RS Vfgh 2012/12/12 G75/12

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Veröffentlicht am 12.12.2012
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Index

41 INNERE ANGELEGENHEITEN
41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht,
Asylrecht

Norm

B-VG Art20 Abs1, Abs2 Z1
B-VG Art77
B-VG Art144 Abs1 / Bescheid
Niederlassungs- und AufenthaltsG (NAG) §16 Abs2, Abs5
Integrationsvereinbarungs-V, BGBl II 449/2005 §1

Leitsatz

Verfassungswidrigkeit der Betrauung des Österreichischen Integrationsfonds mit der Zertifizierung und Evaluierung von Deutsch-Integrationskursen infolge Übertragung hoheitlicher Aufgaben ohne Einrichtung des erforderlichen Weisungszusammenhanges zu den obersten Organen der Vollziehung

Rechtssatz

§16 Abs2 und Abs5 Niederlassungs- und AufenthaltsG (NAG), BGBl I 100/2005, war verfassungswidrig.

Die Zertifizierung und Evaluierung von Deutsch-Integrationskursen weist das NAG ausschließlich dem Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) zu. Die Zertifizierung kann auf Antrag verlängert werden, nähere Vorgaben zu Lehrzielen, Lernmethoden und Qualifikation des Lehrpersonals werden durch Verordnung festgelegt (vgl auch §1 der Integrationsvereinbarungs-Verordnung [IV-VO], BGBl II 449/2005).

Aus dem Zusammenhalt der maßgeblichen Bestimmungen wird deutlich, dass es sich bei den dem ÖIF zugewiesenen Aufgaben, insbesondere bei der Entziehung der Kurszertifizierung, um hoheitliche Aufgaben handelt. Dafür spricht einerseits schon der Wortlaut des §16 NAG, wonach die Zertifizierung "auf Antrag" erteilt wird und der ÖIF die Zertifizierung "entziehen" kann. Anderseits legt aber auch das durch die oben dargestellten Bestimmungen geschaffene System eine Qualifizierung als hoheitliche Aufgabe nahe: Entzieht der ÖIF einem Kurs die Zertifizierung, so gilt trotz Absolvierung dieses Kurses die Integrationsvereinbarung nicht mehr automatisch als erfüllt.

Mit dem Anknüpfen an das Vorliegen bestimmter gesetzlich bzw durch Verordnung festgelegter Kriterien für die Zertifizierung hat der Gesetzgeber beim jeweiligen Kursträger eine Rechtssphäre geschaffen. Der VfGH hat mehrfach ausgesprochen, dass das Rechtsstaatsprinzip das Gebot mit sich bringt, die behördliche Festlegung von Rechtsfolgen an eine Form zu knüpfen, die einen verfassungsgesetzlich vorgesehenen Rechtsschutz sowie eine inhaltliche Überprüfung des entsprechenden Aktes ermöglicht (vgl VfSlg 18941/2009 mwN). Da die angefochtene Erledigung in die Rechtssphäre der Kursanbieter eingreift, handelt es sich vor dem Hintergrund des in Art144 B-VG zugrunde gelegten Rechtsschutzsystems - bei verfassungskonformer Interpretation des §16 Abs5 NAG - um einen Bescheid.

Mit den in Prüfung gezogenen Bestimmungen wurden dem ÖIF hoheitliche Aufgaben übertragen, ohne einen entsprechenden Weisungszusammenhang zu obersten Organen der Vollziehung vorzusehen. Die in Prüfung gezogenen Bestimmungen widersprechen daher dem Organisationskonzept der Bundesverfassung, wie es insbesondere in Art20 Abs1 und Art77 B-VG zum Ausdruck kommt.

Aus Art20 Abs2 Z1 B-VG idF BGBl I 2/2008 ist für den vorliegenden Zusammenhang nichts zu gewinnen, weil es sich bei der durch §16 NAG und die IV-VO geregelten Zertifizierung bzw deren Entziehung um eine behördliche Tätigkeit handelt, die über eine rein sachverständige Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes hinaus geht.

Anlassfall B1687/10, E v 12.12.12, Aufhebung des angefochtenen Bescheides wegen Entzugs des gesetzlichen Richters.

Entscheidungstexte

  • G 75/12
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 12.12.2012 G 75/12

Schlagworte

Fremdenrecht, Aufenthaltsrecht, Hoheitsverwaltung, Oberste Organe der Vollziehung, Rechtsstaatsprinzip, Rechtsschutz, Verwaltungsorganisation, Weisung, Bescheidbegriff, Auslegung verfassungskonforme

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2012:G75.2012

Zuletzt aktualisiert am

25.02.2013
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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