TE Vwgh Erkenntnis 2018/1/23 Ra 2017/20/0286

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Veröffentlicht am 23.01.2018
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG);
10/07 Verwaltungsgerichtshof;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1;
B-VG Art133 Abs4;
VwGG §25a Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z3 lita;
VwGG §42 Abs2 Z3;

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2017/20/0287 Ra 2017/20/0289 Ra 2017/20/0288

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler sowie die Hofrätin Dr. Leonhartsberger und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts jeweils vom 14. Juni 2017, 1) Zl. W163 2138262-1/12E (prot. zur hg. Zl. Ra 2017/20/0286), 2) Zl. W163 2138261-1/13E (prot. zur hg. Zl. Ra 2017/20/0287), 3) Zl. W163 2138260-1/11E (prot. zur hg. Zl. Ra 2017/20/0288) und 4) Zl. W163 2138263-1/9E (prot. zur hg. Zl. Ra 2017/20/0289), betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Parteien: 1. M M, 2. Ma M,

3. Mah M, 4. Mat M, alle in Knittelfeld, alle vertreten durch die Reif und Partner Rechtsanwälte OG in 8020 Graz, Brückenkopfgasse 1/8), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung der Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1 Die Mitbeteiligten, eine Familie aus Afghanistan, Schiiten und der tadschikischen Volksgruppe angehörend, stellten Anträge auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund gaben sie an, dass der Zweitmitbeteiligte in Afghanistan mit Leuten, die seinen Vater umgebracht hätten, Probleme gehabt hätte. Er sei telefonisch von diesen Leuten bedroht worden. Zudem sei die allgemeine Lage in Afghanistan schlecht gewesen. Die übrigen Mitbeteiligten hätten keine eigenen Fluchtgründe.

2 Mit Bescheiden jeweils vom 9. Oktober 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der Mitbeteiligten auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurden den Mitbeteiligten nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wurden gegen sie Rückkehrentscheidungen nach § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung der Mitbeteiligten nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.).

3 In den gegen die Bescheide rechtzeitig erhobenen Beschwerden brachten die Mitbeteiligten nochmals vor, dass der Zweitmitbeteiligte von den Mördern seines Vaters bedroht worden sei und Drohanrufe bekommen habe. Zudem sei der afghanische Staat nicht in der Lage, den Mitbeteiligten ausreichend Schutz zu gewähren.

4 Mit den nunmehr angefochtenen Erkenntnissen gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, den Beschwerden hinsichtlich Spruchpunkt I. der Bescheide statt und erkannte der Erstmitbeteiligten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG und den Zweit- bis Viertmitbeteiligten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 AsylG den Status von Asylberechtigten zu. Weiters sprach es aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5 Begründend stellte das BVwG fest, die Erstmitbeteiligte sei von ihrer persönlichen Wertehaltung her überwiegend an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert. In seiner Beweiswürdigung führte das BVwG aus, dass sich diese Feststellung aus dem selbstbewussten Auftreten der Erstmitbeteiligten in der mündlichen Verhandlung ergebe. Die persönliche und nach außen offen dargelegte Wertehaltung der Erstmitbeteiligten an ein würdiges Leben als Frau, ihre Absicht, berufstätig und selbstständig zu sein, stehe zu der in Afghanistan weiterhin vorherrschenden Situation für Frauen im völligen Gegensatz. Auch die in der mündlichen Verhandlung dargelegte Auffassung zum selbstbestimmten Leben, der bereits im Iran erworbenen Ausbildung als Geburtshelferin sowie die im Bundesgebiet erworbenen Sprachkenntnisse seien dahingehende Indizien gewesen.

6 Hinsichtlich der Zweit- bis Viertmitbeteiligten führte das BVwG aus, dass keine in ihrer Person gelegenen, eigenen Fluchtgründe hervorgekommen seien.

7 Gegen diese Erkenntnisse richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des BFA. Das BVwG legte die Revision und die Verfahrensakten vor.

8 In der Amtsrevision wird zur Zulässigkeit im Wesentlichen vorgebracht, die Erstmitbeteiligte habe sich im behördlichen Verfahren sowie in der Beschwerde auf dieselben Ursachen für die Ausreise wie ihr Ehemann berufen. In der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG seien die Erst- und der Zweitmitbeteiligte nicht zu den Fluchtgründen befragt worden. Die Feststellungen und die Beweiswürdigung des BVwG seien nicht nachvollziehbar und unschlüssig. Das BVwG stütze sich in seiner Entscheidung auf die westliche Lebensführung der Erstmitbeteiligten, die jedoch ein solches Vorbringen im gesamten Verfahren nicht erstattet habe. Das BVwG weiche somit von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Beweiswürdigung und zur Ermittlungspflicht ab und es liege zudem eine Aktenwidrigkeit vor.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens und Erstattung einer Revisionsbeantwortung durch die mitbeteiligten Parteien in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet. 11 Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung wird dann

aufgeworfen, wenn eine Annahme des Verwaltungsgerichtes in unvertretbarer Weise unter Außerachtlassung tragender Verfahrensgrundsätze nicht mit den vorgelegten Akten übereinstimmt (VwGH 17.11.2015, Ra 2015/22/0021, mwN).

12 Der Verwaltungsgerichtshof ist als Rechtsinstanz tätig, zur Überprüfung der Beweiswürdigung ist er im Allgemeinen nicht berufen. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG liegt - als Abweichung von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - allerdings dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat. Wie der Verwaltungsgerichtshof schon zu dem gemäß § 17 VwGVG auch von den Verwaltungsgerichten anzuwendenden § 45 Abs. 2 AVG ausgesprochen hat, bedeutet der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht, dass der in der Begründung der (nunmehr verwaltungsgerichtlichen) Entscheidung niederzulegende Denkvorgang der Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof nicht unterliegt. Die Bestimmung des § 45 Abs. 2 AVG hat nur zur Folge, dass die Würdigung der Beweise keinen gesetzlichen Regeln unterworfen ist. Dies schließt aber eine Kontrolle in die Richtung nicht aus, ob der Sachverhalt genügend erhoben ist und ob die bei der Beweiswürdigung vorgenommenen Erwägungen schlüssig sind, also nicht den Denkgesetzen und dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut widersprechen. Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Verwaltungsgerichtshof auch zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat. Hingegen ist der zur Rechtskontrolle berufene Verwaltungsgerichtshof nicht berechtigt, eine Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichtes, die einer Überprüfung unter den genannten Gesichtspunkten standhält, auf ihre Richtigkeit hin zu beurteilen, das heißt, sie mit der Begründung zu verwerfen, dass auch ein anderer Ablauf der Ereignisse bzw. ein anderer Sachverhalt schlüssig begründbar wäre (vgl. VwGH 18.10.2017, Ra 2017/19/0051, mwN).

13 Im vorliegenden Fall stützte sich das BVwG für seine Feststellungen zur westlichen Orientierung der Erstmitbeteiligten auf ihr "durchwegs selbstbewusstes Auftreten" in der mündlichen Verhandlung. Das BVwG führte aus, dass die glaubhaft dargelegte Auffassung zum selbstbestimmten Leben, die bereits im Iran erworbene Ausbildung der Erstmitbeteiligten als Geburtshelferin sowie die im Bundesgebiet erworbenen Sprachkenntnisse "dahingehende Indizien" gewesen seien. Das BVwG legt allerdings nicht nachvollziehbar dar, auf welche Angaben der Erstmitbeteiligten in der mündlichen Verhandlung es seine Feststellungen stützt. Die Erstmitbeteiligte hat im gesamten Verfahren und auch in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht.

14 Die Beurteilung eines Fluchtvorbringens, das die Antragsteller im Asylverfahren nicht erstattet haben, begründet eine Rechtswidrigkeit der angefochtenen Erkenntnisse wegen Aktenwidrigkeit (vgl. VwGH 9.9.2010, 2007/20/0558 bis 0560). Die Relevanz für das Verfahrensergebnis ist schon deshalb nicht auszuschließen, weil sich das BVwG mit den tatsächlich vorgebrachten Fluchtgründen der Mitbeteiligten inhaltlich nicht auseinandersetzte (VwGH 9.9.2010, 2006/20/0446 und 2007/20/0362).

15 Die Schlussfolgerung des BVwG, dass die Erstmitbeteiligte durch ihre Angaben in der mündlichen Verhandlung aufgrund einer behaupteten westlichen Orientierung (vgl. zu "westlicher Lebensstil bzw. Orientierung" VwGH 22.3.2017, Ra 2016/18/0388) einer Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt sei, ist nicht nachvollziehbar und aktenwidrig.

Die Erkenntnisse waren daher bereits aus diesen Gründen wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. a und c VwGG aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen einzugehen war.

Wien, am 23. Jänner 2018

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017200286.L00

Im RIS seit

14.02.2018

Zuletzt aktualisiert am

28.02.2018
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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