Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 11. November 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Holzweber als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Schroll, Dr. Schwab, Dr. T. Solé und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Bayer als Schriftführerin in der Auslieferungssache des Zoran J***** AZ 9 HR 335/09z des Landesgerichts Klagenfurt, über den Antrag der betroffenen Person auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Text
Gründe:
Aufgrund des internationalen Haftbefehls des Gemeindegerichts in Vladimirci (Serbien) vom 5. November 2007, AZ IK.br 6/05, wurde gegen den am 23. Oktober 1974 geborenen serbischen Staatsangehörigen Zoran J***** das Auslieferungsverfahren eingeleitet. Über Antrag der Staatsanwaltschaft Klagenfurt vom 12. Dezember 2009 (ON 1/S 2) wurde über ihn mit Beschluss vom 13. Dezember 2009 die Auslieferungshaft gemäß § 29 ARHG iVm § 173 Abs 1 und Abs 2 Z 1 StPO verhängt (ON 4/S 4). In der am 28. Dezember 2009 durchgeführten Haftverhandlung wurde er gegen Anwendung der gelinderen Mittel nach § 173 Abs 5 Z 1, 5 und 6 StPO enthaftet (ON 11).
Mit Note vom 17. Dezember 2009 ersuchte das Justizministerium der Republik Serbien das österreichische Justizministerium aufgrund des Europäischen Auslieferungsübereinkommens um Auslieferung des Zoran J***** zur Strafvollstreckung einer über ihn in Abwesenheit mit Urteil des Gemeindegerichts in Valjevo (Serbien), vom 17. Mai 2004, rechtskräftig am 23. Dezember 2004, AZ K.br. 160/02, wegen schweren Diebstahls nach Art 166 Abs 1 des Strafgesetzes der Republik Serbien verhängten Freiheitsstrafe in der Dauer von einem Jahr und sechs Monaten (ON 15/S 5 bis 11). Im Sinne von Art 3 des 2. Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen sicherte das Justizministerium der Republik Serbien zu, dem in Abwesenheit verurteilten Betroffenen im Falle seiner Auslieferung unter dieser Bedingung das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren zu gewähren (ON 15/S 11). Angeschlossen waren insbesondere Übersetzungen des Urteils des Gemeindegerichts in Valjevo vom 17. Mai 2004 und der Bestimmung des schweren Diebstahls gemäß Art 166 des Strafgesetzes der Republik Serbien.
Nach dem Inhalt des Schuldspruchs des dem Auslieferungsbegehren zugrunde liegenden Urteils hat der damals unbescholtene Zoran J***** in den Jahren 1999 und 2001 insgesamt 17 Einbruchsdiebstähle vorwiegend in Geschäftslokale begangen und dabei Bargeld, Lebensmittel und sonstige Gebrauchsgegenstände im Gesamtwert von etwa 90.000 Dinar (entsprechend ca 1.500 EUR; vgl ON 15/S 35, 37) erbeutet (ON 15/S 17 bis 43).
Mit Beschluss vom 3. August 2010 (ON 25a) erklärte der Einzelrichter des Landesgerichts Klagenfurt nach Einholung eines Sachverständigengutachtens über Bestehen und Ausmaß der Pflegebedürftigkeit der Mutter der Lebensgefährtin des Betroffenen die Auslieferung des Zoran J***** an die Republik Serbien zur Vollstreckung des obgenannten Urteils mit Rücksicht auf Art 8 MRK im Hinblick auf seine familiären Lebensumstände, nämlich seine Geburt und sein überwiegender Aufenthalt in Österreich, seine langjährige Lebensgemeinschaft mit der österreichischen Staatsbürgerin Regine W***** (welcher Beziehung eine knapp vierjährige Tochter entstammt), seine inlandsorientierte Familienplanung (anhängiges Verfahren nach dem Fortpflanzungsmedizingesetz) und die Pflegesituation der Mutter seiner Lebensgefährtin im Vergleich zum öffentlichen Interesse an der Vollstreckung einer Strafe für lange zurückliegende Vermögensdelikte für unzulässig.
Rechtliche Beurteilung
Der dagegen erhobenen Beschwerde der Staatsanwaltschaft Klagenfurt (ON 26) gab das Oberlandesgericht Graz Folge, hob den angefochtenen Beschluss auf und „bewilligte“ die Auslieferung des Betroffenen zur Vollstreckung der mit dem obgenannten Urteil verhängten Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten an die Republik Serbien in Anwendung des Art 3 Abs 1 des 2. Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 17. März 1978 (ON 30).
Bei der im Lichte des Art 8 Abs 2 MRK vorgenommenen Verhältnismäßigkeitsprüfung stellte das Beschwerdegericht die angesichts eines bis zu zehn Jahren reichenden Strafrahmens und einer konkreten Strafbemessung mit eineinhalb Jahren als von erheblicher Schwere eingestuften Taten des Betroffenen seiner persönlichen Lebenssituation gegenüber und ging insoweit davon aus, dass dieser in Österreich geboren sei, tragfähige Bindungen im Inland habe, vor und nach Begehung der Straftaten insgesamt mehrere Jahre in Serbien gelebt und dabei auch seinen Präsenzdienst abgeleistet habe, seit rund fünf Jahren - in Kenntnis des in Serbien geführten Strafverfahrens - durchgehend in Österreich aufhältig und immer wieder beschäftigt gewesen sei. Seine Lebensgefährtin sei Österreicherin, die ihre behinderte Mutter pflege. Der Betroffene und sie hätten ein dreieinhalbjähriges Kind. Darüber hinaus habe er zwei ältere Kinder, die bei ihren Müttern ebenso in Serbien lebten wie seine Mutter (BS 7 f).
Da der organisatorische Aufwand bei Besuchen während des Strafvollzugs in Serbien gegenüber einem solchen im Inland zwar höher, die Anreise nach Serbien aber nicht übermäßig lange sei, Visavorschriften nicht bestünden, die Mutter der Lebensgefährtin des Betroffenen für einzelne Tage auch fremdbetreut werden und die Lebensgefährtin in Serbien allenfalls Unterstützung durch die Mutter des Betroffenen erhalten könnte, dieser während der Haft leichteren Zugang zu seinen zwei älteren Kindern haben könnte und sich die Frage einer künstlichen Befruchtung nicht anders darstellen würde als bei einem Strafvollzug in Österreich, erschien dem Beschwerdesenat der durch die Auslieferung bewirkte Eingriff in das Privat- und Familienleben des Betroffenen in einer demokratischen Gesellschaft im Sinn des Art 8 Abs 2 MRK notwendig und nicht unverhältnismäßig (BS 9 f).
Dagegen wendet sich die als „Grundrechtsbeschwerde“ bezeichnete, angesichts des Vorbringens, in verfassungsgesetzlich gewährleisteten subjektiven Rechten nach Art 6 und 8 MRK verletzt worden zu sein, ungeachtet der in der Äußerung der Verteidigung zur Stellungnahme der Generalprokuratur vertretenen Rechtsmeinung der Sache nach als Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens (§ 363a Abs 1 StPO, grundlegend 13 Os 135/06m, EvBl 2007/154, 832; RIS-Justiz RS0116089, RS0123230) zu wertende Eingabe des Zoran J*****. Eine Grundrechtsbeschwerde wäre schon mangels funktionieller Grundrechtsrelevanz nicht zulässig (§ 1 Abs 1 GRBG; vgl auch RIS-Justiz RS0116089; RS0117728 [T10]).
Zu der behaupteten Verletzung des Art 8 MRK weist der Erneuerungswerber darauf hin, dass er keine schweren Delikte gegen Leib und Leben begangen habe, in Österreich geboren, aufgewachsen und sozialisiert sei, sich fast immer im Inland aufgehalten, die Anlasstaten vor mehr als zehn Jahren verübt habe, seit mehr als fünf Jahren eine Lebensgemeinschaft mit einer Österreicherin unterhalte, für deren blinde Mutter und das gemeinsame Kind zu sorgen habe, die Lebensgefährtin über seine Vermögensdelikte nicht informiert gewesen sei, das gemeinsame fünfjährige Kind des Vaters bedürfe, Lebensgefährtin und Kind in Serbien mangels sprachlicher Kenntnisse und finanzieller Ausstattung mit großen Nachteilen rechnen müssten und die blinde (Groß-)Mutter nicht im Stich lassen könnten und er selbst zu seinen restlichen Verwandten in Serbien keine Beziehungen mehr habe.
Dem Antrag kommt keine Berechtigung zu.
Die gesetzlichen Grundlagen der Maßnahme bilden im vorliegenden Fall das zufolge BGBl III 2003/103 und III 2003/1104 im Verhältnis zwischen Österreich und Serbien geltende Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957, BGBl 1969/320, samt dem 2. Zusatzprotokoll vom 17. März 1978, BGBl 1983/297, sowie subsidiär das ARHG (s dessen § 1).
Es trifft zwar zu, dass unter bestimmten Umständen der Schutz des Familienlebens einer Ausweisung oder Abschiebung entgegenstehen kann, nämlich dann, wenn der Betroffene im Aufenthaltsstaat persönliche oder familiäre Bindungen hat, die ausreichend stark sind und durch eine solche Maßnahme beeinträchtigt würden. Ein Eingriff begründet dann eine Verletzung von Art 8 MRK, wenn er nicht gesetzlich vorgesehen ist oder kein legitimes Ziel verfolgt oder nicht als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft angesehen werden kann.
Bei der zufolge Art 8 Abs 2 MRK erforderlichen Notwendigkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung einer solchen das Familienleben beschränkenden Maßnahme ist insbesondere darauf abzustellen, ob den im ersuchten Staat wohnenden Familienmitgliedern zugemutet werden kann, der betroffenen Person in den Heimatstaat zu folgen und sich dort niederzulassen. Dies ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn begründete Aussicht besteht, dass sich die Familie relativ rasch in die Gesellschaft des ersuchenden Staates wird integrieren können (14 Os 87/10s mwN).
Auch die Auslieferung einer betroffenen Person zur Strafverfolgung oder -vollstreckung stellt einen Eingriff in den Schutzbereich des Art 8 MRK dar, der nur unter den Voraussetzungen des Art 8 Abs 2 MRK zulässig ist. Bei der damit ebenso notwendigen Verhältnismäßigkeitsprüfung muss in Betreff des dabei anzulegenden Maßstabs im Blick behalten werden, dass den Interessen der betroffenen Person nicht (allein) - wie in Fällen der Ausweisung und Abschiebung - das öffentliche Interesse des ausweisenden Staates an der Verteidigung der Ordnung und der Verhinderung von künftigen Straftaten, sondern (auch) dasjenige des ersuchenden Staates an der Verfolgung bereits begangener Straftaten und der Vollstreckung dafür verhängter Sanktionen gegenübersteht (neuerlich 14 Os 87/10s mwN; vgl insbesondere auch EKMR 8. 12. 1997, 27279/95, Launder gg Vereinigtes Königreich, wonach die Auslieferung einer Person, um für bestimmte Straftaten vor Gericht gestellt zu werden, nur unter außergewöhnlichen Umständen ungerechtfertigt oder unverhältnismäßig ist).
Davon ausgehend bestehen gegen die Auslieferung des Betroffenen nach Serbien auch im Licht des Art 8 MRK keine Bedenken:
In Anbetracht von Art und Umfang der Auslieferungstaten und des erst 2003 in Kenntnis des anhängigen Strafverfahrens (vgl auch ON 29/S 2) neuerlich begründeten Wohnsitzes in Österreich, aber auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass regelmäßige Besuche des Betroffenen durch Tochter und Lebensgefährtin bei bestehenden anderweitigen Betreuungsmöglichkeiten für deren behinderte Mutter durchaus möglich sind und die familiären Bande auch bei einem Strafvollzug im Inland einschneidenden Beschränkungen unterworfen wären, ist die Entscheidung, den Erneuerungswerber zur Strafvollstreckung auszuliefern, gegenüber den damit verfolgten Zielen nicht unverhältnismäßig.
Zur Behauptung einer Verletzung im Grundrecht auf ein faires Verfahren nach Art 6 MRK:
Dem Einwand mangelnder Fairness des Verfahrens vor dem Oberlandesgericht Graz infolge der vom Beschwerdegericht getroffenen, von den erstgerichtlichen Konstatierungen abweichenden Feststellungen zu den Lebensverhältnissen des Betroffenen ist zu erwidern, dass das Auslieferungsverfahren selbst nicht in den Anwendungsbereich des Art 6 MRK fällt (13 Os 150/07v mwN = RIS-Justiz RS0123200 [T3]). Im Übrigen betreffen die in Kritik gezogenen Sachverhaltsannahmen keinen entscheidenden Umstand.
Mit der Behauptung der Nichtanwendung der „Härteklausel“ des Art 12 des Vertrags zwischen der Republik Österreich und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über die Auslieferung vom 1. Februar 1982, BGBl 1983/546, spricht der Antragsteller schließlich - über das Vorbringen zu Art 8 MRK hinausgehend - keine Grundrechtsverletzung im Sinn des § 363a Abs 1 StPO an.
Der Erneuerungsantrag war daher gemäß § 363b Abs 1 und Abs 2 Z 3 StPO bereits in nichtöffentlicher Sitzung als offenbar unbegründet zurückzuweisen.
Schlagworte
StrafrechtTextnummer
E95645European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:0120OS00160.10M.1111.000Im RIS seit
19.12.2010Zuletzt aktualisiert am
19.12.2010