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19/05 Menschenrechte;Norm
FrG 1997 §57 Abs1;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zeizinger und die Hofräte Dr. Robl, Dr. Rosenmayr, Dr. Pelant und Dr. Enzenhofer als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Ferchenbauer, über die Beschwerde des F, (geboren am 1. April 1972), vertreten durch
Dr. Martin Dellasega, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Burgenland vom 11. Mai 1998, Zl. Fr-279/98, betreffend Feststellung gemäß § 75 des Fremdengesetzes, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
I.
1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Burgenland (der belangten Behörde) vom 11. Mai 1998 wurde auf Grund des Antrages des Beschwerdeführers, eines Staatsangehörigen von Sierra Leone, gemäß § 75 Abs. 1 des Fremdengesetzes 1997 - FrG, BGBl. I Nr. 75, festgestellt, dass keine stichhaltigen Gründe für die Annahme bestünden, dass er in diesem Staat gemäß § 57 Abs. 1 oder Abs. 2 FrG bedroht sei. Seine Abschiebung dorthin sei daher zulässig.
Der Beschwerdeführer hatte (nach Ausweis der vorgelegten Verwaltungsakten) bei seiner Vernehmung vor der Bezirkshauptmannschaft Mattersburg (der erstinstanzlichen Behörde) am 20. Dezember 1997 u.a. Folgendes angegeben: Er habe, nachdem er im Juli 1997 mit dem Schiff Sierra Leone verlassen habe, am 19. Dezember 1997 von Ungarn kommend die österreichische Staatsgrenze überschritten, habe nie einen Reisepass besessen und sei nicht in der Lage, seine Identität nachzuweisen. Er wolle deshalb in Österreich einen Asylantrag stellen, weil in seiner Heimat Krieg herrsche, seine Eltern und sein älterer Bruder getötet worden seien und er Angst gehabt habe, sein Leben zu verlieren.
Bei seiner Vernehmung vor dem Bundesasylamt am 23. Dezember 1997 gab der Beschwerdeführer (nach Ausweis der vorgelegten Verwaltungsakten) an, als Angehöriger der Volksgruppe der Kreolen in Freetown aufgewachsen zu sein, wo er bei seiner Mutter und seiner Schwester gewohnt habe. Sein Vater sei irgendwann zwischen Mai und Juli 1997 bei einer der Unruhen (in Sierra Leone) ums Leben gekommen. Auf die Frage, inwieweit der Beschwerdeführer persönlich und direkt von den Ereignissen in Freetown betroffen worden sei, gab er an, dass sein Vater tot und alles vernichtet worden sei. Mutter und Schwester habe er nicht mehr gesehen, und es gebe nichts mehr, wo man schlafen könnte, sowie kein Geld mehr. Auf Vorhalt, dass diese Behauptung nicht der Realität entspreche, weil Freetown nicht zerstört und ein Leben dort nicht unmöglich sei, gab er an, dass dies richtig sei und nur das Haus seines Vaters zerstört worden sei. Wer dies zerstört habe, wisse er nicht. Seine Mutter und Schwester habe er nicht mehr gesehen. Es würden junge Männer einfach verschleppt und jeden Tag Leute umgebracht, sodass er keine Sicherheit mehr habe. Müsste er zurückkehren, dann müsste er sterben. In Sierra Leone herrsche Bürgerkrieg. Er sei deshalb nicht in einen anderen Teil von Freetown oder auf das Land geflüchtet, weil überall gekämpft werde.
Seinen Antrag auf Feststellung der Unzulässigkeit seiner Abschiebung begründete der Beschwerdeführer damit, dass er bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs in Sierra Leone im Sommer 1997 gemeinsam mit seiner Familie in Freetown gelebt habe, im Zug der Kampfhandlungen das Haus seiner Familie von Bürgerkriegsparteien gezielt angegriffen worden sei und er Augenzeuge geworden sei, wie sein Vater von Aufständischen gezielt getötet worden sei. Es sei davon auszugehen, dass in Sierra Leone die gesamte Familie des Beschwerdeführers am Leben bedroht sei, zumal es bisher zu keinem Friedensschluss zwischen den Bürgerkriegsparteien gekommen sei und die Militärjunta gegen die afrikanische Friedenstruppe Ecomog Krieg führe.
Im angefochtenen Bescheid führte die belangte Behörde nach Wiedergabe des wesentlichen Inhalts der vom Beschwerdeführer gegen den erstinstanzlichen Bescheid erhobenen Berufung und der maßgeblichen Gesetzesbestimmungen begründend aus, dass sie sich der von der erstinstanzlichen Behörde vorgenommenen Beweiswürdigung anschließe und im erstinstanzlichen Bescheid zu Recht darauf hingewiesen worden sei, dass der Beschwerdeführer bei seiner Einvernahme im Asylverfahren den angeblichen Tod seines Vaters allgemein auf Unruhen zurückgeführt habe, um dann durch Fragen in die Enge getrieben zu erklären, es wäre nur das Haus seines Vaters zerstört worden, wobei er nicht wüsste, wer dies getan hätte. Gänzlich anders laute seine Darstellung in der Niederschrift im Asylverfahren vom 20. März 1997 (nach Ausweis der vorgelegten Verwaltungsakten richtig: Niederschrift der erstinstanzlichen Behörde vom 20. Dezember 1997), wo er nicht von einem "Ums-Leben-Kommen", sondern davon gesprochen habe, dass nicht nur sein Vater, sondern seine Eltern und sein älterer Bruder getötet worden wären. Von einem Bruder sei in der anderen Niederschrift (offensichtlich gemeint: vom 23. Dezember 1997) überhaupt nicht die Rede, und er habe (dort) angegeben, bei seiner Mutter und seiner Schwester - und nicht bei seinem Vater - gelebt zu haben. Den Angaben des Beschwerdeführers hinsichtlich der zentralen Frage der Verfolgungsgründe sei daher jede Glaubwürdigkeit abzusprechen.
Ebenso wenig könne der Berufungsbehauptung, die Behörde hätte keine Nachforschungen über die derzeitige Situation in Sierra Leone angestellt, gefolgt werden. Bestandteil der Verwaltungsakten sei der (den Asylantrag des Beschwerdeführers abweisende) Bescheid des Bundesasylamtes (vom 23. Dezember 1997), in dem (auf den Seiten 3 und 4) die derzeitige Situation im Heimatland des Beschwerdeführers ausführlich dargestellt worden sei, wobei dieser Beschreibung der Verhältnisse auch aktuelle Berichte über die Vorgänge in Sierra Leone im Sommer 1997 zu Grunde gelegt worden seien. (Nach Ausweis der vorgelegten Verwaltungsakten hat das Bundesasylamt in diesem Bescheid u.a. ausgeführt, dass in Sierra Leone die Bürgerkriegsgefahr latent gegeben sei, aber nicht davon gesprochen werden könne, dass eine landesweite allgemeine extreme Gefährdungslage für Bürger dieses Staates, so auch für eventuell dorthin Zurückgeschobene, gegeben sei. Für Rückkehrer bestehe die Möglichkeit, sich in nicht von Bürgerkriegshandlungen betroffene Landesteile zu begeben. Diese Feststellungen stütze das Bundesasylamt auf eigene Dokumentationsunterlagen und aktuelle Nachrichten in den internationalen Medien.)
2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
3. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat der Fremde im Rahmen eines Feststellungsverfahrens nach § 75 FrG das Bestehen einer aktuellen, also im Fall der Abschiebung des Fremden in den von seinem Antrag erfassten Staat dort gegebenen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abwendbaren Bedrohung im Sinn des § 57 Abs. 1 und/oder Abs. 2 FrG glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerter Angaben darzutun ist. Ebenso wie im Asylverfahren ist auch im Verfahren nach § 75 FrG die konkrete Einzelsituation in ihrer Gesamtheit, gegebenenfalls vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse, in Form einer Prognose für den gedachten Fall der Abschiebung des Fremden in diesen Staat zu beurteilen. Für diese Beurteilung ist nicht unmaßgeblich, ob etwa allenfalls gehäufte Verstöße der in § 57 Abs. 1 FrG umschriebenen Art durch den genannten Staat bekannt geworden sind. (Vgl. zum Ganzen etwa das Erkenntnis vom 7. Juli 1999, Zl. 99/18/0080, mwN.)
2. Die belangte Behörde, die sich in ihrem Bescheid den beweiswürdigenden Ausführungen der erstinstanzlichen Behörde anschloss, hat dem Vorbringen des Beschwerdeführers zu seiner Bedrohung durch Bürgerkriegshandlungen in Sierra Leone (u.a.) mit der Begründung die Glaubwürdigkeit versagt, dass er einerseits angegeben habe, dass er bei seiner Mutter und Schwester in Freetown gelebt hätte und (lediglich) sein Vater im Zug von Unruhen ums Leben gekommen wäre, während er bei einer anderen Vernehmung ausgesagt habe, dass seine Eltern und sein Bruder getötet worden wären.
Die Beschwerde geht auf diesen Widerspruch in den Aussagen des Beschwerdeführers im Einzelnen nicht ein, sondern bringt vor, dass, auch wenn sich dessen Angaben nicht in jedem Detail deckten, im Zug einer vorweggenommenen Beweiswürdigung nicht willkürlich eine Widersprüchlichkeit seiner Angaben "konstruiert" werden dürfe, die letztlich seine gesamte Aussage als unglaubwürdig erscheinen ließe. Berücksichtige man die schrecklichen Erlebnisse des Beschwerdeführers vor seiner Flucht, könne von ihm nicht erwartet werden, dass er in einem (für ihn) fremden Land vor fremden Personen in einer fremden Sprache bei jedem "Interview" konzentrierte, zeitlich und inhaltlich geordnete Angaben über seine Erlebnisse mache, und verwundere es nicht, dass er auf Grund seiner Traumatisierung Details verwechsle und vertausche. Mit diesem Vorbringen vermag die Beschwerde jedoch die genannte Divergenz in den Angaben des Beschwerdeführers nicht aufzuklären, zumal es wohl kein bloß unwesentliches Detail ist, wer von den nächsten Angehörigen ums Leben gekommen sei. Vor diesem Hintergrund vermag der Gerichtshof im Rahmen der ihm zukommenden Überprüfungsbefugnis (vgl. dazu das hg. Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 3. Oktober 1985, Zl. 85/02/0053) die Würdigung der Angaben des Beschwerdeführers durch die belangte Behörde nicht als unschlüssig zu erkennen.
3.1. Die Beschwerde macht weiters geltend, dass in Sierra Leone Bürgerkrieg herrsche und die Behörde keine Ermittlungen zur Bürgerkriegssituation durch Einholung der Auskünfte des Ludwig Boltzmann-Instituts Wien, des UNHCR, des Internationalen Roten Kreuzes und des "Helsinki human rights watch institute" angestellt habe.
3.2. Dieses Vorbringen ist zielführend.
Die belangte Behörde hat zwar das Vorbringen des Beschwerdeführers betreffend den Angriff gegen sein Elternhaus und die Tötung von einem oder mehreren seiner Familienangehörigen durch Aufständische als unglaubwürdig gewertet, ihn jedoch entsprechend seinem Vorbringen als Staatsangehörigen von Sierra Leone und diesen Staat als sein Heimatland bezeichnet sowie auch sein weiteres Vorbringen, dass er im Juli 1997 diesen Staat verlassen habe, nicht als unglaubwürdig angesehen. Den weiteren Angaben des Beschwerdeführers im Verwaltungsverfahren bzw. Asylverfahren, dass in Sierra Leone Bürgerkrieg herrsche, überall gekämpft werde, jeden Tag Leute umgebracht würden, er daher Angst gehabt habe, sein Leben zu verlieren, und es bisher zu keinem Friedensschluss zwischen den Bürgerkriegsparteien gekommen sei, hat die belangte Behörde - wie auch schon die erstinstanzliche Behörde - die vom Bundesasylamt im Bescheid vom 23. Dezember 1997 unter Bezugnahme auf "eigene Dokumentationsunterlagen" und "aktuelle Nachrichten in den internationalen Medien" getroffenen Ausführungen entgegengehalten, denen zufolge in Sierra Leone die Bürgerkriegsgefahr (zwar) latent gegeben sei, aber nicht davon gesprochen werden könne, dass eine landesweite extreme Gefährdungslage bestünde, und dass (dorthin) zurückgeschobene Staatsangehörige die Möglichkeiten hätten, sich in nicht von Bürgerkriegshandlungen betroffene Landesteile zu begeben. In seiner gegen den erstinstanzlichen Bescheid erhobenen Berufung vom 5. Mai 1998 hat der Beschwerdeführer vorgebracht, dass in diesem Staat nach wie vor Bürgerkrieg herrsche und der Staat nicht in der Lage sei, die Bevölkerung vor rivalisierenden Bürgerkriegsgruppen zu beschützen, weshalb er sich im Fall seiner Rückkehr dorthin in größter Gefahr im Sinn des § 57 FrG befinden würde, und sich zum Beweis dafür auf von der belangten Behörde einzuholende Stellungnahmen des Internationalen Roten Kreuzes, des Ludwig Boltzmann-Instituts Wien, des UNHCR und des "Helsinki human rights watch institute" berufen.
Mit diesen Beweisanträgen hat sich die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid nicht auseinander gesetzt, sondern auf die vorzitierten Ausführungen des Bundesasylamtes verwiesen. Wenn die Beschwerde daher als Verfahrensmangel geltend macht, dass die belangte Behörde über die Beweisanträge hinweggegangen sei, so kommt dieser Verfahrensrüge Berechtigung zu: Die Relevanz des Verfahrensmangels ist gegeben. Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen hat (vgl. etwa das zum Fremdengesetz BGBl. Nr. 838/1992 ergangene, wegen der insoweit nicht geänderten Rechtslage auch hier maßgebliche hg. Erkenntnis vom 27. Jänner 2000, Zl. 96/21/0032, mwN), kann die Verfolgung eine Bevölkerungsgruppe durch eine andere bei Fehlen einer stabilen räumlichen Abgrenzung der Bürgerkriegsparteien eine hier maßgebliche Gefährdung des Einzelnen zur Folge haben. Führt demgemäß eine in einem Land gegebene Bürgerkriegssituation dazu, dass keine ausreichend funktionierende Ordnungsmacht mehr vorhanden und damit zu rechnen ist, dass ein dorthin abgeschobener Fremder - auch ohne Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bürgerkriegspartei oder verfolgten Bevölkerungsgruppe - mit erheblicher Wahrscheinlichkeit der in § 57 Abs. 1 FrG umschriebenen Gefahr (im gesamten Staatsgebiet) unmittelbar ausgesetzt sein würde, so wäre dies im Rahmen einer Feststellung gemäß § 75 FrG beachtlich. Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn auf Grund der bewaffneten Auseinandersetzungen eine derart extreme Gefahrenlage besteht, dass praktisch jedem, der in diesen Staat abgeschoben würde, Gefahren für Leib und Leben in einem Maß drohten, dass die Abschiebung im Licht des Art. 3 EMRK unzulässig erschiene.
Sollte sich auf Grund der vom Beschwerdeführer ins Treffen geführten, obzitierten Berichte ergeben, dass im gesamten Staatsgebiet von Sierra Leone eine derart extreme Gefahrenlage im vorgenannten Sinn besteht und es keine räumlich stabil abgegrenzten Einflusszonen der Bürgerkriegsparteien gibt, sodass die Abschiebung des Beschwerdeführers in einen für ihn sicheren Teil des Staatsgebietes nicht erfolgen könnte (zum letztgenannten Gesichtspunkt vgl. etwa das zum Fremdengesetz BGBl. Nr. 838/1992 ergangene, wegen der insoweit nicht geänderten Rechtslage auch hier maßgebliche hg. Erkenntnis vom 27. November 1998, Zl. 95/21/0344, mwN), wäre seine Abschiebung in diesen Staat gemäß § 57 Abs. 1 FrG unzulässig.
4. Nach dem Gesagten liegt ein wesentlicher Verfahrens- und Begründungsmangel vor, weshalb der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.
5. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994. Wien, am 5. Oktober 2000
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2000:1998210369.X00Im RIS seit
05.02.2001