TE UVS Wien 2007/09/11 FRG/46/1405/2007

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.09.2007
beobachten
merken
Betreff

Unbefristetes Aufenthaltsverbot gegen einen Einwanderer der zweiten Generation, Verhältnismäßigkeit des Aufenthaltsverbotes nicht gegeben

Spruch

Der Unabhängige Verwaltungssenat Wien hat durch sein Mitglied Mag. Schmied über die Berufung des Herrn Emir M., vertreten durch Rechtsanwaltsbüro, gegen den Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien, Fremdenpolizeiliches Büro, vom 20.1.2007, Zl. III- 830.269/FrB/07 mit welchem gemäß § 86 Abs 1 in Verbindung mit § 63 Abs 1 FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, gegen Herrn Emir M. ein unbefristetes Aufenthaltsverbot erlassen wurde, entschieden:

Gemäß § 66 Abs 4 AVG wird der Berufung Folge gegeben und der angefochtene Bescheid behoben.

Text

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde über den polnischen Staatsangehörigen Emir M., geb. am 28.7.1979, gemäß § 86 Abs 1 in Verbindung mit § 63 Abs 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG ein unbefristetes Aufenthaltsverbot verhängt und gemäß § 86 Abs 3 FPG ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat gewährt.

In der Begründung führt die erstinstanzliche Behörde aus, dass sich Emir M. bereits seit seinem dritten Lebensmonat in Österreich aufhalte und bis zum EU-Beitritt Polens stets im Besitz einer gültigen Niederlassungsbewilligung bzw. eines unbefristeten Sichtvermerks gewesen sei. Er sei auch durchgehend in Österreich aufrecht gemeldet gewesen. Auch sein Vater, seine Mutter und sein Bruder hielten sich in Österreich auf. Herr M. habe in Österreich 4 Jahre Volksschule, 4 Jahre Hauptschule und ein Jahr Polytechnikum besucht und sei von 2002 bis zu seiner Inhaftierung (diese erfolgte im März 2004) teilweise beschäftigt, teilweise arbeitslos gewesen. Am 18.12.2002 sei Herr M. erstmals gerichtlich verurteilt worden, und zwar zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten wegen Übertretung des § 107 Abs 1 StGB (gefährliche Drohung). Am 15.12.2004 sei er neuerlich vom Landesgericht für Strafsachen Wien verurteilt worden, und zwar zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren unbedingt wegen Übertretung des § 87 Abs 1 und 2 zweiter Satz (absichtliche schwere Körperverletzung mit Todesfolge). Das öffentliche Interesse an der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes sei wesentlich höher einzustufen als das in Anbetracht der Integration von Herrn M. in Österreich zweifellos sehr erhebliche private Interesse an seinem Verbleib im Bundesgebiet, zumal seiner letzten gerichtlichen Verurteilung zugrunde liege, dass Herr M. zwar zunächst in Notwehr gehandelt habe, dann aber, nachdem der Angreifer bereits wehrlos am Boden gelegen sei, trotzdem noch auf ihn eingestochen habe, was den Tod des Angreifers zur Folge gehabt habe.

Gegen diesen, ihm am 24.1.2007 zugestellten Bescheid hat Herr M. durch seinen anwaltlichen Vertreter fristgerecht Berufung erhoben. Begründend wird darin ausgeführt, die Verurteilung vom 18.12.2002 sei zur Gänze unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen worden, sodass der Berufungswerber nunmehr erstmals das Haftübel verspüre. Er absolviere im Strafvollzug eine Malerlehre und habe sein Leben grundlegend verändert. Der Berufungswerber wolle die Tat, wegen der er zur Zeit die Haftstrafe verbüße, nicht verharmlosen, doch sei dem Urteil zu entnehmen, dass der Berufungswerber zunächst selbst mit einem Messer angegriffen und verletzt worden sei. Als er sich gegen den Angriff zur Wehr gesetzt habe, sei er ausgezuckt und habe auf den Angreifer eingestochen. Der Umstand, dass der Berufungswerber zunächst selbst angegriffen worden sei und danach im Affekt gehandelt habe, sei bei der gemäß § 86 Abs 1 FPG zu treffenden Gefährdungsprognose zugunsten des Berufungswerbers zu berücksichtigen. Außerdem habe der Berufungswerber sein ganzes bisheriges Leben in Österreich verbracht, wo auch seine Eltern und sein Bruder lebten. Sein Herkunftsland Polen kenne er nur von kurzfristigen Urlaubsaufenthalten. Es gebe in Polen weder Verwandte noch Freunde noch Bekannte, zu denen der Berufungswerber Kontakt habe. Im Gegensatz zur deutschen Sprache beherrsche er Polnisch nur mangelhaft und könne weder polnisch lesen noch schreiben. Auch den Eltern und dem Bruder des Berufungswerbers sei es nicht zuzumuten, dauerhaft von ihm getrennt zu sein. Ein gemeinsames Familienleben in Polen sei der Familie nach beinahe 30-jährigem Aufenthalt in Österreich nicht mehr zuzumuten. Im Berufungsverfahren wurde zunächst ein Strafregisterauszug über den Berufungswerber beigeschafft, der vier strafgerichtliche Verurteilungen wegen vorsätzlicher Körperverletzung (BG Inneres Stadt vom 23.8.2000), gefährlicher Drohung (LGS Wien vom 11.12.2002), Sachbeschädigung (BG Donaustadt vom 7.1.2003) und vorsätzlicher schwerer Körperverletzung mit Todesfolge (LGS Wien vom 15.12.2004) zu entnehmen sind.

Danach wurden der Akt des BG Innere Stadt zur GZ 14U 271/00w sowie die Akten des LG für Strafsachen zu den GZ 052 Hv 39/04s und 52 HV 39/2004s beigeschafft und eingesehen.

Am 5.6.2007 wurde eine öffentliche, mündliche Verhandlung vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat Wien durchgeführt, zu welcher der Berufungswerber in Begleitung seines anwaltlichen Vertreters ladungsgemäß erschienen ist. Die Bundespolizeidirektion Wien entsandte zur Verhandlung keinen Vertreter.

In der Verhandlung äußerte sich der Berufungswerber wie folgt:

?Ich bin schon als Kleinkind im Alter von wenigen Monaten nach Österreich gekommen, bin hier zur Volksschule, Hauptschule und Polytechnikum gegangen und habe ich mich ständig in Österreich aufgehalten. In Polen war ich nur gelegentlich, um Verwandte zu besuchen. Ich war aber nie länger dort als ein paar Tage oder Wochen zu Besuchszwecken. Ich spreche nur vergleichsweise wenig Polnisch. Die deutsche Sprache beherrsche ich viel besser. Außer mir leben von meiner Familie noch mein Vater, meine Mutter und mein Bruder in Österreich. Andere Geschwister als meinen Bruder habe ich nicht. In Polen lebt nur noch eine Tante. Sonst habe ich keine mir bekannten Verwandten. Ich hatte ständig eine Aufenthaltserlaubnis und bin daher, zumal ich bis dato keine Probleme mit dem Fremdenrecht hatte, nicht auf die Idee gekommen, die österreichische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Nun ist mir klar, dass das ein Fehler war. Mein Vater ist bereits 73 Jahre alt und pflegebedürftig. Meine Mutter, die ihn derzeit betreut ist selbst schwer krank und bedarf ärztlicher Behandlung. Ich habe derzeit in Österreich eine Freundin, die Beziehung kann ich trotz Haft, zumal ich Freigänger bin, weiterhin pflegen. Kinder habe ich keine. Meine Freundin ist Österreicherin und hier wohnhaft. Bei meiner Tante in Polen könnte ich nicht wohnen, zumal diese auf Grund ihres Alters in einem Pflegeheim untergebracht ist. Ich kann in polnischer Sprache nur gebrochen sprechen, nicht jedoch lesen und schreiben. Ich bin nämlich nie in Polen zur Schule gegangen. Der Verurteilung wegen Sachbeschädigung vom 7.1.2003 beim BG Donaustadt liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Ich wurde damals vom Türsteher des Lokals N. aus dem Lokal verwiesen. Dabei ging eine Tür des Lokals kaputt.?

Für die Zukunft beteuerte der Berufungswerber, dass er sich zutraue, Streitsituationen auszuweichen und selbst im Konfliktfall keine Gewalt mehr anzuwenden. Seine bisherigen Verurteilungen führte er darauf zurück, dass er als Jugendlicher zu aufbrausend gewesen sei. Dies sei aber jetzt nicht mehr der Fall und habe es auch in der Haftanstalt auch keinerlei Konflikte mit dem Anstaltspersonal oder den Mithäftlingen gegeben. Er habe in der Haft eine Malerlehre absolviert und ausgelernt. Derzeit arbeite er als Maler für eine Firma, die Aufträge im Wiener Landesgericht ausführe. Zusätzlich habe er noch jede Woche einen Freigang im Ausmaß von 48 Stunden.

Der anwaltliche Vertreter des Berufungswerbers verzichtete danach auf die Fortsetzung der Verhandlung und erklärte sich mit der schriftlichen Erledigung des Verfahrens einverstanden. Mit ergänzendem Schriftsatz vom 23.7.2007 brachte der Berufungswerber ergänzend vor, dass sowohl sein Vater als auch seine Mutter an Krebs erkrankt wären, der Vater pflegebedürftig sei und beide Elternteile permanenter ärztlicher Betreuung bedürften. Besuchsreisen zu ihrem Sohn nach Polen wären für beide Elternteile somit zu beschwerlich. Außerdem wurde auf die Vergleichbarkeit des gegenständlichen Falles zu dem vom Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 12.6.2007, GZ B 2126/06 hingewiesen.

Der Unabhängige Verwaltungssenat Wien hat erwogen:

Sachverhaltsfeststellungen:

Aufgrund der in der Verhandlung verlesenen, unbestritten gebliebenen Aktenlage, insbesondere des Fremdenaktes und der beigeschafften Gerichtsakten, sowie aufgrund der Angaben des Berufungswerbers in der mündlichen Verhandlung wird folgender Sachverhalt als erwiesen festgestellt:

Der Berufungswerber ist 1979 im Alter von vier Monaten mit seinen Eltern nach Österreich gekommen, wo er seitdem durchgehend hauptwohnsitzlich gemeldet und - von kurzfristigen Urlauben abgesehen - aufhältig ist. Er hat in Österreich seine gesamte Schulausbildung (Volksschule, Hauptschule und Polytechnikum) absolviert und war in der Folge nur zeitweise als Arbeiter bei verschiedenen Firmen beschäftigt, die übrige Zeit bezog er Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe.

Die Eltern sowie der Bruder des Berufungswerbers leben in Österreich. In Polen lebt lediglich eine Tante, die dort in einem Pflegeheim untergebracht ist.

Der Berufungswerber ist, zumal er von klein auf (seit er ein Baby war) in Österreich aufgewachsen ist und hier seine gesamte Schulausbildung absolviert hat, sprachlich und sozial voll integriert. Die polnische Sprache beherrscht er deutlich schlechter als Deutsch.

Die Eltern des Berufungswerbers sind beide schwer krank und zum Teil pflegebedürftig. Häufigere Reisen nach Polen wären ihnen aus gesundheitlichen Gründen nicht zumutbar.

Strafrechtlich wurde der Berufungswerber erstmals im Jahr 2000, also im Alter von 20 Jahren auffällig. Am 11.3.2000 ist er beim Besuch eines Clubbings im R. mit einem anderen Mann in Streit geraten, wurde dabei immer aggressiver und hat dem anderen Mann schließlich einen Faustschlag auf die Wange versetzt, woraus eine blutende Rissquetschwunde und eine Zerrung der Halswirbelsäule resultierte. Im gerichtlichen Strafverfahren wurde der Berufungswerber mit Urteil des BG Innere Stadt vom 23.8.2000 deswegen zu einer Geldstrafe von ATS 8.000,-- verurteilt. Am 13.6.2000 wurde der Berufungswerber wegen des Verdachtes einer Übertretung des Suchtmittelgesetzes (§ 28 Abs 2 SMG) festgenommen. Das Strafverfahren ist allerdings im Zuge der gerichtlichen Voruntersuchung gemäß § 109 Abs1 StPO eingestellt worden. Am 23.8.2000 beging der Berufungswerber das gerichtliche Delikt der Sachbeschädigung. Er hatte nach einer verbalen Auseinandersetzung mit dem Türsteher des Lokals ?N.? aus Zorn eine Glastüre beschädigt. Wegen dieser Straftat wurde über den Berufungswerber vom BG Innere Stadt mit Urteil vom 29.8.2000 eine Geldstrafe von 8.000,-- ATS verhängt.

Am 5.11.2000 wurde der Berufungswerber neuerlich wegen eines Suchtmitteldeliktes (§ 27 Abs 1 SMG) zur Anzeige gebracht, doch endete das daran anknüpfende Verfahren (abermals) mit Einstellung. Am 2.9.2002 hat sich der Berufungswerber in dem im Wiener Prater situierten Spielcasino ?C.? übergeben. Als ihn deswegen ein Bediensteter des Casinos zur Rede stellte, reagierte der Berufungswerber aggressiv und beschimpfte den Lokalbediensteten. Er verließ aber zunächst aufforderungsgemäß das Lokal. Eine Stunde später kehrte er jedoch in das Casino zurück, und forderte den Bediensteten, der ihn zuvor zur Redegestellt hatte, auf mit ihm vor das Lokal zu gehen. Dort zog er ein Fleischermesser, zeigte es dem Bediensteten und bedrohte diesen mit den Worten: ?Nicht heute, aber irgendwann, wenn du nicht damit rechnest?. Wegen dieses Vorfalls wurde der Berufungswerber vom Landesgericht für Strafsachen Wien gemäß § 107 Abs 1 StGB (gefährliche Drohung) zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Die Strafe wurde unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen.

Am 13.4.2004 begab sich der Berufungswerber in Begleitung seines Bekannten E nach einem Streifzug durch mehrere Lokale in die S-gasse in Wien 2. Dort traf er auf die Prostituierte J und deren Bruder S und geriet mit S in Streit. S zog daraufhin ein Messer und stach mehrmals auf den Berufungswerber ein. Dieser erlitt Stichverletzungen im unteren Bereich des Brustkorbs und des Oberbauches. Als ihm E zu Hilfe kam, gelang es dem Berufungswerber trotz seiner Verletzungen S das Messer zu entreißen und ihn zu Fall zu bringen. Dann ?zuckte der Berufungswerber aus? und stach auf S in der Absicht ein, diesen schwer zu verletzen. Die Stichverletzungen erfolgten im Bereich des Oberkörpers und des Gesichts, wobei sich die Stichverletzungen am Rücken letztlich als tödlich erwiesen. Deswegen wurde der Berufungswerber vom Landesgericht für Strafsachen mit Urteil vom 15.12.2004 gemäß § 87 Abs 1 und 2 zweiter Satz StGB zu einer unbedingten Haftstrafe von 5 Jahren verurteilt. Das in diesem Gerichtsverfahren eingeholte neurologische Gutachten attestiert dem Berufungswerber eine leicht erregbare, zum Teil frustrationsintolerante und stimmungslabile Persönlichkeit. Dissoziale Verhaltensmuster seien nachweisbar. Die Persönlichkeitsstruktur des Berufungswerbers sei jedoch weder in ihren Einzelkomponenten noch in ihrer Gesamtheit als abnorm zu bezeichnen und keineswegs dem Rechtsbegriff der geistig-seelischen Abartigkeit höheren Grades zuzuordnen.

Seit seiner Festnahme am 13.4.2004 befindet sich der Berufungswerber in Haft. Dort hat es bislang keine Beanstandungen gegeben und hat der Berufungswerber in der Haft eine Malerlehre absolviert sowie an einer Anti-Aggressions-Trainingsgruppe teilgenommen. Er genießt derzeit den Status eines Freigängers (wöchentlicher Freigang im Ausmaß von 48 Stunden).

Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 9 Abs 1 Z 1 des am 1.1.2006 in Kraft getretenen Fremdenpolizeigesetzes, BGBl. I 100/2005 idF BGBl. I 157/2005 sind zur Entscheidung über Berufungen von EWR-Bürgern, Schweizer-Bürgern und begünstigten Drittstaatsangehörigen die unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern zuständig.

Die Zuständigkeit des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien zur Absprache über die Berufung gegen das erstinstanzlich von der Bundespolizeidirektion Wien über Herrn Emir M. verhängte Aufenthaltsverbot ergibt sich aus der Stellung des Berufungswerbers als Staatsangehöriger Polens und somit als Bürger eines Mitgliedstaates der Europäischen Union.

Gemäß § 60 Abs 1 FPG 2005 idF BGBl. I 99/2006 kann gegen einen Fremden ein Aufenthaltsverbot erlassen werden, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass sein Aufenthalt die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet oder anderen in Art. 8 Abs 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft.

Gemäß § 60 Abs 2 Z 1 leg. cit. hat als bestimmte Tatsache insbesondere zu gelten, wenn ein Fremder von einem inländischen Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten, zu einer teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe, zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten oder mehr als einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhender strafbarer Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist.

Gemäß § 61 Z 4 FPG 2005 darf ein Aufenthaltsverbot nicht erlassen werden, wenn der Fremde von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist, es sei denn, der Fremde wäre wegen einer gerichtlich strafbaren Handlung rechtskräftig zu mehr als einer unbedingten zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden oder würde einen der in § 60 Abs 2 Z 12 bis 14 bezeichneten Tatbestände verwirklichen. Zumal der Berufungswerber zuletzt zu einer unbedingten fünfjährigen Haftstrafe verurteilt worden war, liegt eine bestimmte Tatsache im Sinne des § 60 Abs 2 Z 1 FPG vor und steht gemäß § 61 Z 4 FPG selbst der Umstand, dass er von klein auf im Inland aufgewachsen ist, der Verhängung eines Aufenthaltsverbotes nicht zwingend entgegen.

Gemäß § 63 Abs 1 FPG 2005 kann in den Fällen des § 60 Abs 2 Z 1 leg. cit. ein Aufenthaltsverbot unbefristet erlassen werden. Gemäß § 63 Abs 2 leg. cit. ist bei der Festsetzung der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltsverbotes auf die für seine Erlassung maßgeblichen Umstände Bedacht zu nehmen.

Gemäß § 86 Abs 1 FPG ist gegen freizügigkeitsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nur dann zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes ihren Hauptwohnsitz ununterbrochen seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, das Aufenthaltsverbot wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.

Bei der Prüfung der Zulässigkeit eines Aufenthaltsverbots gemäß der vorhin zitierten Bestimmung des § 86 Abs 1 FPG ist nach der ständigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung der Katalog des § 60 Abs 2 FPG, in dem exemplarisch die Tatsachen aufgezählt sind, welche die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet oder anderen in Art. 8 Abs 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft, als Orientierungsmaßstab heranzuziehen (vgl. dazu VwGH 30.1.2007, 2006/18/0432 und 2006/18/0440). In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass der Berufungswerber mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 15.12.2004 zu einer unbedingten fünfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde und somit eine bestimmte Tatsache im Sinne des § 60 Abs 2 Z 1 FPG vorliegt, welche die Annahme rechtfertigt, dass der (weitere) Aufenthalts des Berufungswerbers die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet.

Im Zusammenhang mit § 86 Abs 1 FPG ist im gegenständlichen Fall des Weiteren festzuhalten, dass der Berufungswerber, selbst dann, wenn man die Verwirklichung des für die Verhängung des Aufenthaltsverbots maßgeblichen Sachverhalts mit der ersten von ihm begangenen Straftat vom 11.3.2000 ansetzt, vor diesem Zeitpunkt schon länger als 10 Jahre in Österreich ununterbrochen seinen Hauptwohnsitz gehabt hat, weswegen die Erlassung des Aufenthaltsverbots nach den Kriterien des § 86 Abs 1 fünfter Satz zu überprüfen war. Voraussetzung für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes ist somit nach der vorzitierten Rechtslage ein persönliches Verhalten des Berufungswerbers, aufgrund dessen davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Der gemäß § 60 Abs 6 FPG 2005 auch im Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes anzuwendende § 66 leg. cit. lautet wie folgt:

?§ 66 (1) Würde durch eine Ausweisung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Ausweisung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Eine Ausweisung gemäß § 54 Abs 1, 3 und 4 darf jedenfalls nicht erlassen werden, wenn die Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen, als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von seiner Erlassung. Bei dieser Abwägung ist insbesondere auf folgende Umstände Bedacht zu nehmen:

1. die Dauer des Aufenthaltes und das Ausmaß der Integration des Fremden oder seiner Familienangehörigen;

2. die Intensität der familiären oder sonstigen Bindungen.?

Zur danach gebotenen Interessenabwägung hat jüngst der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 12.6.2007, GZ B 2126/06- 16, im Falle eines straffällig gewordenen polnischen Staatsangehörigen, der bereits seit seinem vierten Lebensjahr, insgesamt seit mehr als 27 Jahren in Österreich lebt und hier seine Schulausbildung absolviert hat, ausgesprochen, dass die Behörde diesbezüglich auf die von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) entwickelten Kriterien hätte zurückgreifen müssen.

Nach der solcherart verwiesenen Judikatur des EGMR unterliegt nun die Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen gegenüber Fremden, insbesondere im Bereich von Einwanderern der zweiten Generation, d.h. von Personen, die in der Regel praktisch keine Bindungen zum Staat der formellen Staatsangehörigkeit mehr haben, weil sie im Aufenthaltsstaat geboren wurden sowie von Personen, die seit frühester Kindheit in diesem Staat leben, deutlich strengeren Kriterien als dies bei sonstigen Fremden der Fall ist (siehe dazu ausführlich Grabenwarter, Zur Bedeutung der Entscheidungen des EGMR in der Praxis des VfGH, Richterzeitung 2007, S 154).

Zur Beurteilung der Verhältnismäßigkeit von Ausweisungen stellte der EGMR in diesen Fällen (siehe insbesondere den Fall Boultif gegen die Schweiz) auf eine Reihe von Kriterien ab, die zur Gewichtung des Interesses der Allgemeinheit an der Ausweisung und dem Interesse des Betroffenen an der Ermöglichung seines Familienlebens herangezogen werden. Nach der Art eines beweglichen Systems berücksichtigte der EGMR bis in die jüngste Zeit eine Reihe von Kriterien für die Zulässigkeit einer Ausweisung oder Abschiebung, wie z.B. * die Natur und Schwere der begangenen Straftaten,

* die seit Begehung der Straftat vergangene Zeit sowie das Verhalten des Beschwerdeführers in dieser Zeit,

* die Aufenthaltsdauer im ausweisenden Staat,

* die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen,

* die familiäre Situation des Beschwerdeführers,

* das Vorliegen gemeinsamer Kinder im Aufenthaltsstaat und deren Alter,

* die Schwierigkeiten, mit denen ein Paar im Herkunftsstaat konfrontiert sein könnte.

Im Urteil der Großen Kammer des EGMR vom 18.10.2006, GZ 18/10/06, im Fall Üner gegen die Niederlande wurde nunmehr explizit gemacht, dass die Integrationschancen im Herkunftsland den Integrationschancen im Aufenthaltsstaat gegenüberzustellen sind. Diesbezüglich hat der Gerichtshof zwei neue Kriterien formuliert, nämlich:

* das Wohl der Kinder, insbesondere die Ernsthaftigkeit der Probleme, mit denen die Kinder eines Beschwerdeführers wahrscheinlich im Herkunftsstaat konfrontiert sein würden, und * die Festigkeit der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen mit dem Aufenthaltsstaat und dem Herkunftsstaat. Bei Ausweisungen von Einwanderern der zweiten Generation wird somit vom EGMR ein besonderer, stärkerer Schutz aus Art 8 EMRK angenommen, der auch dann gilt, wenn schwerwiegende Straftaten begangen wurden. In der Abwägung berücksichtigt der Gerichtshof neben den allgemeinen Kriterien für die Beurteilung von Ausweisungen die besonderen Bindungen, die diese Personen mit dem Aufenthaltsstaat eingegangen sind, in dem sie ihre Erziehung erhalten, den Großteil ihrer sozialen Kontakte geknüpft und folglich ihre eigene Identität entwickelt haben. Damit werden die Integrationschancen im Herkunftsland unter Berücksichtigung der Integrationschancen im Aufenthaltsstaat einander gegenübergestellt (siehe Grabenwarter, Zur Bedeutung der Entscheidungen des EGMR in der Praxis des VfGH, Richterzeitung 2007, S 154).

Der erkennende Senat schließt sich ungeachtet des Umstandes, dass die bisherige Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes auch bei Einwanderern der zweiten Generation einer strengen Linie folgt und die oben angesprochenen Entscheidungen des EGMR ? anders als beim VfGH ? (noch) keinen Eingang in die Rechtsprechung des VwGH gefunden haben (siehe insbesondere VwGH vom 29.11.2006, Zl. 2006/18/0275-6, worin der VwGH die Begründung der belangten Behörde für die Aufhebung eines Aufenthaltsverbots gerade deswegen rügt, weil bei der Interessenabwägung die Integrationschancen des Fremden im Herkunftsland mitberücksichtigt wurden) der Auffassung des VfGH und des EGMR an, wobei auch berücksichtigt wird, dass es gegenständlich um ein gegen einen EU-Bürger verhängtes Aufenthaltsverbot geht und der Unionsbürgerrichtline, Abl. Nr. L 229 vom 29.6.2004, zu entnehmen ist, dass bei entsprechender Aufenthaltsverfestigung die Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen nur unter besonderen Umständen ermöglicht werden soll. So heißt es in Absatz 24 der Präambel zur genannten Richtlinie wörtlich: ?Gegen Unionsbürger, die sich viele Jahre im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates aufgehalten haben, insbesondere in Fällen, in denen sie dort geboren sind und dort ihr ganzes Leben ihren Aufenthalt gehabt haben, sollte nur unter außergewöhnlichen Umständen aus zwingende Gründen der öffentlichen Sicherheit eine Ausweisung verfügt werden.?

Vor diesem Hintergrund ist die Verhältnismäßigkeit des über den Berufungswerber verhängten Aufenthaltsverbots wie folgt zu beurteilen:

Abgesehen von den ersten vier Lebensmonaten hat der nunmehr 28-jährige Berufungswerber sein gesamtes Leben in Österreich verbracht und hier auch zur Gänze seine soziale Prägung erfahren. Die nach der oben erörterten Rechtsprechung des VfGH und des EGMR zu berücksichtigende Festigkeit der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen mit dem Aufenthaltsstaat Österreich und das beinahe völlige Fehlen solcher Bindungen zum Herkunftsstaat Polen sowie die lange Dauer des Aufenthalts des Berufungswerbers in Österreich wiegen so schwer, dass sich das über ihn verhängte Aufenthaltsverbot trotz des gravierenden Unwertgehalts der ihm zur Last liegenden Straftaten, insbesondere jener vom 13.4.2004 nicht als verhältnismäßig erweist. Dabei war insbesondere zu berücksichtigen, dass der Berufungswerber bei der vorhin angesprochenen Straftat zunächst unbewaffnet war und von einem bewaffneten Mann angegriffen und selbst schwer verletzt worden war, ehe er sich zunächst noch in Notwehr verteidigt und dann im Affekt auf den Angreifer eingestochen und ihm dabei die tödlichen Verletzungen zugefügt hat. Bei keiner der ihm angelasteten Straftaten ist der Berufungswerber gezielt vorgegangen oder hat diese Straftaten gar geplant. Vor allem hinsichtlich der Straftat vom 13.4.2004, die als einzige schwer genug ist, um vor dem Hintergrund der §§ 60 und 61 Z 4 FPG überhaupt ein Aufenthaltsverbot zu rechtfertigen, scheint die Gefahr einer Tatwiederholung in Anbetracht des Umstandes, dass die Tat in einer außergewöhnlichen und einzigartigen Lebenssituation (Bedrohung des eigenen Lebens durch einen Angriff seitens einer mit einem Messer bewaffneten Person) erfolgt ist, denkbar gering.

Die Berufungsbehörde verkennt nicht, dass die dem Berufungswerber zur Last liegenden Straftaten nicht unmaßgeblich auf seine unbeherrschte Persönlichkeit, die vor allem im Fall einer Beleidigung oder eines Angriffs auf seine Person auch vor Gewalt nicht zurückschreckt, zurückzuführen sind, und dass das Verhalten des Berufungswerbers vor diesem Hintergrund ohne Zweifel eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr begründet, die Grundinteressen der Gesellschaft berührt. Dass durch dieses Verhalten allerdings die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Republik Österreich bei einem Verbleib des Berufungswerbers im Land nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde, kann dagegen nicht festgestellt werden. Wie oben bereits ausgeführt, wurde durch die vom Berufungswerber zu verantwortenden Straftaten zwar massiv das Interesse an der öffentlichen Sicherheit beeinträchtigt, außergewöhnliche Umstände bzw. zwingende Gründe für eine Ausweisung des Berufungswerbers liegen jedoch nicht vor. Aufgrund dieser Erwägungen war zum Einen bei der gegenständlich vorzunehmenden Interessenabwägung gemäß § 66 Abs 1 und 2 FPG den Interessen des von klein auf in Österreich aufgewachsenen und hier vollständig integrierten Berufungswerbers auf Wahrung seines Privat- und Familienlebens, sowie den Interessen seiner Eltern, denen es krankheits- und altersbedingt nicht mehr zugemutet werden kann, den Berufungswerber im Fall seiner Ausweisung nach Polen zu begleiten und die daher von ihm getrennt leben müssten, größeres Gewicht zuzumessen als den öffentlichen Sicherheitsinteressen, die für die Setzung aufenthaltsbeendender Maßnahmen sprechen. Zum Anderen liegen die in § 86 Abs 1 fünfter Satz formulierten Voraussetzungen für die Verhängung eines Aufenthaltsverbots in Anbetracht der oben ausführlich dargelegten konkreten Tatumstände der das Setzen einer derartigen Maßnahme grundsätzlich rechtfertigenden Straftat nicht vor. Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

Quelle: Unabhängige Verwaltungssenate UVS, http://www.wien.gv.at/uvs/index.html
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten