TE AsylGH Erkenntnis 2008/09/08 C1 266738-4/2008

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.09.2008
beobachten
merken
Spruch

C1 266738-4/2008/16E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Dr. Fischer-Szilagyi als Einzelrichterin über die Beschwerde des M.S., geb. 00.00.1982, StA. Russland, vom 21.07.2006 gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 27.06.2006, FZ. 05 17.972-BAT, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 24.05.2007 zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde wird gemäß §§ 7, 8 Abs. 1 und Abs. 2 AsylG abgewiesen.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

 

Mit angefochtenem Bescheid wurde der Asylantrag des nunmehrigen Beschwerdeführers vom 24.10.2005 gemäß § 7 AsylG abgewiesen und die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Berufungswerbers in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 AsylG für zulässig erklärt. Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG wurde der Berufungswerber aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.

 

In dem dagegen eingebrachten Rechtsmittel wurde der Bescheid in vollem Umfang angefochten.

 

Im Rahmen der mündlichen Berufungsverhandlung am 24.05.2007 wurden die Länderberichte verlesen und der Beschwerdeführer einvernommen.

 

Einsicht wurde genommen in den Akt des Bruders des Beschwerdeführers, M.S., dessen Asylantrag mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 11.05.2007, Zahl: 05 10.869-BAS, gemäß § 7 AsylG abgewiesen, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 AsylG zugelassen und der gemäß § 8 Abs. 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen wurde. Das dagegen eingebrachte Rechtsmittel ist beim Asylgerichtshof anhängig.

 

Folgender entscheidungsrelevanter Sachverhalt wird festgestellt:

 

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, hat sein Heimatland am 13.09.2005 legal unter Verwendung seines Auslandsreisepasses verlassen und in der Folge in Polen einen Asylantrag gestellt. In Polen wurde er erkennungsdienstlich behandelt, reiste jedoch ohne den Ausgang des Asylverfahrens in Polen abzuwarten über die Slowakei illegal nach Österreich ein und stellte am 24.10.2005 gegenständlichen Asylantrag.

 

Er ist ledig, seine Mutter, drei Halbbrüder, seine Großmutter und ein Onkel leben in Tschetschenien, eine Schwester lebt in Inguschetien. Der Bruder des Beschwerdeführers ist als Asylwerber in Österreich aufhältig.

 

Der Beschwerdeführer verfügt über einen Inlandsreisepass

 

Im Jahr 2006 wurde der Beschwerdeführer insgesamt neun Mal wegen Diebstahls, z.T. im Rahmen einer kriminellen Vereinigung, angezeigt.

 

Die Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt hat am 00.00.2006 gegen den Beschwerdeführer ein Rückkehrverbot gemäß § 60 iVm § 60 Abs. 1 Ziffer 1 und Abs. 2 Ziffer 1 FPG auf die Dauer von zehn Jahren durchsetzbar erlassen.

 

Nicht festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer in seinem Heimatland einer asylrechtlich relevanten Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ausgesetzt war bzw. ist.

 

Es wird nicht festgestellt, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen würde oder von der Todesstrafe bedroht wäre.

 

Bereits im Rahmen der Einvernahmen vor dem Bundesasylamt im erstinstanzlichen Verfahren hat der Beschwerdeführer niemals eine Verfolgung von staatlichen Stellen gegen seine Person behauptet. Dieses Vorbringen hat er in der Rechtsmittelverhandlung am 24.05.2007 bestätigt, in dem er auf die Frage "Hatten Sie persönlich irgendwelche Probleme? angab: "Irgendwelche? Nein."

 

Nicht gefolgt werden kann dem Vorbringen des Beschwerdeführers, er sei geflohen, da er Angst habe, wegen seines Bruders von den Kadyrow-Leuten mitgenommen zu werden, da dieses zum einen nicht nachvollziehbar ist und zum andern Widersprüche aufweist.

 

Betreffend seine Fluchtgründe bringt der Beschwerdeführer vor, dass sein Bruder im September 2004 festgenommen worden und bis Dezember 2004 inhaftiert gewesen sei. Im April 2005 sei das Haus seines Bruders gestürmt worden und sei nach seinem Bruder gesucht worden. Nunmehr befürchte der Beschwerdeführer, er könne wegen dieser Vorfälle, die allesamt seinen Bruder und nicht ihn selbst betreffen, festgenommen werden. Diesen Befürchtungen ist entgegenzuhalten, dass der Beschwerdeführer - seinen eigenen Angaben zufolge - sein Heimatland am 13.09.2005 verlassen hat, ohne jedoch selbst Probleme gehabt zu haben. In diesem Zusammenhang ist auch anzuführen, dass der Bruder des Beschwerdeführers in seinem eigenen Asylverfahren in keiner Einvernahme das Stürmen seines Hauses erwähnt hat.

 

In der Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 20.06.2006 gab der Beschwerdeführer an, er habe sein Heimatland im September 2005 verlassen, da er zwei Monate auf seinen Pass habe warten müssen. Diesbezüglich ist auszuführen, dass einerseits der Beschwerdeführer kaum einen Auslandesreisepass ausgestellt bekommen hätte, wenn die Behörden tatsächlich die Absicht gehabt hätten, ihn festzunehmen. Andererseits hat der Beschwerdeführer - unter Zugrundelegung der Angaben, dass er zwei Monate auf die Ausstellung des Passes gewartet hat - trotzdem noch vier weitere Monate zugewartet, bis er die Ausreise angetreten hat, und war in dieser Zeit - seinen eigenen Angaben zufolge - niemals bedroht bzw. einer Verfolgung ausgesetzt gewesen.

 

Auffallend ist ebenfalls, dass der Beschwerdeführer keine Angaben zu den Festnahmegründen seines Bruders machen konnte. Im Rahmen der Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 20.06.2006 gab er an, dass er nicht wisse, aus welchen Gründen sein Bruder festgenommen worden sei. Dass ihm die Gründe für die Festnahme seines Bruders nicht bekannt seien, brachte er auch in der Berufung vor. Hingegen gab er in der mündlichen Rechtsmittelverhandlung an, sein Bruder sei nur festgenommen worden, damit er wieder freigekauft werden könne. Wenn "sie" seinen Bruder nicht mitnehmen könnten, würden "sie" den Beschwerdeführer mitnehmen. Dem widerspricht zum einen die Tatsache, dass der Beschwerdeführer nach der Flucht seines Bruders im März 2005 bis zu seiner Ausreise im September 2005 unbehelligt von den Behörden in seinem Heimatland leben konnte und ihm ein Auslandsreisepass ausgestellt wurde. Zum andern gab der Bruder des Beschwerdeführers in seinem eigenen Asylverfahren konkrete Festnahmegründe an, welche nicht auf die erhoffte Zahlung eines Lösegeldes beschränkt waren.

 

Ferner ist für die erkennende Behörde der Eindruck entstanden, der Beschwerdeführer versucht, seine Fluchtgründe dahingehend zu untermauern, dass er ein engeres Verhältnis zu seinem Bruder darzustellen versucht als tatsächlich besteht. In der Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 29.11.2005 gab er an, seit seiner Geburt bis ins Jahr 2005 mit seinem Bruder im gemeinsamen Haushalt gelebt zu haben. Auf Vorhalt, dass dies nicht stimmen könne, da der Bruder von 2000 bis 2003 in der Türkei gelebt habe, brachte der Beschwerdeführer vor, er habe ihn dort besucht und drei Monate lang bei ihm gelebt. Danach habe er wieder mit seinem Bruder zusammengelebt. Er habe zwar eine eigene Wohnung gehabt, sei aber ständig bei seinem Bruder gewesen. Auf Vorhalt, dass die vom Beschwerdeführer als Adresse des Bruders angegebene Anschrift nicht stimmen könne, da der Bruder des Beschwerdeführers in seinem eigenen Asylverfahren eine andere Adresse angegeben habe, brachte er lediglich vor, dass er bis zum Jahr 1999 mit seinem Bruder an der von ihm angegebenen Adresse gelebt habe. Hingegen gab er in der Einvernahme am 20.06.2006 an, er habe bis zum Jahr 1998 gemeinsam mit seinem Bruder gelebt. Gegen ein Naheverhältnis - wie vom Beschwerdeführer vorgebracht - spricht ebenfalls, dass der Beschwerdeführer mit seinem in Österreich als Asylwerber aufhältigen Bruder - seinen eigenen Angaben zufolge - kaum Kontakt hat.

 

Im Gesamtzusammenhang betrachtet hat der Beschwerdeführer sohin eine Bedrohung aus asylrelevanten Gründen nicht glaubhaft machen können.

 

Zu der Situation in der Russischen Föderation wird Folgendes festgehalten:

 

Die Russische Föderation besteht nach Art. 5 Abs. 2 ihrer Verfassung (von 1993) aus Republiken, Regionen, Gebieten, bundesbedeutsamen Städten, einem autonomen Gebiet und autonomen Bezirken als den gleichberechtigten Subjekten der Russischen Föderation. Zu diesen Republiken gehört nach Art. 65 Abs. 1 dieser Verfassung die - im Nordkaukasus gelegene - Tschetschenische Republik, ebenso wie ihre Nachbarrepubliken Dagestan, Inguschetien und Nordossetien (seit 1996 "Republik Nordossetien und Alania").

 

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erklärte sich Tschetschenien 1991 für unabhängig; das führte 1994 zum Ersten Tschetschenienkrieg, der 1996 mit der De-facto-Unabhängigkeit endete. Danach tobten in Tschetschenien heftige Machtkämpfe, die Kriminalität war hoch und strahlte über die Grenzen aus, und Banden aus Tschetschenien verübten Übergriffe auf Nachbarrepubliken. Gegen Ende 1999 begann der Zweite Tschetschenienkrieg, als - nach Bombenanschlägen in verschiedenen russischen Städten - russische Truppen (dh. föderale Truppen, also Truppen der Russischen Föderation) wieder in Tschetschenien einmarschierten. Russische und tschetschenische Sicherheitskräfte sowie tschetschenische Rebellen begehen schwere Menschenrechtsverletzungen. In jüngster Zeit entspannt sich die Lage aber etwas.

 

Am 23.3.2003 fand ein Verfassungsreferendum und am 29.8.2004 die Wahl des Präsidenten statt. Die neue tschetschenische Verfassung schreibt die Zugehörigkeit Tschetscheniens zur

 

Russischen Föderation fest (Art. 1 Abs. 2); die vorgesehenen Autonomieregelungen sind eng begrenzt. Der russische Präsident Putin erklärte bei seiner Jahrespressekonferenz am 31.1.2006 die "antiterroristische Operation" (dh. den Krieg) zum wiederholten Male für beendet. Mit der Wahl eines tschetschenischen Parlaments am 27.11.2005 ist für Moskau der 2003 begonnene "politische Prozess" zur Beilegung des Tschetschenienkonflikts und damit die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in Tschetschenien abgeschlossen. Die Mehrheit der Sitze errang die kremlnahe Partei "Einiges Russland". Beobachter stellten zahlreiche Unregelmäßigkeiten fest, ua. die anhaltende Gewaltausübung und den Druck der "Kadyrowzy" (s. Pt. 2.1.1.2) gegen Wahlleiter und Wahlvolk. Nach dem Rücktritt des tschetschenischen Ministerpräsidenten Sergej Abramow am 28.2.2006 ernannte der tschetschenische Präsident Alu Alchanow am 2.3.2006 den bisherigen stellvertretenden Ministerpräsidenten Ramsan Kadyrow zum neuen Regierungschef. Das Parlament bestätigte die Ernennung zwei Tage später. Nach längeren Spannungen zwischen Alchanow und

 

Kadyrow ernannte Präsident Putin am 15.2.2007 Alchanow zum Stellvertretenden Justizminister der Russischen Föderation und Kadyrow zum geschäftsführenden Präsidenten Tschetscheniens.

 

Kadyrow forderte in der Folge den Abzug "überflüssiger" föderaler Truppen aus Tschetschenien. Am 5.5.2007 wurde er in Gudermes als tschetschenischer Präsident angelobt. Kadyrows Machtfülle ist freilich nicht wenigen im Kreml ein Dorn im Auge, die fürchten, er könnte irgendwann zu stark und unkontrollierbar werden. Der frühere Sekretär des Tschetschenischen Sicherheitsrates, German Vok, - der von Alchanow ernannt worden war - wies noch im Feber 2007 daraufhin, dass viele Kadyrowzi im Ersten Tschetschenienkrieg für die Unabhängigkeit Tschetscheniens gekämpft hatten und dieses Ziel noch immer verfolgten; auch andere Beobachter ziehen Vergleiche mit der Vorgeschichte des Ersten Tschetschenienkrieges.

 

Dennoch bleibt der Konflikt ungelöst, wenngleich auch Zeichen der Normalisierung festzustellen sind, wie eine verstärkte Bautätigkeit auf dem Lande und damit zusammenhängend die Rückkehr von Flüchtlingen.

 

Tschetschenen werden seit 2001 auf freiwilliger Basis in die russische Armee aufgenommen, wurden aber bislang nur in geringer Zahl und in Spezialfunktionen in Tschetschenien eingesetzt. Tschetschenische Wehrpflichtige wurden bislang kaum einberufen.

 

Sicherheitslage

 

Der Sicherheitsdienst Ramsan Kadyrows, des jetzigen Präsidenten und Sohnes des 2004 ermordeten moskautreuen Präsidenten Achmad Kadyrow, ist inzwischen die stärkste Kraft in Tschetschenien. Die "Kadyrowzy" liefern sich regelmäßig kleinere Kämpfe mit den nach wie vor aktiven Rebellen.

 

Ursprünglich die Privatmiliz Achmad Kadyrows unter der Führung Ramsan Kadyrows, wurden sie schließlich in offizielle Streitkräfte des Innenministeriums umgewandelt. Unter den russischen Militärs herrscht ihnen gegenüber durchaus ein erhebliches Misstrauen. Diese mehrere Tausend Mann starke Truppe besteht zum Großteil aus ehemaligen Widerstandskämpfern, die durch Argumente, Geld und auch Gewalt - zB durch die Entführung von Angehörigen - zum Überlaufen bewogen worden sind. Immer wieder werden Familienangehörige mutmaßlicher Rebellen als Geiseln genommen, um sie zur Aufgabe zu zwingen, so auch nahe Angehörige des Rebellenführers Umarow. Ramsan Kadyrow hat sich öffentlich für gesetzliche Regelungen ausgesprochen, welche die Strafverfolgung von Familienangehörigen mutmaßlicher Rebellen ermöglichen.

 

Seit dem Tod ihres Führers Aslan Maschadow bei einer Operation des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB am 8.3.2005 führte Abdelchalim Saidullajew die Separatisten; am 17.6.2006 wurde auch er getötet. Sein Nachfolger wurde Doku Umarow. In der Nacht vom 9. auf den 10.7.2006 gelang es dem FSB überdies, Schamil Bassajew zu töten, der als eigentlicher Chef der tschetschenischen Separatisten galt.

 

Nicht-Regierungsorganisationen, internationale Organisationen und Presse berichten, dass es, auch nachdem der "politische Prozess" begonnen hatte, zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen russischer und pro-russischer tschetschenischer Sicherheitskräfte gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung komme, dabei insbesondere zu willkürlichen Festnahmen, zu Entführungen, zum "Verschwindenlassen" und zur Ermordung von Menschen, zu Misshandlungen, Vergewaltigungen, Sachbeschädigungen und Diebstählen. Dies sei häufig darauf zurückzuführen, dass das wirkliche Ziel der in Tschetschenien eingesetzten Zeitsoldaten, Milizionäre und Geheimdienstangehörigen Geldbeschaffung und Karriere sei. Frauen berichteten gegenüber Vertreterinnen internationaler Hilfsorganisationen von Vergewaltigungen durch russische Soldaten bei der Eroberung von Ortschaften in Tschetschenien. Auch amnesty international berichtet weiterhin von Vergewaltigungen und extralegalen Tötungen der Zivilbevölkerung während Operationen der Sicherheitskräfte. 2006 ging jedoch die Zahl der Verschleppungen gegenüber früheren Jahren zurück; offizielle tschetschenische Stellen führen das auf behördliche Anordnungen und Maßnahmen zurück, Menschenrechtsorganisationen meinen, dass zumindest ein Teil des Rückganges nur scheinbar ist und ein zurückhaltenderes Anzeigeverhalten widerspiegelt. Den Kadyrowzy werden von Menschenrechtsorganisationen zahlreiche Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt. Nach Human Rights Watch haben sie 2004/05 die föderalen Truppen als Hauptverantwortliche für Verschleppungen abgelöst.

 

Seit Beginn 2005 verstärkten die tschetschenischen und föderalen Sicherheitskräfte wieder ihre Aktivitäten gegen die Rebellen, insbesondere in den Grenzgebieten zu den nordkaukasischen Nachbarrepubliken. Diese Aktivitäten wurden auch im ersten Halbjahr 2006 vor allem von den Einheiten des tschetschenischen Innenministeriums fortgesetzt. Ergänzt wird dieses Vorgehen durch gezielte Spezialoperationen, wie sie zum Tod der Rebellenführer Maschadow, Saidullajew und Bassajew geführt haben.

 

2006 verschoben sich die Aktivitäten der pro-russischen Seite weg von Operationen des föderalen Militärs und hin zu solchen von paramilitärischen und Polizeieinheiten der Republik Tschetschenien und anderer tschetschenischer Einheiten, die dem Verteidigungs- oder dem Innenministerium zuzuordnen sind. Es gab weniger "Säuberungen" als in früheren Jahren, obwohl gezielte Aktionen anhielten. Die russische Nicht-Regierungsorganisation Memorial stellte fest, dass diese Säuberungen oft ohne ernsthafte Menschenrechtsverletzungen abliefen, aber in manchen Fällen von Entführungen, Plünderungen und Schlägereien begleitet waren. Die tschetschenischen Sicherheitskräfte unterstanden formal den Zivilbehörden der Republik Tschetschenien, unternahmen aber Operationen oft gemeinsam mit föderalen Kräften. Tatsächlich unterstanden sie dem Ministerpräsidenten (Ramsan Kadyrow) und agierten verhältnismäßig unabhängig.

 

Im August 2006 kündigte Präsident Putin an, in den kommenden beiden Jahren die Stärke der russischen Truppen in Tschetschenien (etwa 50.000 Soldaten) halbieren zu wollen. Für die Sicherheit in Tschetschenien sollten vor allem die rund 20.000 Soldaten des tschetschenischen Innenministeriums sorgen ("Tschetschenisierung" des Konflikts). Die russischen Soldaten in Tschetschenien haben sich weitgehend in ihre Garnisonen und Kontrollposten zurückgezogen.

 

Der willkürliche Gewaltgebrauch durch Regierungstruppen, der während des Konfliktes zahllose zivile Opfer gefordert und zu massenhafter Vertreibung und der Zerstörung von Eigentum und der Infrastruktur geführt hat, ging 2006 wie schon seit 2004 - im Vergleich zu 2001/02 - weiter zurück, kommt aber vor allem im Süden der Republik weiter vor; dorthin haben sich die Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Widerstandskämpfern verlegt, daher verlassen immer mehr Menschen die Bergregion. Der Wiederaufbau von Wohnraum und Infrastruktur ging weiter voran, ist aber zT nur kosmetischer Natur. Dennoch werden in Grosny überall wieder Geschäfte eröffnet; an der Universität studieren 14.000 Studenten.

 

Auch den tschetschenischen Rebellen werden Exekutionen und Geiselnahmen von Zivilisten in den Gebieten und Ortschaften vorgeworfen, die sie beherrschen. Neben den Aufsehen erregenden Terroranschlägen gegen die Zivilbevölkerung werden auch bei vielen Aktionen gegen russische Sicherheitskräfte Opfer unter der Zivilbevölkerung bewusst in Kauf genommen. Außerdem verüben die Rebellen gezielt Anschläge gegen Tschetschenen, die mit den russischen Behörden zusammenarbeiten.

 

Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen bleibt weit hinter ihrem Ausmaß zurück. Bisher gibt es nur sehr wenige Fälle schwerer Verurteilungen. Am 6.4.2006 entschied das russische Verfassungsgericht, dass in Tschetschenien von Militärangehörigen begangene Verbrechen bis zur Einführung von Geschworenengerichten (sie ist für 2007 vorgesehen) von Militärgerichten entschieden werden. Vertreter der Republik Tschetschenien und Menschenrechtsgruppen begrüßten diese Entscheidung.

 

Nach dem Ende des Ersten Tschetschenienkrieges, dem Abzug der föderalen Truppen aus Tschetschenien und der Wahl Aslan Maschadows zum Präsidenten der "Republik Itschkeria" am 12.3.1997 wurde die erste sechs Monate gültige Amnestie erlassen. Etwa 5000 Personen wurden amnestiert. Nach dem Beginn des Zweiten Tschetschenienkrieges wurde am 13.12.1999 eine weitere Amnestie verkündet, von der nach Angaben des russischen Generalstabs 750 Kämpfer erfasst worden sein sollen. Sie galt bis zum 15.5.2000. Auf die dritte Amnestieregelung vom 12.5.2003 bis 1.9.2003 gingen weniger als 200 Rebellen ein, doch haben nach Angaben Taus Dschabrailows, des Vorsitzenden des tschetschenischen Staatsrates, auch 2004 weitere 600 bis 700 Kämpfer freiwillig die Waffen niedergelegt. Der damalige Präsident Alchanow nannte eine Zahl von etwa 7000 ehemaligen Rebellen, die in den vergangenen Jahren die Waffen niedergelegt hätten. Das russische Innenministerium gab im Jänner 2006 an, es gebe noch 730 tschetschenische Kämpfer, die in viele kleine Gruppen aufgeteilt seien, und 40 - nach anderen Berichten 200 bis 300 - ausländische Söldner. Nachdem Bassajew getötet worden war, wurde im Juli 2006 eine Amnestie verkündet, die schließlich bis 15.1.2007 verlängert wurde; bis zu diesem Zeitpunkt musste man, um in den Genuss der Amnestie zu gelangen, die Waffen niederlegen und sich den Behörden stellen. Bis 25.12.2006 machten 375 Kämpfer davon Gebrauch. Angeblich - folgt man nämlich dem FSB und Kadyrow - sind als Folge dessen nur noch 50 Rebellen in Tschetschenien aktiv; Beobachter bestreiten das.

 

Versorgungssituation

 

Die Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich nach Angaben internationaler Hilfsorganisationen in letzter Zeit etwas gebessert. Der zivile Wiederaufbau der völlig zerstörten Republik konzentriert sich auf die Hauptstadt Grosny. Nach Angaben Alchanows wurden bisher zwei Milliarden Rubel an Kompensationszahlungen geleistet. Nicht-Regierungsorganisationen berichten jedoch, dass nur rund ein Drittel der Vertriebenen eine Bestätigung für die Kompensationsberechtigung erhalte. Viele Rückkehrer bekämen bei ihrer Ankunft in Grosny keine Entschädigung, weil die Behörden sich weigerten, ihre Dokumente zu bearbeiten, oder weil ihre Namen von der Liste der Berechtigten verschwunden seien. Verschiedene Schätzungen gehen davon aus, dass 30 bis 50 % der Kompensationssummen als Schmiergelder gezahlt werden müssen.

 

In Tschetschenien wurden für Flüchtlinge provisorische Unterkünfte errichtet, die nach offiziellen Angaben besser eingerichtet sein sollen als die früheren Lager in Inguschetien. Die Kapazitäten der inzwischen fertig gestellten zeitweiligen Unterkünfte reichen jedoch nicht für alle Flüchtlinge. Außerdem berichten UNICEF und andere Organisationen der Vereinten Nationen von desolaten sanitären Verhältnissen und von schlechten Lebensbedingungen in großen Teilen der von ihnen betreuten Übergangsunterkünfte in Grosny (Mangel an Medikamenten und Nahrungsmitteln, unbefriedigende Sicherheitslage).

 

Die tschetschenische Bevölkerung lebt unter sehr schweren Bedingungen. Die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln ist mangelhaft, besonders in Grosny. Internationalen Hilfsorganisationen ist es nur sehr begrenzt und punktuell möglich, Nahrungsmittel in das Krisengebiet zu liefern. Die Infrastruktur (Strom, Heizung, fließendes Wasser usw.) und das Gesundheitssystem waren nahezu vollständig zusammengebrochen, doch zeigen Wiederaufbauprogramme und die geleisteten Kompensationszahlungen erste Erfolge. Sie sind nicht nur auf die Gelder zurückzuführen, die Moskau überweist und von denen nach wie vor große Summen veruntreut werden, sondern auch auf die "freiwilligen" Spenden, die Ramsan Kadyrow wohlhabenden Geschäftsleuten und den Staatsbediensteten abpresst und die in den "Kadyrow-Fonds" fließen, aus dem wiederum der Aufbau von Schulen, Sportstätten und anderen öffentlichen Einrichtungen finanziert wird. Dadurch hat Kadyrow seinen ehemals schlechteren Ruf in Tschetschenien erfolgreich "aufpoliert". Etwa 50 % des Wohnraums ist seit dem ersten Krieg (1994 - 1996) in Tschetschenien zerstört. Die Arbeitslosigkeit beträgt nach der offiziellen Statistik 80 % (russischer Durchschnitt: 7,6 %).

 

Die medizinische Versorgung in Tschetschenien ist unzureichend. Durch die Zerstörungen und Kämpfe - besonders in der Hauptstadt Grosny - waren medizinische Einrichtungen in Tschetschenien weitgehend nicht mehr funktionstüchtig. Der Wiederaufbau verläuft zwar schleppend, doch gibt es dank internationaler Hilfe Fortschritte bei der personellen, technischen und materiellen Ausstattung in einigen Krankenhäusern, die eine bessere medizinische Grundversorgung gewährleisten.

 

Rückkehrfragen

 

Solange der Tschetschenienkonflikt anhält, ist davon auszugehen, dass abgeschobenen Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden gewidmet wird. Dies gilt insbesondere für solche Personen, die sich in der Tschetschenienfrage engagiert haben bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellen.

 

Situation von Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens

 

Fremdenfeindliche Ressentiments nahmen in der Bevölkerung der Russischen Föderation in den letzten Jahren zu; sie richten sich insbesondere gegen Tschetschenen und andere Kaukasier, so genannte "Tschornyje" ("Schwarze"). Der Tschetschenienkonflikt und die Angst vor Terroranschlägen verstärken diese Tendenz. Im Zusammenhang mit der intensiven Fahndung nach den Drahtziehern und Teilnehmern von Terrorakten hat sich der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen in Moskau und anderen Teilen Russlands deutlich erhöht. Die Bevölkerung begegnet Tschetschenen größtenteils mit Misstrauen.

 

Besonders seit Beginn des Zweiten Tschetschenienkrieges Ende 1999 werden auch die in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation lebenden Tschetschenen - allein in Moskau gibt es etwa 200.000, davon jedoch laut Volkszählung von 2002 lediglich 14.465 offiziell registrierte - Ziel benachteiligender Praktiken der Behörden. Menschenrechtsorganisationen berichten über verstärkte Personenkontrollen und Wohnungsdurchsuchungen, zT ohne rechtliche Begründung, Festnahmen, Strafverfahren auf Grund fingierter Beweise und Kündigungsdruck auf Arbeitgeber und Vermieter. Offensichtliche Diskriminierungen, wie das Fälschen von Beweismitteln oder die Verfolgung durch die Miliz, sind im Vergleich zum Ersten Tschetschenienkrieg seltener geworden. Subtile Formen der Diskriminierung bestehen fort.

 

Tschetschenen steht wie allen russischen Staatsbürgern das Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Diese Rechte sind in der

 

Verfassung verankert. Jedoch wird in der Praxis an vielen Orten (ua. in großen Städten, wie zB Moskau und St. Petersburg) der legale Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Russischen Föderation durch Verwaltungsvorschriften stark erschwert. Diese Zuzugsbeschränkungen gelten unabhängig von der Volkszugehörigkeit, wirken sich jedoch im Zusammenhang mit der anti-kaukasischen Stimmung stark auf die Möglichkeit rückgeführter Tschetschenen aus, sich legal dort niederzulassen. Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen. Die Registrierung legalisiert den Aufenthalt und ermöglicht den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem. Voraussetzung für eine Registrierung ist ein nachweisbarer Wohnraum und die Vorlage des Inlandspasses. Trotz der Systemumstellung durch das Föderationsgesetz wenden viele Regionalbehörden der Russischen Föderation restriktive örtliche Vorschriften oder Verwaltungspraktiken an. Daher haben Tschetschenen erhebliche Schwierigkeiten, außerhalb Tschetscheniens eine offizielle Registrierung zu erhalten. Zahlreiche Nicht-Regierungsorganisationen berichten, dass vielen Tschetschenen, besonders in Moskau, die Registrierung verweigert werde. Nach Moskau zurückgeführte Tschetschenen haben deshalb in der Regel nur dann eine Chance, in der Stadt Aufnahme zu finden, wenn sie genügend Geld haben oder auf ein Netzwerk von Bekannten oder Verwandten zurückgreifen können. Nach der Moskauer Geiselnahme im Oktober 2002 haben sich administrative Schwierigkeiten und Behördenwillkür gegenüber Tschetschenen im Allgemeinen und rückgeführten Tschetschenen

 

im Besonderen verstärkt. Angesichts der Terrorgefahr dürfte sich hieran in absehbarer Zeit nichts ändern. Eine verschärfte Neufassung des Aufenthaltsrechts spezifisch für Tschetschenen wird von der Moskauer Stadtverwaltung und von Abgeordneten des Stadtparlaments gefordert.

 

Tschetschenische Flüchtlinge können grundsätzlich in andere Teile der Russischen Föderation weiterreisen, dies trifft aber auf Transportprobleme und auf fehlende Aufnahmekapazitäten. Soweit zur Weiterreise die Hilfe russischer Regierungsstellen in Anspruch genommen werden muss, kann sie bürokratischen Hemmnissen und Behördenwillkür begegnen. Nichtregistrierte Tschetschenen können innerhalb Russlands allenfalls in der tschetschenischen Diaspora untertauchen und dort überleben. Wie ihre Lebensverhältnisse sind, hängt insbesondere davon ab, ob sie über Geld, Familienanschluss, Ausbildung und russische Sprachkenntnisse verfügen. Menschenrechtler beklagen eine Zunahme von Festnahmen wegen fehlender Registrierungen oder auf Grund manipulierter Ermittlungsverfahren. Eine Registrierung als Binnenflüchtling und die damit verbundene Gewährung von Aufenthaltsrechten und Sozialleistungen (Wohnung, Schule, medizinische Fürsorge, Arbeitsmöglichkeit) wird in der Russischen Föderation laut Berichten von amnesty international und des Hochkommissärs der Vereinten Nationen für Flüchtlinge regelmäßig verwehrt.

 

Tschetschenen leben außerhalb Tschetscheniens und Inguschetiens neben Moskau vor allem in Südrussland (Regionen Krasnodar, Stawropol). Dort ist eine Registrierung auch grundsätzlich leichter möglich als in Moskau, ua. weil Wohnraum (eine Registrierungsvoraussetzung) dort erheblich billiger ist als in Moskau, wo die Preise auf dem freien Wohnungsmarkt ausgesprochen hoch sind. Eine Registrierung ist in vielen Landesteilen oft erst nach Intervention von Nicht-Regierungsorganisationen, Duma-Abgeordneten oder anderen einflussreichen Persönlichkeiten oder durch Bestechung möglich.

 

Es ist grundsätzlich möglich, von und nach Tschetschenien ein- und auszureisen und sich innerhalb der Republik zu bewegen. An den Grenzen zu den russischen Nachbarrepubliken befinden sich jedoch nach wie vor - wenn auch in stark verringerter Zahl - Kontrollposten der föderalen Truppen oder der Kadyrowzy, die gewöhnlich eine "Ein- bzw. Ausreisegebühr" erheben. Sie beträgt für Bewohner Tschetscheniens in der Regel 10 Rubel, also ungefähr 30 (Euro-)Cent; für Auswärtige - auch Tschetschenen - liegt sie höher.

 

Die Sicherheitslage wird im Bericht des (deutschen) Auswärtigen Amtes ungünstiger geschildert als im Bericht des US State Department. Im Bericht des Außenamtes heißt es

 

nämlich (S 19): "Die Sicherheit der Zivilbevölkerung in Tschetschenien ist nicht gewährleistet. In den Gebieten, in denen sich russische Truppen aufhalten (sie umfassen mit Ausnahme schwer zugänglicher Gebirgsregionen das ganze Territorium der Teilrepublik), leidet die Bevölkerung einerseits unter den ständigen Razzien, ¿Säuberungsaktionen', Plünderungen und Übergriffen durch russische Soldaten und Angehörige der Truppe von Ramsan Kadyrow, andererseits unter Guerilla-Aktivitäten und Geiselnahmen der Rebellen. Zwar hat auch nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen und internationalen Organisationen die Anzahl von Gewaltakten sowohl von Seiten der durch Fahndungserfolge der russischen und tschetschenischen Sicherheitskräfte geschwächten Rebellen als auch von Seiten der Sicherheitskräfte selbst zuletzt abgenommen, doch sind immer noch willkürliche Überfälle bewaffneter, nicht zuzuordnender Kämpfer, Festnahmen und Bombenanschläge an der Tagesordnung."

 

Die Berufungsbehörde folgt, soweit die Einschätzungen voneinander abweichen, dem Bericht des US State Department, weil er ein halbes Jahr jünger ist und daher die Entwicklung dieses Halbjahres einbezieht; sie wird auch durch die Artikel Hilles und - etwas zurückhaltender - durch den Bericht Ammanns bestätigt (der auch die Artikel Hilles verarbeitet, einen allerdings unter dem Autorennamen "Markus Ackeret" zitiert: S 1 FN 1). Der Grund für diese Entwicklung war offenbar der Wille der föderalen Machthaber zur "Tschetschenisierung" des Konfliktes, verbunden mit dem Rückzug der föderalen Truppen aus dem Alltag und mit dem weiteren Aufbau der Machtposition Ramsan Kadyrows. Eine Verbesserung der Sicherheitslage - gegenüber früher - kommt aber auch in dem zuvor wiedergegebenen Zitat des Außenamtsberichts zum Ausdruck.

 

Alle Berichte schildern jedenfalls übereinstimmend einen Rückgang in der Zahl der Verschleppungen - die für die Sicherheitslage symptomatisch ist - und beziehen sich dabei regelmäßig auf die russische Menschenrechtsorganisation "Memorial". So heißt es im Außenamtsbericht (S 15): "Menschenrechtsorganisationen berichten außerdem von zahlreichen Fällen von ¿Verschwindenlassen' von Zivilisten in Tschetschenien. Im Jahre 2005 wurden nach Angaben der russischen Menschenrechtsorganisation ¿Memorial' 317 Menschen entführt, von denen 126 befreit, 23 getötet, 15 in Untersuchungshaft und 153 immer noch vermisst seien. Von Januar bis Mai 2006 wurden laut ¿Memorial' 103 Personen entführt, von denen 50 befreit und sechs getötet worden seien; 38 seien verschwunden, neun im Gefängnis. Da Memorial nur etwa 25 - 30 % des tschetschenischen Territoriums beobachtet, dürfte die tatsächliche Zahl wesentlich höher sein."

 

Hille schreibt am 12.8.2006: "Die Zahl der Morde und Verschleppungen sei im vergangenen Jahr um ein Drittel zurückgegangen, meldete die angesehene Menschenrechtsorganisation Memorial Anfang August. In ihrem Bericht dokumentiert Memorial 192 Morde und 316 Fälle von Verschwundenen seit August des vergangenen Jahres. Für das vorherige Jahr hatte Memorial noch 310 Morde und 418 Verschleppungen aufgelistet." (Auf die Skepsis gegenüber diesen Zahlen, die Hille weiter anführt, ist schon in den Feststellungen hingewiesen worden)

Am 6.1.2007 schreibt er: "Tatsächlich hat sich die Menschenrechtslage deutlich verbessert. Erstmals nähern sich die offiziellen Zahlen über Verschwundene und die Statistik von

Menschenrechtsgruppen weitgehend an: So beziffert das tschetschenische Innenministerium die Zahl der seit dem Jahr 2000 Verschleppten auf rund 2700. Laut der Moskauer Menschenrechtsgruppe Memorial sind 1246 tot oder verschollen. Im vergangenen Jahr wurden nach offiziellen Angaben 158 Menschen verschleppt, von denen 59 als verschollen gelten. Memorial hingegen zählt 184 Entführungsfälle, von 63 Menschen fehlt noch immer jede Spur.

 

Die Zahlen sind rückläufig, doch die Dunkelziffer dürfte höher liegen, weil viele Fälle aus Angst vor Repressalien gar nicht erst angezeigt werden."

 

Ammann schreibt (S 6): "Vordergründig verbessert sich die Lage, die Menschenrechtsorganisationen melden einen deutlichen Rückgang der Gewaltverbrechen in Tschetschenien: Laut Memorial ist die Zahl der Morde und Verschleppungen zwischen Herbst 2005 und Herbst 2006 um ein Drittel auf 192 Morde und 316 Fälle von Verschwundenen zurückgegangen. Im Jahr zuvor waren es noch 310 Morde und 418 Verschleppungen."

 

Im Bericht des US State Department schließlich heißt es (section 1, b): "There were reports of government involvement in politically motivated disappearances in Chechnya and Ingushetiya, although the number of disappearances declined compared to 2005. In 2005 Memorial documented 316 'abduction' cases; 127 of these 'disappeared' without a trace and 23 were found dead. During the year Memorial documented 184 abductions. Of these, Memorial reported that 91 persons were released, 63 'disappeared,' 11 found dead, and 19 were under investigation by authorities." Zum Jahr 2006 heißt es weiter (section 1, g): "During the year, according to Memorial, 184 persons were abducted, of whom 91 were freed or ransomed, 11 were found killed, 19 were thought to be in detention, and 63 disappeared. Memorial attributed at least part of this decline to a climate of fear in which individuals were afraid to report abductions. In 2005, according to Memorial, 316 persons were abducted, of whom 151 were freed or ransomed, 23 were found dead, 15 were thought to be in detention, and 127 disappeared."

 

Zum Rückgang der "Säuberungen" schreibt derselbe Bericht: "There were fewer mopping-up operations, known as 'zachistki,' than in previous years, although more targeted operations, such as night raids, continued."

 

Das bedeutet - wie sich aus den genannten Zahlen ergibt - mitnichten, dass sich die Sicherheitslage völlig entspannt hätte, es besteht aber eine Situation, die bei der Einschätzung, ob Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit droht, berücksichtigt werden muss. Dies

 

muss im Einzelfall geprüft werden. Dabei geht die Berufungsbehörde davon aus, dass die Kadyrowzi nicht in dem Ausmaß, wie dies für Übergriffe in der Vergangenheit möglicherweise anzunehmen war, wahllos vorgehen, sodass damals grundsätzlich jedermann Opfer solcher Übergriffe werden konnte, sondern dass sie, wie es im letzten Zitat des US-Berichts zum Ausdruck kommt, gezielter vorgehen.

 

Quellen: Verfassung der Russischen Föderation vom 12. Dezember 1993 (http://www.verfassungen.de/rus/russland93-index.htm)

 

Verfassung der Tschetschenischen Republik (Chechnya - Constitution) von 2003

 

(http://www.oefre.unibe.ch/law//icl/cc01000_html)

 

Bericht des (deutschen) Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (einschließlich Tschetschenien) vom 18.8.2006, Stand Juli 2006 Stephan Hille, Moskau zieht Truppen aus Tschetschenien ab. NZZ 12.8.2006 (APA vom 16.8.2006)

 

Stephan Hille, Beschwerliche Rückkehr zur Normalität in Grosny. NZZ 6.1.2007 (APA vom 8.1.2007)

 

Klaus Ammann, Nordkaukasus. Entwicklungen in Tschetschenien sowie in Dagestan, Kabardino-Balkarien, Inguschetien. SFH (Jänner 2007)

 

US State Department, Country Report on Human Rights Practices 2006:

Russia (6.3.2007) Kadyrov Named Acting Chechen President. Chechnya Weekly 15.2.2007

 

Kadyrov Wants Federal Troops Out. Chechnya Weekly 29.3.2007

 

Kadyrov Sworn In as Chechnya's President. Chechnya Weekly 5.4.2007

 

Alle zitierten Unterlagen, auf denen diese Feststellungen beruhen, stammen von angesehenen staatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen und aus einer international angesehenen Qualitätszeitung (der Neuen Zürcher Zeitung), sodass keine Bedenken dagegen bestehen, sich darauf zu stützen.

 

Rechtlich ist auszuführen:

 

Gemäß § 7 AsylG hat die Behörde Asylwerbern auf Antrag mit Bescheid Asyl zu gewähren, wenn glaubhaft ist, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung (Artikel 1 Abschnitt A Ziffer 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) droht und keiner der in Artikel 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

 

Im Sinne des Artikel 1 Abschnitt A Ziffer 2 Genfer Flüchtlingskonvention vom 28.07.1951, BGBl. Nr. 55/1955 i.V.m.

Artikel 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31.01.1967, BGBl. Nr. 78/1974, ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und sich nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

 

Zentraler Aspekt der in Artikel 1 Abschnitt A Ziffer 2 Genfer Flüchtlingskonvention definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH vom 06.12.1999, Zl. 99/01/0279, mwN).

 

Wie bereits ausgeführt ist es dem Beschwerdeführer nicht gelungen, eine Bedrohung von Seiten staatlicher Behörden glaubhaft zu machen. Eine asylrelevante Verfolgung ihn persönlich betreffend hat der Beschwerdeführer im gesamten Verfahren nicht vorgebracht. Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr erheblichen Beeinträchtigungen seiner körperlichen und seelischen Unversehrtheit, seiner Freiheit und seines Lebens von staatlicher Seite ausgesetzt gewesen wäre, haben sich weder aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers noch aus den Länderfeststellungen ergeben. Auch haben sich mangels konkreter Anhaltspunkte keine Hinweise dafür ergeben, dass der Beschwerdeführer seines Bruders wegen Repressalien, die eine asylrechtlich relevante Intensität aufweisen, in seinem Heimatland ausgesetzt war bzw. ist.

 

Ist ein Asylantrag abzuweisen, hat die Behörde gemäß § 8 Abs. 1 AsylG von Amts wegen bescheidmäßig festzustellen, ob die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in den Herkunftsstaat zulässig ist (§ 57 Fremdengesetz 1997; nunmehr § 50 Fremdenpolizeigesetz - FPG 2005); diese Entscheidung ist mit der Abweisung des Asylantrages zu verbinden.

 

Nach den gesetzlichen Bestimmungen des Fremdenrechts ist eine Zurückweisung, die Hinderung an der Einreise, Zurückschiebung oder Abschiebung Fremder in einen Staat unzulässig, wenn dadurch Artikel 2 EMRK, Artikel 3 EMRK oder das Protokoll Nr. 6 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre (§ 50 Abs. 1 FPG). Gemäß § 50 Abs. 2 und 4 FPG ist die Zurückweisung, Zurückschiebung, oder - mit einer für den vorliegenden Fall nicht in Betracht kommenden Einschränkung - Abschiebung Fremder in einen Staat oder die Hinderung an der Einreise aus einem Staat unzulässig, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass ihr Leben oder ihre Freiheit aus Gründen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Ansichten bedroht wäre (Artikel 33 Z 1 Genfer Flüchtlingskonvention).

 

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat ein Antragsteller das Bestehen einer aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten Bedrohung der relevanten Rechtsgüter glaubhaft zu machen, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffender, durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerte Angaben darzutun ist (vgl. VwGH vom 26.06.1997, Zl. 95/18/1291; vom 17.07.1997, Zl. 97/18/0336 und vom 05.04.1995, Zl. 93/18/0289 ua). Die Mitwirkungspflicht des Asylwerbers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in seiner Sphäre gelegen sind, und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (vgl. VwGH vom 30.09.1993, Zl. 93/18/0214). Die Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen, die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Artikels 3 EMRK zu gelangen. Die bloße Möglichkeit einer die in Artikel 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenen Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat unter dem Gesichtspunkt des § 57 FrG als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (vgl. VwGH vom 27.02.2001, Zl. 98/21/0427 sowie VwGH vom 20.06.2002, Zl. 2002/18/0028).

 

Wie bereits ausgeführt gelang es dem Beschwerdeführer nicht, eine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention darzutun. Es kann auch nicht erkannt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation dort die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Artikels 3 EMRK überschritten wäre, zumal er nach eigenen Angaben gemeinsam mit seiner Mutter von 2000 bis 2004 als Marktverkäufer gearbeitet hat und seine restliche Familie weiterhin in Tschetschenien lebt, sodass es ihm bei einer Rückkehr in die Russische Föderation möglich wäre, die existenziellen Grundbedürfnisse wie Nahrung und Unterkunft sowie Arbeit zu erfüllen. Weiters besteht kein Hinweis auf "außergewöhnliche Umstände", die eine Abschiebung unzulässig machen könnten. In der Russischen Föderation besteht keine solch extreme Gefährdungslage, dass gleichsam jeder, der zurückkehrt, einer Gefährdung im Sinne des Artikel 2 und 3 EMRK ausgesetzt wäre.

 

Betreffend eine Rückkehr des Beschwerdeführers in sein Heimatland ist auszuführen, dass die Tatsache der Asylantragstellung keine Verfolgung zur Folge hat, zumal er über einen Inlandsreisepass verfügt und ihm ein Auslandsreisepass ausgestellt wurde.

 

Im gesamten Vorbringen des Beschwerdeführers haben sich keine Anhaltspunkte für ein Vorliegen einer der beiden Tatbestandsvoraussetzungen des § 50 FPG ergeben. Insgesamt gesehen ist es dem Beschwerdeführer sohin nicht gelungen, eine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention darzutun und haben sich auch keine Anhaltspunkte für ein Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 50 FPG ergeben bzw. wurden solche auch nicht begründet vom Berufungswerber vorgebracht.

 

Ist ein Asylantrag abzuweisen und hat die Überprüfung gemäß § 8 Abs. 1 AsylG ergeben, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in den Herkunftsstaat zulässig ist, hat die Behörde diesen Bescheid mit der Ausweisung zu verbinden. In Österreich ebenfalls als Asylwerber aufhältig ist der Bruder des Beschwerdeführers, dessen Asylantrag in erster Instanz abgewiesen wurde und dessen Berufungsverfahren derzeit beim Unabhängigen Bundesasylsenat anhängig ist. Berücksichtigungswürdige familiäre Anknüpfungspunkte in Österreich hat der Beschwerdeführer nicht. Traumatische Erlebnisse in Tschetschenien hat der Beschwerdeführer nicht geschildert. Sohin haben sich auch keine Hinweise ergeben, dass die Ausweisung einen Eingriff in das Privat- oder Familienleben des Berufungswerbers darstellt.

 

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

 

Das Verfahren war gemäß der Bestimmung des § 75 Abs. 1 AsylG idF BGBl. I Nr. 100/2005, des § 75 Abs. 7 Z 1 AsylG 2005 idF BGBl I Nr. 4/2008 und der Bestimmung des § 23 Asylgerichtshofgesetz, BGBl I Nr. 4/2008, zu führen.

Schlagworte
Ausweisung, familiäre Situation, Glaubhaftmachung, Intensität, Lebensgrundlage, non refoulement, Sicherheitslage
Zuletzt aktualisiert am
03.11.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten