TE Bvwg Erkenntnis 2020/2/3 W103 2224317-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.02.2020
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Entscheidungsdatum

03.02.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art. 133 Abs4
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W103 2224317-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Auttrit über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch den XXXX sowie dessen XXXX XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.09.2019, Zl. 1227741207 - 190681514, zu Recht:

A) Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG idgF stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status einer Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation, reiste im Besitz eines österreichischen Schengen-Visums auf dem Luftweg in das Bundesgebiet ein und stellte am 05.07.2019 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Anlässlich ihrer am gleichen Tag abgehaltenen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab sie an, sie sei ethnische Russin, Zeugin Jehovas und verwitwet. Ihr volljähriger Sohn sei anerkannter Flüchtling in Großbritannien. Die Beschwerdeführerin sei Ende Juni 2019 von ihrem Wohnort XXXX über Moskau nach Österreich gereist. Sie sei aus ihrem Herkunftsstaat geflüchtet, da nunmehr auch weibliche Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation verfolgt würden. Ihr Sohn habe über mehrere Jahre die Kongresse ihrer Glaubensrichtung organisiert und sei aus diesem Grund verfolgt worden. Im Juni 2018 sei er mit seiner Familie nach Großbritannien geflüchtet und habe dort einen positiven Asylstatus erhalten. Nachdem mehrere Glaubensschwestern, von denen die Beschwerdeführerin einige persönlich gekannt hätte, festgenommen worden wären, habe sich die Beschwerdeführerin zur Flucht aus der Russischen Föderation entschlossen. Da die Glaubenshäuser der Zeugen Jehovas geschlossen worden wären, hätten sie sich gezwungen gesehen, sich in privaten Wohnungen zu treffen. In der Wohnung der Beschwerdeführerin hätten zweimal wöchentlich Versammlungen ihrer Glaubensgemeinschaft stattgefunden. Da sich dies herumgesprochen hätte, sei das Risiko einer Festnahme für die Beschwerdeführerin sehr hoch gewesen. Sie habe bereits im Jahr 2018 ausreisen wollen, dies sei ihr jedoch aufgrund einer schweren Wirbelsäulenverletzung zum damaligen Zeitpunkt nicht möglich gewesen. Im Falle einer Rückkehr fürchte sie eine Festnahme durch den FSB.

Anlässlich ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 02.08.2019 gab die Beschwerdeführerin im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache und einer Vertrauensperson zusammengefasst an, sie sei gesund und habe bislang wahrheitsgemäße Angaben erstattet. Sie sei im Jahr 1995 als Zeuge Jehovas getauft worden. Ihre Probleme hätten mit dem Verbot der Zeugen Jehovas im April 2017 begonnen. Die Beschwerdeführerin habe bis zu ihrer Ausreise eine Pension bezogen und habe zuletzt in einer Eigentumswohnung in XXXX gelebt, welche nunmehr leer stehe. Die Beschwerdeführerin sei verwitwet, eine volljährige Tochter und deren Ehemann, welche ebenfalls Zeugen Jehovas wären, hielten sich im Herkunftsstaat auf, ihr volljähriger Sohn sei im Juni 2018 mit seiner Familie nach England gegangen, dessen aktueller Aufenthaltsstatus sei der Beschwerdeführerin nicht bekannt. Der Beschwerdeführerin sei im Dezember 2017 ein russischer Auslandsreisepass und im April 2019 ein Visum der Kategorie C zu Tourismuszwecken ausgestellt worden. Bei der Ausstellung habe es jeweils, ebenso wie bei den Kontrollen am Flughafen, keine Probleme gegeben. Im Herkunftsstaat sei sie bislang von keinen Problemen mit staatlichen Institutionen betroffen gewesen und es sei kein Haftbefehl gegen sie aufrecht.

Zum Grund ihrer Flucht traf die Beschwerdeführerin folgende Ausführungen (AS 237):

"Nach dem Verbot der Zeugen Jehovas, war es für uns gefährlich bei den Versammlungen. Man hat uns verboten uns zu versammeln. Deswegen haben wir begonnen uns in Wohnungen zu treffen. Vorwiegend in meiner Wohnung, wo ich gelebt habe. Dort wurden 2x in der Woche Versammlungen abgehalten. Da ich schon vor dem Verbot missioniert habe, wussten alle Nachbarn über meine Religion bescheid. Derzeit werden im Fernseher Sendungen gezeigt, die ein sehr negatives Bild von den Zeugen Jehovas zeigen. Die Zeugen Jehovas werden als Extremisten bezeichnet. Ich hatte immer gute Beziehungen zu meinen Nachbarn. Aber die Nachbarn haben Ihr Verhältnis mir gegenüber geändert. Es war deutlich zu spüren, als die russische Regierung ein Gesetz verabschiedet hat, dass man die Zeugen Jehvoas verraten soll. Es wurde eine große Belohnung dafür versprochen. Die Siedlung in der ich lebte, war klein. Alle die dort lebten, kannten uns als Zeugen Jehovas und wussten wo wir leben. Die Wohnung, in der ich lebe, befindet sich in Listen von staatlichen Behörden. Mein Sohn hat 4 Jahre lang große Kongresse organisiert. In allen Dokumenten und Unterlagen, die er weiter geschickt hat, befand sich seine Adresse. An dieser Adresse habe dann ich gelebt. Alle Schreiben die die Polizei an ihn gerichtet hat, sind an meine Adresse gekommen, an der ich lebte. Deswegen war es 2 Jahre lang mit einer großen Angst verbunden und dort zu treffen. Die Wohnung war auf den Listen. Ich hatte große Angst, aber ich habe noch mehr Angst vor Gott. Mein Telefon wurde 1 Jahr lang abgehört. Ich persönlich habe auch vor meiner Ausreise meines Sohnes gemerkt, dass er beschattet wird. Im Juni 2018 gab es ein Treffen von aktiven Glaubensbrüdern und Glaubensschwestern, den Pionieren. Das war im Haus meines Sohnes. Wir waren ca. 40 Personen. Ich war auch dabei. Wir haben es noch geschafft auseinander zu gehen, weil man uns gewarnt hat. Mein Sohn hat den letzten Monat vor seiner Abreise nicht mehr in seinem Haus gelebt. Ich wusste auch nicht wo er gelebt hat. Aber ich musste zum Haus meines Sohnes hingehen um das Grundstück zu gießen. Ich habe gesehen, dass er beschattet wurde. Es waren zwei junge Männer, die beim Strommast standen. Sie hatten Kabel in der Hand, aber es war nur ein Schein. Sie haben auch nicht gearbeitet. Als ich wegging habe ich mich umgedreht. Sie sind dann weggefahren. In der letzten Zeit hat sich mein Nachbar sehr dafür interessiert, wo mein Sohn ist. Wir haben uns getroffen und es haben alle Nachbarn gesehen, dass die Leute zu mir kommen. Die Lage wurde schlechter. Jetzt werden Wohnungen der Zeugen Jehovas durchsucht. Diese Durchsuchungen sind unterwartet. Es sind brutale Durchsuchungen. Den Leuten werden alle Dokumente weggenommen. Ich bin davon überzeugt, dass man mich beschattet hat. Den Glaubensbrüdern und Glaubensschwestern, die zu mir gekommen sind, sind irgendwelche Männer aufgefallen. Nach der Abreise meines Sohnes war ich in den Listen von Extremisten. Deswegen habe ich beschlossen, auszureisen. Wenn ich damals nicht ausgereist wäre, hätte man mich verhaftet. Was soll ich noch sagen. Ich bin seit 15 Jahren eine Pionierin, deswegen bin ich in den Listen. Wenn man mich durchsucht hätte, hätte man mir meine Dokumente weggenommen."

In Österreich besuche die Beschwerdeführerin die Treffen der Zeugen Jehovas, sie habe bislang keinen Deutschkurs besucht.

Die Beschwerdeführerin legte ein Konvolut an Internet-Auszügen über die Situation der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation, eine Bestätigung der Zeugen Jehovas in Österreich aus Juli 2019, ein Schreiben ihres Sohnes sowie diverse Fotos, welche die Beschwerdeführerin bei Treffen der Zeugen Jehovas zeigen, vor.

Am 08.08.2019 brachte die Beschwerdeführerin eine schriftliche Stellungnahme zu den ihr anlässlich der Einvernahme ausgehändigten Länderinformationen zur Russischen Föderation ein. In dieser wurde zusammengefasst ausgeführt, dass sich die im Länderinformationsblatt dargestellten Informationen zur Lage der Zeugen Jehovas in der Russischen Föderation unter Verweis auf die anlässlich der Einvernahme vorgelegten Pressemeldungen aus dem Internet als unvollständig und nicht hinreichend aktuell erweisen würden. Die Situation der Zeugen Jehovas verschlechtere sich weiterhin drastisch, diese seien zunehmend von vorsätzlichen Menschenrechtsverletzungen betroffen. Aus einem näher angeführten Bericht ergebe sich, dass es im Februar 2019 zur sadistischen Folter von zumindest sieben Zeugen Jehovas im Gebäude des russischen Untersuchungsausschusses gekommen wäre. Die Beschwerdeführerin hätte in Österreich Zeugen Jehovas aus der Russischen Föderation kennengelernt, welche hier negative Bescheide auf ihre Asylanträge bekommen hätten, die ihren Angaben zufolge jedoch bereits auf der Fahndungsliste des FSB stehen würden. Im Falle der Zeugen Jehovas gebe es was das Missionieren und Predigen in der Öffentlichkeit betreffe, zwischen den sogenannten Ältesten und allen anderen Angehörigen der Zeugen Jehovas keine Unterschiede. Im August 2018 sei ein neues föderales Gesetz direkt und konkret über und gegen Zeugen Jehovas erlassen worden. Im April 2017 hätten die Beschwerdeführerin und viele weitere Zeugen Jehovas einen Brief an Präsident Putin unterzeichnet, um gegen das neue Gesetz zu protestieren. Für die Beschwerdeführerin sei es lebenswichtig, ihren Glauben weiterhin auszuüben, was ihr die jetzige russische Regierung verbiete. Dies bedeute, dass für die Beschwerdeführerin in der Russischen Föderation die reale Gefahr bestanden hätte und ihr Verhaftung und Enteignung gedroht hätte, alleine deshalb, da sie in ihrem Haus Zusammenkünfte abgehalten hätte und als Zeuge Jehovas Gott anbeten möchte.

2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 05.09.2019 hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), der Beschwerdeführerin gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Russische Föderation nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), dieser einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.) und deren Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

In der Entscheidungsbegründung hielt das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fest, dass die Beschwerdeführerin der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas angehöre und innerhalb derselben als "einfache Gläubige" keine besondere Funktion innegehabt hätte. Die Beschwerdeführerin sei in der Russischen Föderation von keinen wirtschaftlichen Problemen betroffen gewesen und leide an keinen Erkrankungen. Ihre Tochter und ihr Schwiegersohn, welche ebenfalls den Zeugen Jehovas angehören, würden nach wie vor in der Russischen Föderation leben. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die Beschwerdeführerin einer konkreten persönlichen asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung in der Russischen Föderation durch den Staat oder durch Dritte ausgesetzt gewesen wäre oder solche zukünftig zu befürchten hätte. Die Beschwerdeführerin habe anlässlich ihrer Einvernahme selbst festgehalten, im Vorfeld der Ausreise keiner persönlichen Bedrohung ausgesetzt gewesen zu sein. Glaubhaft sei, dass die Beschwerdeführerin der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas angehöre, es mangle jedoch an der für die Asylgewährung nötigen Eingriffsintensität. Aus den Angaben der Beschwerdeführerin ginge hervor, dass sie einfache Gläubige sei; laut Länderinformationsblatt vom 12.11.2018 würde sich die Entscheidung des Obersten Gerichts vom 20.04.2017 gegen das Leitungszentrum der Zeugen Jehovas in Russland richten. Eine Recherche der Österreichischen Botschaft Moskau habe keine Hinweise erbracht, dass einfache Gläubige der Zeugen Jehovas, die nicht an gemeinschaftlichen Zusammenkünften bzw. Missionierungen oder öffentlichen Handlungen teilnehmen, von legalen Repressalien betroffen wären. Ein weiteres Indiz dafür, dass die Beschwerdeführerin in der Russischen Föderation keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt gewesen wäre, sei der Umstand, dass diese sich im Dezember 2017 problemlos einen Reisepass habe ausstellen lassen und komplikationslos ausgereist wäre. Eine Gefährdung, welche die Zuerkennung von Asyl oder subsidiärem Schutz rechtfertigen würde, sei im Falle der Beschwerdeführerin nicht festzustellen gewesen. Die Beschwerdeführerin habe während des kurzen Zeitraums ihres Aufenthalts im Bundesgebiet keine maßgeblichen privaten oder familiären Bindungen begründet und keine Integrationsverfestigung erlangt, sodass sich der Ausspruch einer Rückkehrentscheidung als zulässig erweise.

3. Mit Schriftsatz vom 02.10.2019 brachte die Beschwerdeführerin durch die nunmehr bevollmächtigte Vertreterin fristgerecht die verfahrensgegenständliche Beschwerde ein und führte in dieser zusammengefasst aus, die Zeugen Jehovas seien in der Russischen Föderation seit 20.04.2017 verboten, diese würden als extremistisch eingestuft und systematisch verfolgt werden. Auch während des Verbotes der Zeugen Jehovas in Russland hätten in der Wohnung der Beschwerdeführerin rund zwei Jahre lang religiöse Zusammenkünfte der Mitgläubigen stattgefunden, was deren Nachbarn mitbekommen hätten. Dem Sohn der Beschwerdeführerin sei im November 2018 Asyl in Großbritannien gewährt worden. Die Beschwerdeführerin habe ebenfalls flüchten müssen, um der im der Berichtslage dokumentierten Gefahr einer Verfolgung und Misshandlung zu entgehen. Die aktuellen Berichte, durch die eine systematische und effektive Einschüchterung, Verfolgung und Diskriminierung der Zeugen Jehovas als Gruppe und als Einzelpersonen dokumentiert werde, beweise, dass die Ansicht der Behörde, wonach "einfache Gläubige" nichts zu befürchten hätten, ein Irrtum wäre. Hinzu komme, dass jedes Mitglied der Zeugen Jehovas die Zusammenkünfte besuche und in missionarischer Weise versuche, die biblische Zukunftshoffnung an Andersgläubige weiterzugeben. Die Behörde behaupte fälschlich und willkürlich, dass eine Verfolgung von einzelnen Zeugen Jehovas nicht stattfände. Im gegenständlichen Fall sei es für die Gewährung von Asyl nicht erforderlich, dass bereits individuelle Verfolgungshandlungen gegen die Beschwerdeführerin gesetzt worden wären; denn aufgrund der unbestrittenen Angehörigkeit zu den Zeugen Jehovas sei die Beschwerdeführerin in der Heimat einem besonders hohen Risiko ausgesetzt, Opfer von persönlicher Verfolgung oder Folter sowie anderer unmenschlicher Behandlung zu werden. Außerdem sei anzuführen, dass bereits durch die staatliche Verhinderung der freien Religionsausübung der Zeugen Jehovas die Schwelle der notwendigen Verfolgungsintensität, die zur Asylgewährung notwendig wäre, erreicht werde. Nach der Rechtsprechung des EuGH sei die Verheimlichung der Religion oder die Aufgabe der religiösen Tätigkeiten nicht zumutbar. Die Beschwerdeführerin befinde sich daher unbeschadet der Frage, ob die Ausreise aus der Heimat problematisch oder unproblematisch erfolgte, aus begründeter Furcht vor Verfolgung aufgrund der religiösen Überzeugung und der offiziellen Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas außerhalb ihres Heimatlandes.

4. Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 11.10.2019 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person und zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:

Die Beschwerdeführerin führt die im Spruch ersichtlichen Personalien, ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, Angehörige der russischen Volksgruppe und aktives Mitglied der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Ihre Identität steht fest. Die aus XXXX stammende Beschwerdeführerin reiste im Juli 2019 im Besitz eines im Dezember 2017 ausgestellten russischen Auslandsreisepasses sowie eines gültigen österreichischen Schengen-Visums der Kategorie C auf dem Luftweg in das österreichische Bundesgebiet ein und hält sich seither im Bundesgebiet auf. Nach Verbot der Zeugen Jehovas im April 2017 fanden in der Wohnung der Beschwerdeführerin regelmäßig Treffen der Glaubensgemeinschaft statt.

Die Beschwerdeführerin hat glaubhaft vorgebracht, dass sie sich aus wohlbegründeter Furcht vor landesweiter religiös motivierter strafrechtlicher Verfolgung außerhalb ihres Herkunftsstaates befindet.

Die Beschwerdeführerin ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation:

...

Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu

Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer "nichtgenehmigten" friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der "Absicht" angenommen haben, die "Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen". NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von "Geständnissen" (AA 21.5.2018).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-

AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018

-

EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

-

FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

-

ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-

US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst FSB, das Untersuchungskomittee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht unter der Kontrolle des Präsidenten, der ihr Oberbefehlshaber ist. Ihre Aufgaben sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, Administrierung von Waffenbesitz, Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, Schutz der Öffentlichen Sicherheit und Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil (US DOS 20.4.2018).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, wenn sie am Schauplatz eines Verbrechens verhaftet werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 20.4.2018).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen "fremdländischen" Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 21.5.2018).

Die im Nordkaukasus agierenden Sicherheitskräfte sind in der Regel maskiert (BAMF 10.2013). Der Großteil der Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus wird Sicherheitskräften zugeschrieben. In Tschetschenien sind sowohl föderale russische als auch lokale tschetschenische Sicherheitskräfte tätig. Letztere werden bezeichnenderweise oft Kadyrowzy genannt, nicht zuletzt, da in der Praxis fast alle tschetschenischen Sicherheitskräfte unter der Kontrolle Ramzan Kadyrows stehen (Rüdisser 11.2012). Ramzan Kadyrows Macht gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen Kadyrowzy. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet und ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Von Seiten des tschetschenischen MVD [Innenministerium] sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hatte angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ersuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch "ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden "unantastbaren Polizeieinheiten" zu tun haben" (EASO 3.2017).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-

BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013):

Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg

-

EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

-

HRW - Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 2.8.2018

-

Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 2.8.2018

-

US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

Folter und unmenschliche Behandlung

Im Einklang mit der EMRK sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von

Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamten gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern oft nicht untersucht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. EASO 3.2017).

Auch 2017 gab es Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land. Die Art und Weise, wie Gefangene transportiert wurden, kam Folter und anderen Misshandlungen gleich und erfüllte in vielen Fällen den Tatbestand des Verschwindenlassens. Die Verlegung in weit entfernte Gefängniskolonien konnte monatelang dauern. Auf dem Weg dorthin wurden die Gefangenen in überfüllte Bahnwaggons und Lastwagen gesperrt und verbrachten bei Zwischenstopps Wochen in Transitzellen. Weder ihre Rechtsbeistände noch ihre Familien erhielten Informationen über den Verbleib der Gefangenen (AI 22.2.2018). Laut Amnesty International und dem russischen "Komitee gegen Folter" kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung. Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig. Untersuchungen von Foltervorwürfen bleiben fast immer folgenlos. Unter Folter erzwungene "Geständnisse" werden vor Gericht als Beweismittel anerkannt (AA 21.5.2018).

Der Folter verdächtigte Polizisten werden meist nur aufgrund von Machtmissbrauch oder einfacher Körperverletzung angeklagt. Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Stunden oder Tagen nach der Inhaftierung. Im Nordkaukasus wird von Folterungen sowohl durch lokale Sicherheitsorganisationen als auch durch Föderale Sicherheitsdienste berichtet. Das Gesetz verlangt von Verwandten von Terroristen, dass sie die Kosten, die durch einen Angriff entstehen übernehmen. Menschenrechtsverteidiger kritisieren dies als Kollektivbestrafung (USDOS 20.4.2018).

Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. außergerichtlichen Tötungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen (FH 1.2018). In der ersten Hälfte des Jahres 2017 wurden die Inhaftierungen und Folterungen von Homosexuellen in Tschetschenien publik (HRW 18.1.2018). Der Umfang der Homosexuellenverfolgung in Tschetschenien ist bis heute unklar. Bis zu 100 Opfer, darunter auch mehrere Tote, werden genannt. Viele der Verfolgten sind aus Tschetschenien geflohen [vgl. hierzu Kapitel19.4 Homosexuelle] (Standard.at 3.11.2017).

Ein zehnminütiges Video der Körperkamera eines Wächters in der Strafkolonie Nr. 1 in Jaroslawl, zeigt einen Insassen, wie er von Wächtern gefoltert wird. Das Video vom Juni 2017 wurde am 20.07.18 von der unabhängigen russischen Zeitung "Novaya Gazeta" veröffentlicht. Das Ermittlungskomitee leitete ein Strafverfahren wegen Amtsmissbrauch mit Gewaltanwendung ein. Verschiedenen Medienberichten zufolge sollen fünf bis sieben an der Folter beteiligte Personen festgenommen und 17 Mitarbeiter der Strafkolonie suspendiert worden sein. Das Video hatte in der russischen Öffentlichkeit große Empörung ausgelöst. Immer wieder berichten Menschenrechtsorganisationen von Misshandlungen und Folter im russischen Strafvollzug (NZZ 23.7.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 2.8.2018

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 2.8.2018

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FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 3.8.2018

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HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World Report 2018 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1422501.html, Zugriff 3.8.2018

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ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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NZZ - Neue Zürcher Zeitung (23.7.2018): Ein Foltervideo setzt Ermittlungen gegen Russlands Strafvollzug in Gang, https://www.nzz.ch/international/foltervideo-setzt-ermittlungen-gegen-russlands-strafvollzug-in-gang-ld.1405939, Zugriff 2.8.2018

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Standard.at (3.11.2017): Putins Beauftragte will Folter in Tschetschenien aufklären,

https://derstandard.at/2000067068023/Putins-Beauftragte-will-Folter-in-Tschetschenien-aufklaeren, Zugriff 3.8.2018

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US DOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html, Zugriff 2.8.2018

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Allgemeine Menschenrechtslage

Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegenden ausständigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Verstärkung des Gerichtshofs (GIZ 7.2018a). Die Verfassung der Russischen Föderation vom Dezember 1993 postuliert, dass die Russische Föderation ein "demokratischer, föderativer Rechtsstaat mit republikanischer Regierungsform" ist. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach "sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems." Russland ist an folgende VN-Übereinkommen gebunden:

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Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)

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Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)

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Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)

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Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004)

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Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987)

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Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001)

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Behindertenrechtskonvention (ratifiziert am 25.09.2012) (AA 21.5.2018).

Der Europarat äußerte sich mehrmals kritisch zur Menschenrechtslage in der Russischen Föderation. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) waren 2016 knapp 10% der anhängigen Fälle Russland zuzurechnen (77.821 Einzelfälle). Der EGMR hat 2016 228 Urteile in Klagen gegen Russland gesprochen. Damit führte Russland die Liste der verhängten Urteile mit großem Abstand an (an zweiter Stelle Türkei mit 88 Urteilen). Die EGMR-Entscheidungen fielen fast ausschließlich zugunsten der Kläger aus (222 von 228 Fällen) und konstatierten mehr oder wenige gravierende Menschenrechtsverletzungen. Zwei Drittel der Fälle betreffen eine Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit. [Zur mangelhaften Anwendung von EGMR-Urteilen durch Russland vgl. Kapitel 4. Rechtsschutz/Justizwesen] (AA 21.5.2018).

Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit wurden 2017 weiter eingeschränkt. Menschenrechtsverteidiger und unabhängige NGOs sahen sich nach wie vor mit Schikanen und Einschüchterungsversuchen konfrontiert (AI 22.2.2018). Auch Journalisten und Aktivisten riskieren Opfer von Gewalt zu werden (FH 1.2018). Staatliche Repressalien, aber auch Selbstzensur, führten zur Einschränkung der kulturellen Rechte. Angehörige religiöser Minderheiten mussten mit Schikanen und Verfolgung rechnen. Das Recht auf ein faires Verfahren wurde häufig verletzt. Folter und andere Misshandlungen waren nach wie vor weit verbreitet. Die Arbeit unabhängiger Organe zur Überprüfung von Haftanstalten wurde weiter erschwert. Im Nordkaukasus kam es auch 2017 zu schweren Menschenrechtsverletzungen (AI 22.2.2018).

Die allgemeine Menschenrechtslage in Russland ist weiterhin durch nachhaltige Einschränkungen der Grundrechte sowie einer unabhängigen Zivilgesellschaft gekennzeichnet. Der Freiraum für die russische Zivilgesellschaft ist in den letzten Jahren schrittweise eingeschränkt worden. Sowohl im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit als auch in der Pressefreiheit wurden restriktive Gesetze verabschiedet, die einen negativen Einfluss auf die Entwicklung einer freien und unabhängigen Zivilgesellschaft ausüben. Inländische wie ausländische NGOs werden zunehmend unter Druck gesetzt. Rechte von Minderheiten werden nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden durch administrative Hürden in ihrer Arbeit eingeschränkt und erfahren in manchen Fällen sogar reale Bedrohungen für Leib und Leben (ÖB Moskau 12.2017, vgl. FH 1.2018, AA 21.5.2018). Im Zuge der illegalen Annexion der Krim im März 2014 und der Krise in der Ostukraine wurde die Gesellschaft v.a. durch staatliche Propaganda nicht nur gegen den Westen mobilisiert, sondern auch gegen die sog. "fünfte Kolonne" innerhalb Russlands. Der Menschenrechtsdialog der EU mit Russland ist derzeit aufgrund prozeduraler Unstimmigkeiten ausgesetzt. Laut einer Umfrage zum Stand der Menschenrechte in Russland durch das Meinungsforschungsinstitut FOM glauben 42% der Befragten nicht, dass die Menschenrechte in Russland eingehalten werden, während 36% der Meinung sind, dass sie sehr wohl eingehalten werden. Die Umfrage ergab, dass die russische Bevölkerung v.a. auf folgende Rechte Wert legt: Recht auf freie medizinische Versorgung (74%), Recht auf Arbeit und gerechte Bezahlung (54%), Recht auf kostenlose Ausbildung (53%), Recht auf Sozialleistungen (43%), Recht auf Eigentum (31%), Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz (31%), Recht auf eine gesunde Umwelt (19%), Recht auf Privatsphäre (16%), Rede- und Meinungsfreiheit (16%). Der Jahresbericht der föderalen Menschenrechtsbeauftragten Tatjana Moskalkowa für das Jahr 2017 bestätigt die Tendenz der russischen Bevölkerung zur Priorisierung der sozialen vor den politischen Rechten. Unter Druck steht auch die Freiheit der Kunst, wie etwa die jüngsten Kontroversen um zeitgenössisch inszenierte Produktionen von Film, Ballett und Theater zeigen (ÖB Moskau 12.2017).

Menschenrechtsorganisationen sehen übereinstimmend bestimmte Teile des Nordkaukasus als den regionalen Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen in Russland. Hintergrund sind die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Extremisten in der Republik Dagestan, daneben auch in Tschetschenien, Inguschetien und Kabardino-Balkarien. Der westliche Nordkaukasus ist hiervon praktisch nicht mehr betroffen. (AA 21.5.2018). Auch 2017 wurden aus dem Nordkaukasus schwere Menschenrechtsverletzungen gemeldet, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen sowie außergerichtliche Hinrichtungen (AI 22.2.2018). Die Menschenrechtslage im Nordkaukasus wird von internationalen Experten weiterhin genau beobachtet. Im Februar 2016 führte das Komitee gegen Folter des Europarats eine Mission in die Republiken Dagestan und Kabardino-Balkarien durch. Auch Vertreter des russischen präsidentiellen Menschenrechtrats bereisten im Juni 2016 den Nordkaukasus und trafen sich mit den einzelnen Republiksoberhäuptern, wobei ein Treffen mit Ramzan Kadyrow abgesagt wurde, nachdem die tschetschenischen Behörden gegen die Teilnahme des Leiters des Komitees gegen Folter Igor Kaljapin protestiert hatten (ÖB Moskau 12.2017).

Der konsultative "Rat zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte" beim russischen Präsidenten unter dem Vorsitz von M. Fedotow übt auch öffentlich Kritik an Menschenrechtsproblemen und setzt sich für Einzelfälle ein. Der Einfluss des Rats ist allerdings begrenzt (AA 21.5.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 8.8.2018

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FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 8.8.2018

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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