sicheren Ort in einem der Teilnehmerstaaten, die Umsiedlung der betroffenen Personen in einen der Teilnehmerstaaten, etc. vorgesehen (ÖB Moskau 10.10.2018).
Quellen:
- ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email
2. Politische Lage
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 12.7.2018, vgl. GIZ 7.2018c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2018a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 7.2018a). Wladimir Putin ist im März 2018, bei der Präsidentschaftswahl im Amt mit 76,7% bestätigt worden. Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl ärgster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Parlament - Staatsduma und Föderationsrat - ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als "obere Parlamentskammer" das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus der Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Siebenprozentklausel. Wichtige Parteien sind die regierungsnahen Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist. Die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist, die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern, die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern, die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2018a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 5.2018b).
Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Einordnung der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges, Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2018a, vgl. AA 5.2018b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2018a).
Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum ("exekutive Machtvertikale") deutlich (GIZ 7.2018a).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (5.2018b): Russische Föderation - Außen- und Europapolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederation/201534, Zugriff 1.8.2018
- CIA - Central Intelligence Agency (12.7.2018): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 1.8.2018