TE AsylGH Erkenntnis 2013/07/10 E2 414209-1/2010

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Veröffentlicht am 10.07.2013
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Spruch

E2 414.209-1/2010/24E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. HUBER-HUBER als Vorsitzenden und die Richterin Dr. FAHRNER als Beisitzerin über die Beschwerde des XXXX, geb. XXXX, StA. Türkei, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 21.06.2010, FZ. 09 15.449-BAS, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.06.2013 zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des bekämpften Bescheides wird stattgegeben und festgestellt, dass die Ausweisung des XXXX aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Türkei gemäß § 10 Abs. 2 Z. 2 iVm § 10 Abs 5 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idgF auf Dauer unzulässig ist.

Text

Entscheidungsgründe:

 

I. VERFAHRENSGANG UND SACHVERHALT.

 

1. Der Beschwerdeführer reiste am 10.12.2009 illegal in das Bundesgebeit von Österreich ein und stellte am 13.12.2009 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Zur Begründung des Antrages führte er bei der Erstbefragung am 14.12.2009 aus, er sei Kurde und werde in der Türkei unterdrückt. In XXXXsei er mehrmals festgenommen worden, weil er an Demonstrationen teilgenommen hätte.

 

2. Am 26.04.2010 wurde der Beschwerdeführer asylbehördlich einvernommen und zu konkreten Gründen befragt, die zur Ausreise geführt hatten. Er gab an, auf Kurden und Aleviten gäbe es immer wieder rassistische Angriffe und sie würden oft von der Polizei in Gewahrsam genommen. Seine Familie sei jahrelang unterdrückt und sein Bruder umgebracht worden. Der Bruder habe immer wieder an Kundgebungen und Demonstrationen teilgenommen und sei deshalb in Polizeigewahrsam genommen worden. Dort habe man ihn "grün und blau" geschlagen. Der Bruder habe deshalb auch an den Hoden operiert werden müssen. 1999 sei er an den Verletzungen verstorben. Mit seiner Freundin habe er darüber gesprochen, dass er zur Guerilla in die Berge gehen wollte. Er sei im militärischen Sperrgebiet tot aufgefunden worden, was genau passiert ist, wüsste man nicht. Ein Jahr nach dem Tod seines Bruders sei auch seine Mutter gestorben. Sie habe aus Kummer an Krebs gelitten. In seiner Heimatstadt seien alle aktiv am Widerstand beteiligt. Die Polizei habe grundlos und willkürlich Leute verhaftet, wenn es Aktionen gegeben hatte. Einer seiner Cousins sei lange Jahre bei der PKK gewesen. Dieser habe sich den Behörden selbst gestellt. Ein anderer Cousin habe mit falschen Dokumenten zuerst in XXXX gelebt und lebe derzeit in Deutschland. Alle Familienmitglieder seien verdächtigt worden, mit der PKK zu tun zu haben. Es seien bei ihm zu Hause mehrmals Hausdurchsuchungen durchgeführt worden und er sei gefragt worden, ob er mit seinem Bruder Kontakt habe und was dieser in der Stadt mache. Die lezte Hausdurchsuchung habe vor zwei drei Jahren stattgefunden. Durch die Hausdurchsuchungen habe der Vater einen Herzinfarkt erlitten und dieser sei nun "im Kopf krank, wie ein kleines Kind". Dem Beschwerdeführer sei von der Polizei auch einmal die Fingerabdrücke abgenommen worden, als er in XXXX als Konditor gearbeitet hätte, wo es einen Streit mit Rechtsradikalen gegeben habe.

 

Der Beschwerdeführer legte eine Bestätigung vom Kurdischen Kulturverein in XXXX vor, wonach er Mitglied dieses Vereines sei und an den Aktivitäten "arbeitswillig" teilgenommen hätte.

 

Das Bundesasylamt brachte dem Beschwerdeführer Länderfeststellungen zum Herkunftsland Türkei zu Kenntnis und räumte ihm die Möglichkeit ein, binnen Frist von 2 Wochen Stellung zu nehmen.

 

3. Am 10.05.2010 wurde eine schriftliche Stellungnahme abgegeben. Mit der Stellungnahme wurde ein Bericht von Amnesty International zum Thema Folter und Misshandlung in Haft sowie eine handschriftlich verfasste Darstellung zur eigenen Situation in türkischer Sprache abgegeben.

 

4. Das Bundesasylamt ließ die handschriftlichen Ausführungen des Beschwerdeführers übersetzen und übermittelte dem Beschwerdeführer weitere, speziell auf das Vorbringen abgestimmte Ermittlungsergebnisse zur Herkunftsregion des Beschwerdeführers und erteilte ihm neuerlich eine Frist von 2 Wochen zur Abgaben einer Stellungnahme.

 

5. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 21.06.2010 wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom 13.12.2009 bezüglich Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten sowie bezüglich des Status eines subsidiär Schutzberechtigten nach den §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 AsylG 2005 jeweils in Verbindung mit § 2 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen. Mit gleichem Bescheid wurde der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Türkei ausgewiesen.

 

Das Bundesasylamt erachtete das Vorbringen des Beschwerdeführers als nicht asylrelevant bzw. in Bezug auf den Ausreisezeitpunkt nicht hinreichend aktuell, erkannte keinerlei Abschiebungshindernisse und beurteilte die Ausweisung des Beschwerdeführers in die Türkei wegen überwiegender öffentlicher Interessen als gerechtfertigt.

 

5. Gegen diesen Bescheid brachte der Beschwerdeführer durch seinen ausgewiesenen Vertreter rechtzeitig das Rechtsmittel der Beschwerde ein. In der Beschwerdeschrift wird unrichtige rechtliche Würdigung des Vorbringens sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht und ausgeführt, der Beschwerdeführer sei mehrmals bei Demonstrationen von der Polizei festgenommen, verschleppt und im Zuge dessen mehrmals gefoltert worden. Die Polizei habe ihm außerdem mit angesetzter Pistole gedroht, ihn wie seinen Bruder umzubringen. Durch die Häufung in Intensität der gegen ihn und seine Familie seit Jahren gesetzten Verfolgungshandlungen sei eine Schwere erreicht worden, die die Grenze zur Asylrelevanz übersteige. Der Beschwerdeführer sei nicht nur verhört und befragt, sondern darüber hinaus gefoltert und misshandelt worden. Dies haber er als Erstes bei der Einvernahme beim Bundesasylamt gesagt. Seine Ausführungen seien jedoch unterbrochen worden und es sei in diesem entscheidenden Punkt nicht mehr weiter nachgefragt worden. Es obliege der Behörde in diesem Kernpunkt seiner Aussage den entscheidungswesentlichen Sachverhalt zu erheben und eine fehlende Beweisbarkeit von ihm vorsätzlich zugefügten Verletzungen (Bruch des Vorderfußes bzw. Bänderriss) kein Grund sein kann, nicht zumindest nach den genauen Umständen und dem Tathergang zu fragen. Erst danach sei es möglich, sich eine Meinung über den Wahrheitsgehalt und die Glaubwürdigkeit der Aussage zu bilden. Die belangte Behörde habe sich mit den neuesten Entwicklungen in der Südosttürkei nicht auseinandergesetzt. Die Verhältnisse hätten sich in den letzten Wochen und Monaten gravierend geändert. (In der Folge verweist die Beschwerdeschrift auf aktuelle Medienberichte, in denen Einzelereignisse im Konflikt zwischen PKK und türkischen Regierungstruppen berichtet werden.) Dies lasse im Falle der Rückkehr eine reale Gefahr der Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK befürchten.

 

6. Mit Verfahrensanordnung vom 24.10.2011 wurde dem Beschwerdeführer die ARGE-Rechtsberatung als Rechtsberaterin amtswegig zur Seite gestellt.

 

7. Der Asylgerichtshof hat den Parteien mit Schreiben vom 07.02.2013 aktuelle Länderfeststellungen zum Herkunftsland Türkei übermittelt und ihnen Gelegenheit gegeben, dazu binnen Frist von 2 Wochen Stellung zu nehmen. Der Beschwerdeführer wurde außerdem aufgefordert, sämtliche weitere, für seinen Antrag sprechende Umstände sowie Änderungen seiner persönlichen und familiären Verhältnisse in Österreich und sonstige seine Integration betreffenden Umstände anher bekanntzugeben. Das Bundesasylamt hat keine Stellungnahme abgegeben.

 

8. Mit Eingabe vom 25.02.2013 langte die Stellungnahme des Beschwerdeführers beim Asylgerichtshof ein. Darin wird ausgeführt, Folter und Misshandlungen durch staatliche Organe seien in der Türkei im Steigen begriffen. Diese werde in mehreren (zitierten) Quellen berichtet. Das Verbot der DTP durch das türkische Verfassungsgericht habe einen Rückschritt in der Lösung des Kurdenproblems in der Türkei gebracht. Gewaltfreier Ausdruck kritischer Meinungen und Ansichten zur Kurdensache würden weiterhin verfolgt. Beschränkungen der Pressefreiheit stellten nach wie vor ein Problem dar. Die Rechtsprechung des türkischen obersten Gerichtshofes "verhöhne" ("flout") internationale Menschenrechte und die Entscheidungen des EGMR und sie demonstriere damit eine institutionalisierte Reformresistenz. Demonstranten und Unterstützer der PKK würden von den Gerichten gleich wie Mitglieder militanter Gruppierungen bzw. der PKK behandelt. Hunderte von ihnen - darunter ein signifikanter Anteil von Kindern - seien verurteilt worden oder sei gegen sie wegen Teilnahme an manchmal gewalttätigen Demonstrationen ein Verfahren anhängig. Viele von ihnen befänden sich in verlängerter Untersuchungshaft.

 

Der Beschwerdeführer sei seit seiner Ankunft bemüht, sich in die österreichische Gesellschaft zu integrieren und versuche ständig, sich in Deutsch zu verbessern und habe bereits mehrere Deutschkurse besucht. Seit März 2011 sei er auch mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet und verfüge er sei November 2011 über einen bis 11.11.2013 gültigen Aufenthaltstitel als Familienangehöriger. Er sei gelernter Koch und habe eine Einstellungszusage von einer Firma in Wien. Neben seiner Ehefrau lebe auch ein Bruder in XXXX und er habe mit diesem regelmäßigen telefonischen Kontakt sowie würden sie sich ca. 10 Mal pro Monat auch persönlich treffen.

 

II. DER ASYLGERICHTSHOF HAT ERWOGEN.

 

1. Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in den erstinstanzlichen Verfahrensakt unter besonderer Berücksichtigung der Angaben des Beschwerdeführers vor der Erstinstanz, der von ihm vorgelegten Bescheinigungs- und Beweismittel, der Bescheidausführungen und der Ausführungen in der Beschwerde sowie durch persönliche Befragung des Beschwerdeführers in einer öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung am 04.06.2013.

 

2. Festgestellter Sachverhalt:

 

2.1. Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, stammt aus der türkischen Provinz E., ist türkischer Staatsangehöriger und kurdischer Volskgruppenzugehörigkeit. Er gehört der islamischen Religion an, bezeichnet sich als Alevite, besuchte in seiner Heimat eine Grund- und Hauptschule und spricht die Sprachen Kurdisch und Türkisch. In Österreich hat er sich Deutsch auf Niveau B1 angeeignet. In seiner Heimat verdiente er sich den Lebensunterhalt als Zuckerbäcker. Den Militärdienst hat der Beschwerdeführer in den Jahren 2000 bis 2001 als einfacher Soldat abgeleistet.

 

Anfang Dezember 2009 hat der Beschwerdeführer illegal, von Schleppern unterstützt - nach seinen Angaben auf einem LKW versteckt - das Herkunftsland verlassen und gelangte er so nach Österreich, wo er 3 Tage nach seiner Einreise den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

 

2.2. Der Beschwerdeführer hat in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Asylgerichtshof am 04.06.2013 die Beschwerde gegen Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides zurückgezogen. Der Antrag auf internationalen Schutz gilt daher mit dieser Erklärung des Beschwerdeführers hinsichtlich des Status des Asylberechtigten bzw. des Status eines subsidiär Schutzberechtigten als rechtskräftig abgewiesen.

 

2.3. Die als Zeugin zur mündlichen Beschwerdeverhandlung geladene Ehegattin des Beschwerdeführers hat sich mittels Schreiben, welches am 04.06.2013 beim Asylgerichtshof einlangte, nach telefonischem Aviso für das Nichterscheinen an der mündlichen Verhandlung entschuldigt, wobei sie sich auf die Wettersituation (Hochwasser) bezog.

 

3. Beweiswürdigung

 

3.1. Die Feststellungen zur Person, Herkunft, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie privaten und familiären Verhältnissen des Beschwerdeführers ergeben sich aus dem vorliegenden türkischen Personalausweis (Nüfus) und seinen Angaben, die insoweit schlüssig und plausibel sind, sowie aus den aktuell eingeholten Auszügen aus dem Zentralen Melderegister (ZMR) und den darin enthaltenen Angaben - im Hinblick auf das Familienleben auch auf den ZMR-Auszug seine Ehegattin betreffend. Die Eheschließung in Österreich ist durch die beigebrachte Heiratsurkunde belegt. Der Besuch von Deutschkursen ist mit vom Beschwerdeführer vorgelegten, unbedenklichen Kursbesuchsbestätigungen belegt. Zum Nachweis des Aufenthaltstitels wurde eine Kopie der XXXX ausgestellten Aufenthaltskarte vorgelegt.

 

4. Rechtliche Beurteilung

 

4.1. Gemäß § 9 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Asylgerichtshof, BGBl. I, Nr. 4/2008 idgF (Asylgerichtshofgesetz - Asy1GHG) entscheidet der Asylgerichtshof in Senaten, soweit eine Entscheidung durch einen Einzelrichter oder Kammersenat nicht bundesgesetzlich vorgesehen ist. Gemäß § 61 Abs. 3 AsylG 2005 entscheidet der Asylgerichtshof über Beschwerden gegen zurückweisende Bescheide nach den §§ 4 und 5 AsylG 2005 und nach § 68 AVG durch Einzelrichter. Gemäß § 42 AsylG 2005 entscheidet der Asylgerichtshof bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung oder Rechtsfragen, die sich in einer erheblichen Anzahl von anhängigen oder in naher Zukunft zu erwartender Verfahren stellt, sowie gemäß § 11 Abs. 4 AsyIGHG, wenn im zuständigen Senat kein Entscheidungsentwurf die Zustimmung des Senates findet durch einen Kammersenat. Im vorliegenden Verfahren liegen weder die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch einen Einzelrichter noch die für eine Entscheidung durch den Kammersenat vor. Die einfachgesetzliche Zuständigkeit für die Entscheidung des Asylgerichtshofes ergibt sich aus § 61 Abs. 1 AsylG 2005.

 

Gemäß § 23 Absatz 1 AsyIGHG sind, soweit sich aus dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 (AVG), BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt, weshalb im gegenständlichen Fall im hier ersichtlichen Umfang das Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 - AVG, BGBl. Nr.51 zur Anwendung gelangt.

 

4.2. Gemäß § 66 Abs. 4 AVG hat das erkennende Gericht, sofern die Beschwerde nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Es ist berechtigt, im Spruch und in der Begründung seine Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern.

 

5. Da der Beschwerdeführer die Beschwerde gegen Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides in der mündlichen Beschwerdeverhandlung zurückgezogen hat, sind diese Entscheidungen des Bundesasylamtes in Rechtskraft erwachsen und war das Beschwerdeverfahren insoweit einzustellen.

 

6. Zu Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides:

 

6.1. Gemäß § 10 Abs 1 Ziffer 2 AsylG idF 135/2009 ist die Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Ausweisung zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird.

 

Gemäß § 10 Absatz 2 ist die Ausweisung unzulässig wenn

 

1. dem Fremden im Einzelfall ein nicht auf dieses Bundesgesetz gestütztes Aufenthaltsrecht zukommt oder

 

2. diese eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen würden. Dabei sind insbesondere zu berücksichtigen:

 

a) die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war;

 

b) das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;

 

c) die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;

 

d) der Grad der Integration;

 

e) die Bindungen zum Herkunftsstaat des Fremden;

 

f) die strafgerichtliche Unbescholtenheit;

 

g) Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

 

h) die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren;

 

i) die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

 

Der Gesetzgeber beabsichtigt durch die zwingend vorgesehen Ausweisung von Asylwerbern eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung im Inland von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragstellung im Inland aufhalten durften, zu verhindern (VfGH 17.03.2005, G 78/04 ua.). Wie bei fremdenpolizeilichen Ausweisungen ist die asylrechtliche Ausweisung jedoch nicht obligatorisch mit der Abweisung des Antrags und der Nicht-Zuerkennung des subsidiären Schutzes zu verbinden. Diese ist zu unterlassen, wenn sie eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen würde.

 

6.2. Gemäß Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

 

Gemäß Art 8 Abs 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig und in diesem Sinne auch verhältnismäßig ist.

 

Das Recht auf Achtung des Familienlebens iSd Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (EGMR Kroon, VfGH 28.06.2003, G 78/00).

 

Der Begriff des Familienlebens ist jedoch nicht nur auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere "de facto Beziehungen" ein; maßgebend ist beispielsweise das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (EGMR Marckx, EGMR 23.04.1997, X ua).

 

Eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen fällt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) nur dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. dazu auch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 9. Juni 2006, B 1277/04, unter Hinweis auf die Judikatur des EGMR; des Weiteren auch das Erkenntnis des VwGH vom 26. Jänner 2006, Zl. 2002/20/0423 und die darauf aufbauende Folgejudikatur, etwa die Erkenntnisse vom 26. Jänner 2006, Zl. 2002/20/0235, vom 8. Juni 2006, Zl. 2003/01/0600, vom 22. August 2006, Zl. 2004/01/0220 und vom 29. März 2007, Zl. 2005/20/0040, vom 26. Juni 2007, 2007/01/0479).

 

Die Beziehung der bereits volljährigen Kinder zu den Eltern ist vor allem dann als Familienleben zu qualifizieren, wenn jene auch nach Eintritt der Volljährigkeit im Haushalt der Eltern weiterleben, ohne dass sich ihr Naheverhältnis zu den Eltern wesentlich ändert (Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art 8 MRK, ÖJZ 2007/74, 860 unter Hinweis auf Wiederin in Korinek/Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art 8 EMRK Rz 76).

 

Alle anderen verwandtschaftlichen Beziehungen (zB zwischen Enkel und Großeltern, erwachsenen Geschwistern [vgl. VwGH 22.08.2006, 2004/01/0220, mwN; 25.4.2008, 2007/20/0720 bis 0723-8], Cousinen [VwGH 15.01.1999, 97/21/0778; 26.6.2007, 2007/01/0479], Onkeln bzw. Tanten und Neffen bzw. Nichten) sind nur dann als Familienleben geschützt, wenn eine "hinreichend starke Nahebeziehung" besteht. Nach Ansicht der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ist für diese Wertung insbesondere die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung (vgl. VfSlg 17.457/2005). Dabei werden vor allem das Zusammenleben und die gegenseitige Unterhaltsgewährung zur Annahme eines Familienlebens iSd Art 8 EMRK führen, soweit nicht besondere Abhängigkeitsverhältnisse, wie die Pflege eines behinderten oder kranken Verwandten, vorliegen.

 

6.3. Ab dem Zeitpunkt der illegalen Einreise am 10.12.2009 bis zur Erlangung des genannten Aufenthaltstitels mit 12.11.2012 war der Aufenthalt des Beschwerdeführers bloß auf die Stellung des Antrags auf internationalen Schutz begründet, über den durch die Zurückziehung der Beschwerde nunmehr rechtskräftig entschieden ist.

 

Seit 12.11.2012 ist der Beschwerdeführer im Besitze eines Aufenthaltstitels als Familienangehöriger Nr. XXXX mit freiem Zugang zum Arbeitsmarkt, gültig bis 11.11.2013.

 

Der Beschwerdeführer ist seit 31.03.2011 mit einer österreichischen Staatsangehörigen verheiratet, führt jedoch mit dieser derzeit keine Lebensgemeinschaft. Beide Ehegatten sind seit 21.01.2013 an unterschiedlichen Adressen - die Ehegattin an der früheren gemeinsamen Adresse - mit Hauptwohnsitz gemeldet. Die Ehegattin des Beschwerdeführers ist Mutter von 3 Kindern (ca. 8, ca. 6 und ca. 3 Jahre alt), deren Vater der Beschwerdeführer jedoch nicht ist. Die Ehegattin ist seit ca. 2 Jahren unter Sachwalterschaft gestellt. Die Kinder leben weder mit ihrer Mutter noch mit dem Beschwerdeführer in einer Lebensgemeinschaft. Für die beiden älteren Kinder ist seit 2008 das Jugendamt XXXX vorläufig obsorgeberechtigt. Das beim Bezirksgericht XXXX anhängige Obsorgeverfahren ist noch nicht endgültig abgeschlossen, sondern derzeit "ruhend" gestellt. Das jüngste Kind lebt bei einer Pflegefamilie.

 

Der Beschwerdeführer hat mit seiner Ehegattin ca. 20 Monate zusammen gelebt. In dieser Zeit verbrachten die Kinder lediglich die Wochenenden und Feiertage bei ihrer Mutter bzw. beim Beschwerdeführer in der gemeinsamen Wohnung. Seit Jänner 2013 hat der Beschwerdeführer die Lebensgemeinschaft mit seiner Ehegattin jedoch aufgegeben, da sie an einer therapiebedürftigen psychischen Erkrankung leidet.

 

Der Beschwerdeführer lebt nun seit 21.01.2013 bei der Familie seines Bruders - bestehend aus dem erwachsenen Bruder des Beschwerdeführers mit dessen Ehefrau und einer minderjährigen Tochter - in einer Wohnung. Ansonsten hat der Beschwerdeführer keine näheren Familienangehörigen in Österreich und führt auch mit sonstigen Personen keine Lebensgemeinschaft. Der Beschwerdeführer hat durch gelegentliche Besuche Kontakt zu den Kindern seiner Ehegattin.

 

Eine Nahebeziehung zu seinem Bruder ist wohl auch anzunehmen, da dieser dem Beschwerdeführer Wohnraum seiner eigenen Familie zur Verfügung stellt (der Beschwerdeführer bewohnt bei dieser Familie ein Zimmer). Die Ehegattin des Beschwerdeführers ist weiterhin an der früheren gemeinsamen Wohnung polizeilich gemeldet.

 

Durch Besuch von mehreren Deutschkursen versucht der Beschwerdeführer, seine Kenntnisse aus der deutschen Sprache zu verbessern und er beherrscht diese derzeit auf dem Niveau B1. Er ist auch Mitglied beim Verein "XXXX zusammenleben und nimmt dort an Kursmaßnahmen, Exkursionen und Veranstaltungen teil.

 

Der Beschwerdeführer geht seit 04.03.2013 wieder einer Beschäftigung als Bäcker nach und hat ein monaliches Einkommen von ca. 590 Euro. Zuvor arbeitete der Beschwerdeführer im Jahr 2012 als geringfügig Beschäftigter bei verschiedenen Dienstgebern.

 

6.4. Es liegen somit wesentliche private Interessen beim Beschwerdeführer vor. Durch die Ausweisung des Beschwerdeführers wird in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art 8 Abs. 1 EMRK eingegriffen. Ob dieser - gesetzlich vorgesehene - Eingriff auch zulässig ist, ist im Rahmen einer Abwägung zwischen den öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung einerseits und den privaten und familiären Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich andererseits zu ermitteln.

 

Es ist eine Gesamtbetrachtung der Integration des Fremden, der sich seit Dezember 2009 im Bundesgebiet aufhält, vorzunehmen und dabei die Judikatur des VwGH (hier insbesondere das Erkenntnis vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479) und des VfGH (etwa B 328/07 vom 29.9.2007, B 1150/07 vom. 29.9.2007, B 16/08 vom 5.3.2008, B 61/08 vom 5.2.2008, B 1032/07 vom 13.3.2008, B 1859-1863/07 vom 5.3.2008 und B 1918/07 vom 5.3.2008) zu beachten.

 

Der Asylgerichtshof kommt angesichts aller für die Integration des Beschwerdeführers und die Schutzwürdigkeit seines Privat- und Familienlebens sprechenden Umstände, denen allein die illegale Einreise gegenübersteht, zum Schluss, dass das öffentliche Interesse an der Einhaltung der fremdenpolizeilichen Vorschriften im gegenständlichen Fall die Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib im Bundesgebiet nicht überwiegt und es durch eine Ausweisung zu einer nicht gerechtfertigten Beeinträchtigung des dem Beschwerdeführer in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK käme.

 

Wenngleich der erkennende Senat den hohen Stellenwert nicht verkennt, welcher dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung zukommt, ist im gegenständlichen Fall auf Grund der Gesamtbetrachtung von einem Überwiegen des Privat- und Familienlebens des Beschwerdeführers in Österreich auszugehen, sodass sich im Ergebnis zum gegebenen Zeitpunkt die Ausweisung des Beschwerdeführers aus dem österreichischen Staatsgebiet im Sinne des § 10 Abs 5 AsylG als auf Dauer nicht zulässig erweist.

 

Diese Feststellung dient in der Folge als Entscheidungsgrundlage für die zuständige Fremdenbehörde im Sinne der Gewährung einer Niederlassungsbewilligung an die BF gem. § 44 a NAG.

Schlagworte
Aufenthaltsrecht, Ausweisung dauernd unzulässig, Deutschkenntnisse, Integration, Interessensabwägung, Selbsterhaltungsfähigkeit
Zuletzt aktualisiert am
18.07.2013
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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