Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Wurzer als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer-Zeni-Rennhofer, Dr. Parzmayr und Dr. Faber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. Ing. Mag. R*****, 2. mj J***** und 3. mj L*****, jeweils *****, vertreten durch die Landl & Edelmann Rechtsanwaltspartnerschaft (OG), Vöcklabruck, gegen die beklagte Partei Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, sowie die Nebenintervenientinnen 1. O***** GmbH, *****, und 2. Dr. B*****, beide vertreten durch Dr. Gerhard W. Huber, LL.M., Rechtsanwalt in Linz, wegen (erstklagende Partei) 30.276,70 EUR sA bzw (zweit- und drittklagende Parteien) 30.687,50 EUR sA sowie jeweils wegen Rente und Feststellung, über den Rekurs der klagenden Parteien gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 18. September 2019, GZ 4 R 96/19v-75, mit dem das Teilurteil des Landesgerichts Wels vom 16. Mai 2019, GZ 3 Cg 9/17h-69, teilweise aufgehoben wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem
Rekurs wird nicht Folge gegeben.
Die klagenden Parteien sind schuldig, der beklagten Partei die mit 2.150,93 EUR und den Nebenintervenientinnen deren mit 2.693,23 EUR (darin 448,87 EUR USt) bestimmte Kosten des Rekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
Die Ehefrau des Erstklägers und Mutter der Zweit- und Drittkläger unternahm am Morgen des 10. 12. 2015 durch Einnahme einer Überdosis Rohypnol einen Suizidversuch. Nachdem sie am Nachmittag desselben Tages in die geschlossene psychiatrische Abteilung des von der Erstnebenintervenientin betriebenen Krankenhauses aufgenommen und von der Zweitnebenintervenientin untersucht worden war, verübte sie am Abend im Bad ihres Patientenzimmers Suizid durch Strangulation mit dem Brauseschlauch.
Die hinterbliebenen Kläger begehren aus dem Titel der Amtshaftung Schadenersatz sowie die Feststellung der Haftung für Folgeschäden aus dem Suizid. Sie werfen der Beklagten im Wesentlichen vor, dass das ihr zuzurechnende Krankenhauspersonal trotz erkennbar akuter Suizidgefahr die erforderliche engmaschige Überwachung der in einem regulären (nicht „suizidsicher“ ausgestatteten) Patientenzimmer untergebrachten Verstorbenen unterlassen habe.
Das Erstgericht sprach mit Teilurteil einen Großteil des begehrten Schadenersatzes zu (abgewiesen wurde nur ein geringfügiges „Spesenbegehren“ sowie ein Teil des Zinsenbegehrens) und gab auch dem Feststellungsbegehren statt. Über die begehrte Rente wurde noch nicht entschieden. Ein weiterer Suizidversuch sei aus ärztlicher Sicht höchst evident und die Unterbringung in einem nur teilweise (nämlich nicht im Bad) videoüberwachten Zimmer, dessen Ausstattung den Suizid begünstigt habe, nicht angezeigt gewesen. Da das Krankenhauspersonal – ungeachtet der zumindest teilweise bestehenden Sedierung der Patientin durch das beim ersten Suizidversuch eingenommene Rohypnol – keine Maßnahmen (etwa eine Dauer-[video-]beobachtung, Sedierung, Fixierung oder ein Versperren des Bads und Öffnung nur auf Verlangen) getroffen habe, um der erkennbaren Suizidgefahr entgegenzuwirken, habe es grob fahrlässig gehandelt.
Das Berufungsgericht hob den klagestattgebenden Teil dieser Entscheidung auf und trug dem Erstgericht zur Frage, inwieweit aufgrund der bestehenden Sedierung der Patientin die Gefahr eines weiteren Suizidversuchs erkennbar war, eine Verbreiterung der Tatsachengrundlage durch Einholung eines pharmakologischen Gutachtens und Ergänzung des psychiatrischen Gutachtens auf. Welche Maßnahmen zur Verhinderung des Suizids eines untergebrachten Patienten erforderlich und zulässig seien, sei jeweils im Einzelfall zu beurteilen, wobei es maßgeblich auf die Erkennbarkeit der Gefahr ankomme. Auf das Unterlassen einer umfassenden Videoüberwachung (auch im Bereich der „Nasszelle“) könne die Haftung der Beklagten nicht gestützt werden, weil dies einen derart weitgehenden Eingriff darstellen würde, der schon im Hinblick auf die stets zu berücksichtigende Möglichkeit gelinderer Mittel nicht unerlässlich und verhältnismäßig sei.
Der Rekurs sei zulässig, weil keine Rechtsprechung dazu bestehe, ob bei Suizidgefahr über die (teilweise) Videoüberwachung des Patientenzimmers (ausgenommen das Bad) sowie regelmäßige Kontrollgänge des Pflegepersonals hinausgehende (Schutz-)Maßnahmen zu verlangen seien.
Der dagegen erhobene Rekurs der Kläger ist zur Klarstellung zulässig, aber nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
1.1. Der Amtshaftung unterliegen auch die mit dem Vollzug einer Unterbringung zusammenhängenden Beschränkungen und Behandlungen (1 Ob 109/13f; 1 Ob 128/15b je mwN). Ein Organverhalten durch Unterlassung ist rechtswidrig, wenn und soweit eine Handlungspflicht bestand und pflichtgemäßes Handeln den Schaden verhindert hätte (RIS-Justiz RS0081378 [T3]). Voraussetzung für die Haftung ist, dass eine von Amts wegen zu treffende Maßnahme schuldhaft nicht gesetzt wurde (vgl RS0081378 [T12]). Die Unterbringung suizidgefährdeter Personen hat den Erfordernissen einer nach medizinischen Kenntnissen fachgerechten Überwachung bzw den Standards der
Suizidprävention zu entsprechen, wobei entscheidend ist, ob für ein fachkundiges (§ 1299 ABGB; vgl RS0026514) Krankenhauspersonal eine naheliegende und vorhersehbare Gefahrenquelle bestand (vgl RS0023902; siehe auch 1 Ob 128/15b).
1.2. Auf Basis dieser Rechtsprechung ging das Berufungsgericht selbst davon aus, dass die Frage, ob die Organe der Beklagten weitere Maßnahmen zur Verhinderung des Suizids treffen hätten müssen, stets im Einzelfall zu beurteilen ist (vgl 1 Ob 128/15b; RS0075878 [T4]). Dass es dabei auch auf den (genauen) Sedierungsgrad der Patientin durch die Überdosierung von Rohypnol und dessen Erkennbarkeit durch das Krankenhauspersonal ankommt, wurde bereits in der – dem angefochtenen Beschluss zugrundegelegten – Entscheidung 1 Ob 128/15b ausgesprochen. Wenn das Berufungsgericht die Frage, ob der Suizid aufgrund des noch nicht vollständig abgebauten Rohypnols vorhersehbar war, ausgehend von seiner zutreffenden Rechtsansicht als auf Tatsachenebene noch nicht ausreichend geklärt ansieht, so kann der Oberste Gerichtshof, der nicht Tatsacheninstanz ist, dem nicht entgegentreten und die Einschätzung einer notwendigen Verbreiterung der Tatsachengrundlage korrigieren (vgl RS0042179). Zweck des Rekurses ist nur die Überprüfung der dem Aufhebungsbeschluss zugrundeliegenden Rechtsansicht. Ist diese – wie hier – grundsätzlich richtig, kann in dritter Instanz nicht überprüft werden, ob und inwieweit
sich eine vom Berufungsgericht angeordnete Ergänzung des Verfahrens oder der Feststellungen tatsächlich als notwendig erweist (vgl RS0043414 [T12]; RS0042179 [T17, T22]).
2. Auch zur baulichen Ausstattung des Patientenzimmers (insbesondere des Bads) ging das Berufungsgericht erkennbar davon aus, dass die Beurteilung, ob die Unterbringung der suizidgefährdeten Patientin im konkreten Zimmer, in dem eben die erkennbare (vgl 1 Ob 128/15b) Gefahr einer Strangulation mit dem Badeschlauch bestand, sorgfaltswidrig war, davon abhänge, wie der laufende Abbau des Rohypnols und der damit verbundene Sedierungsgrad vom Krankenhauspersonal eingeschätzt werden musste. Wenn es auch dazu die Erweiterung der Tatsachengrundlage anordnete, kann dem
– wie dargelegt – der Oberste Gerichtshof nicht entgegentreten.
3. Soweit das Berufungsgericht die Ansicht vertritt, die Haftung der Beklagten könne keinesfalls darauf gestützt werden, dass eine umfassende (sämtliche Bereiche des Patientenzimmers erfassende) Videoüberwachung unterlassen worden sei, kann dem in dieser Allgemeinheit nicht zugestimmt werden. Das Berufungsgericht hob selbst hervor, dass die Beantwortung der Frage, welche Maßnahmen zur Verhinderung des Suizids der Patientin getroffen werden hätten müssen, von der konkret erkennbaren Suizidgefahr abhängt. Es führte auch zutreffend aus, dass nach der im Zeitpunkt der Unterbringung im Dezember 2015 geltenden Bestimmung des § 50a Abs 3 DSG 2000 eine Videoüberwachung im lebenswichtigen Interesse des Betroffenen zulässig gewesen wäre. Ob eine umfassende Videoüberwachung aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden (Einzel-)Falls zum Schutz der Patientin zumindest für eine gewisse Zeit (insbesondere bis zur – nach den erstinstanzlichen Feststellungen – für 21:00 Uhr geplanten Verabreichung sedierender Medikamente) erforderlich und aufgrund einer Abwägung mit anderen konkret zur Verfügung stehenden Maßnahmen zur Suizidprävention verhältnismäßig gewesen wäre, hängt aber ebenfalls davon ab, inwieweit die Suizidgefahr für das Krankenhauspersonal erkennbar war, wozu das Berufungsgericht – in dritter Instanz unüberprüfbar – eine weitere Aufklärung des Sachverhalts für notwendig erachtete. Es hat daher im Ergebnis bei der Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils zu bleiben.
4. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens vor dem Obersten Gerichtshof beruht auf den §§ 41 und 50 Abs 1 ZPO.
Textnummer
E127167European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2019:0010OB00220.19P.1216.000Im RIS seit
30.01.2020Zuletzt aktualisiert am
20.08.2020