TE Vwgh Erkenntnis 2020/2/13 Ra 2019/01/0005

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Veröffentlicht am 13.02.2020
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Index

E3L E19103010
001 Verwaltungsrecht allgemein
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AVG §59 Abs1
FrPolG 2005 §46
FrPolG 2005 §52 Abs2 Z2
FrPolG 2005 §52 Abs9
FrPolG 2005 §55
MRK Art3
VwRallg
32011L0095 Status-RL

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Mag. Brandl als Richter, unter der Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision der S A in E, vertreten durch Mag. Michael Berghofer, Rechtsanwalt in 8330 Feldbach, Bismarkstraße 8, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts

vom 21. November 2018, Zl. W123 2189156-1/10E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang der Abweisung der Beschwerde gegen die Spruchpunkte II. bis VI. des bekämpften Bescheides wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung den Antrag der Revisionswerberin, einer afghanischen Staatsangehörigen, auf internationalen Schutz vom 4. November 2015 in der Sache hinsichtlich der Zuerkennung des Status sowohl der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch der subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte die Zulässigkeit der Abschiebung der Revisionswerberin nach Afghanistan fest (Spruchpunkt V.) und legte eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VI.). Zudem sprach das BVwG aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

2 Begründend führte das BVwG - soweit für das Revisionsverfahren relevant - aus, der Revisionswerberin sei eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat zumutbar. Die zum Entscheidungszeitpunkt fast 54-jährige Revisionswerberin sei eine arbeitsfähige und (abgesehen von Magenbeschwerden und Rückenschmerzen) gesunde Frau, bei der die grundsätzliche Teilnahme am Arbeitsmarkt vorausgesetzt werden könne. Sie stamme aus einem Kulturkreis, in dem großer Wert auf Unterstützung im Familienkreis gelegt werde. Es sei deshalb davon auszugehen, dass ihr Sohn und ihre Tochter sie zu Beginn ihrer Wiederansiedelung unterstützen würden und sie mit deren Hilfe in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat in der Lage sein werde, sich ausreichendes Auskommen zu sichern und sie nicht in eine hoffnungslose Lage kommen werde.

3 Gegen dieses Erkenntnis mit Ausnahme der Abweisung der Beschwerde gegen die Abweisung des Antrags der Revisionswerberin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten richtet sich die vorliegende Revision. Das BFA erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

4 Die Revision ist in Bezug auf den im Zulässigkeitsvorbringen dargelegten Begründungsmangel zulässig und berechtigt. 5 Zu den Voraussetzungen und zum Umfang der innerstaatlichen Fluchtalternative (IFA) nach § 11 Abs. 1 AsylG 2005 kann gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die Entscheidungsgründe des Erkenntnisses vom 23. Jänner 2018, Ra 2018/18/0001, (und die daran anschließende hg. Rechtsprechung) verwiesen werden.

6 Darin hat der Verwaltungsgerichtshof betont, dass das Kriterium der "Zumutbarkeit" nach § 11 Abs. 1 AsylG 2005 im Sinne einer unionsrechtskonformen Auslegung gleichbedeutend mit dem Erfordernis nach Art. 8 Abs. 1 der Statusrichtlinie ist, dass vom Asylwerber vernünftigerweise erwartet werden kann, sich im betreffenden Gebiet seines Herkunftslandes niederzulassen. 7 In der Literatur zur Statusrichtlinie wird in diesem Zusammenhang auf Rechtsprechung des EGMR verwiesen, wonach es Art. 3 EMRK den Staaten nicht untersagt, sich auf das Bestehen einer IFA zu stützen. Der Person muss es aber möglich sein, in das betreffende Gebiet zu reisen, dort Zutritt zu erhalten und sich dort niederzulassen, ohne tatsächlich der Gefahr einer Misshandlung ausgesetzt zu sein (vgl. Agentur der Europäische Union für Grundrechte, Handbuch zu den europarechtlichen Grundlagen im Bereich Asyl, Grenzen und Migration (2014), 86, mit Verweis auf EGMR 28.6.2011, Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 und 11449/07, Z 266).

8 Kann mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller (auf internationalen Schutz) in diesem Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würden, findet, so wird ihm unter dem Aspekt der Sicherheit regelmäßig auch die Inanspruchnahme der innerstaatlichen Fluchtalternative zuzumuten sein. Eine schwierige Lebenssituation (bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht), die ein Antragsteller bei Rückführung in das als innerstaatliche Fluchtalternative geprüfte Gebiet vorfinden würde, reicht für sich betrachtet nicht aus, um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen.

9 Wie der Verwaltungsgerichtshof in dem zitierten Erkenntnis Ra 2018/18/0001, klargemacht hat, handelt es sich bei der "Zumutbarkeit" um ein eigenständiges Kriterium, dem neben Art. 3 EMRK Raum gelassen wird. Wird durch die Behörde nach entsprechender Prüfung die Zumutbarkeit einer IFA in Bezug auf ein Gebiet allgemein bejaht, so obliegt es aber dem Asylwerber, besondere Umstände aufzuzeigen, die gegen die Zumutbarkeit sprechen.

10 Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit der IFA handelt es sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall (vgl. etwa zuletzt VwGH 26.11.2019, Ra 2019/01/0442, Rn. 9, mwN). 11 Vorliegend nahm das BVwG eine derartige einzelfallbezogene Beurteilung vor. Dabei stellte es fest, der Revisionswerberin sei es möglich, sich bei Ansiedlung unter anderem in Mazar-e Sharif oder Herat gemeinsam mit ihrem arbeitsfähigen und gesunden Sohn, dessen Antrag auf internationalen Schutz mit Erkenntnis des BVwG vom 22. November 2018 abgewiesen worden sei, "ein neues Leben aufzubauen" und sie zudem mit finanzieller Hilfe ihrer im Iran lebenden Tochter rechnen könne. Das BVwG bejahte das Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative ausschließlich unter der Annahme, der Sohn und die Tochter der Revisionswerberin würden sie zu Beginn ihrer Ansiedlung unterstützen und ihren Lebensunterhalt sichern können. Diese Beurteilung ist jedoch mit der Feststellung des BVwG, wonach der Sohn seit dem 22. Juni 2018 in der Justizanstalt G-J aufhältig sei, nicht im Einklang zu bringen. Wenn sich im Entscheidungszeitpunkt ihr Sohn in Österreich in Haft befindet, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die oben angeführte Annahme des BVwG zutreffen kann.

12 Daher ist Spruchpunkt II. des angefochtenen Erkenntnisses mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet.

13 Mit der Aufhebung der abweisenden Entscheidung hinsichtlich des Status der subsidiär Schutzberechtigten verlieren auch die amtswegige Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005, die Rückkehrentscheidung sowie die auf die Rückkehrentscheidung aufbauenden Aussprüche nach § 52 Abs. 9 FPG und § 55 FPG ihre Grundlage (vgl. VwGH 21.5.2019, Ro 2019/19/0006, Rn. 54).

14 Das angefochtene Erkenntnis, das hinsichtlich des nicht bekämpften, trennbaren Spruchpunktes der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 unberührt bleibt, war somit bereits wegen des dargelegten Begründungsmangels im genannten Umfang wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

15 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 20

14.

16 Für das fortgesetzte Verfahren wird darauf hingewiesen, dass für den Fall der Verneinung einer zumutbaren IFA auf die Rückkehrmöglichkeit in die Heimatprovinz der Revisionswerberin unter den Gesichtspunkten des Art. 3 EMRK näher einzugehen wäre.

Wien, am 13. Februar 2020

Schlagworte

Trennbarkeit gesonderter AbspruchVerwaltungsrecht allgemein Rechtsquellen VwRallg1

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019010005.L00

Im RIS seit

06.04.2020

Zuletzt aktualisiert am

06.04.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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