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19/05 Menschenrechte;Norm
AsylG 1997 §5 Abs1;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höß und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Pelant, Dr. Thoma und Dr. Berger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Stieger, über die Beschwerde 1. der S, geboren 1965, und 2. der M, geboren 2000, beide in G, vertreten durch Dr. Klaus Kocher, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Sackstraße 36, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 29. Jänner 2003, Zl. 234.387/0-V/15/03, betreffend § 5 Abs. 1 des Asylgesetzes 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von insgesamt EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die Erstbeschwerdeführerin, eine Staatsangehörige von Ruanda, erhielt für sich und ihre am 20. Jänner 2000 in Mali geborene uneheliche Tochter, die Zweitbeschwerdeführerin, am 25. September 2002 von der Belgischen Botschaft in Rabat ein vom
16. bis 28. Oktober 2002 gültiges Schengenvisum ausgestellt und reiste zusammen mit ihrer Tochter am 19. Oktober 2002 über Frankreich in das Bundesgebiet ein. Am 22. Oktober 2002 beantragte sie für sich und ihre Tochter die Gewährung von Asyl und begründete dies im Rahmen ihrer Einvernahme vor dem Bundesasylamt (der Erstbehörde) sowie in einem ergänzenden Schriftsatz damit, sie habe Mali verlassen, um ihre Tochter vor der Beschneidung zu schützen, die die Familie des Vaters des Kindes, eines Staatsangehörigen von Mali, durchführen lassen wolle. Sie würde gerne bei ihrer in Österreich als Flüchtling anerkannten Schwester (in G) bleiben, bei der sie Aufenthalt genommen habe und weiterhin wohnen könne. Die Erstbeschwerdeführerin gehöre einer von Tutsi verfolgten Hutu-Familie an und habe Ruanda schon 1994 verlassen. Zuletzt seien sie und die Zweitbeschwerdeführerin in Mali als Flüchtlinge anerkannt gewesen. Von ihren Familienangehörigen seien - abgesehen von der in G lebenden Schwester - der Vater der Erstbeschwerdeführerin als Asylwerber in Frankreich und ihr Bruder als anerkannter Flüchtling in Belgien aufhältig. In Mali habe die Erstbeschwerdeführerin nicht nur wegen der ihrer Tochter drohenden Beschneidung, sondern auch deshalb nicht bleiben können, weil sie wegen ihres Vaters von in Mali lebenden Tutsi bedroht worden sei. Ein Onkel der Erstbeschwerdeführerin sei in Kamerun, eine Tante in Belgien ermordet worden. Die Erstbeschwerdeführerin habe seither Angst vor Belgien und habe sich deshalb entschlossen, in Österreich Asyl zu suchen.
Mit Bescheid vom 7. Jänner 2003 wies die Erstbehörde die Asylanträge der Beschwerdeführerinnen gemäß § 5 Abs. 1 des Asylgesetzes 1997 - AsylG als unzulässig zurück und sprach aus, dass für die Prüfung der Asylanträge gemäß Art. 5 Abs. 2 des Übereinkommens über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrages (Dubliner Übereinkommen) Belgien zuständig sei und die Beschwerdeführerinnen nach Belgien ausgewiesen würden. Begründend führte die Erstbehörde aus, die Beschwerdeführerinnen seien bei der Asylantragstellung im Besitz eines gültigen Schengenvisums, ausgestellt von der Belgischen Botschaft in Rabat, gewesen. Im vorliegenden Fall sei Art. 5 Abs. 2 des Dubliner Übereinkommens erfüllt, wonach jener Mitgliedstaat zur Prüfung des Asylantrages zuständig sei, der dem Asylwerber ein Visum erteilt habe. Belgien habe sich auf dieser Grundlage bereit erklärt, die Beschwerdeführerinnen einreisen zu lassen und ihre Asylanträge zu prüfen. Eine diesbezügliche Zustimmungserklärung liege der Erstbehörde vor. Dagegen habe kein "humanitärer oder sonstiger Grund" für den Gebrauch des Selbsteintrittsrechtes nach Art. 3 Abs. 4 des Dubliner Übereinkommens und auch auf Grund der ausgesprochenen Ausweisung nach Belgien keine Verletzung des Art. 8 EMRK festgestellt werden können, zumal die Erstbeschwerdeführerin keine ausreichenden Gründe geltend gemacht habe, auf Grund derer sie im Sinne des Beschlusses Nr. 1/2000 des Ausschusses nach Art. 18 des Dubliner Übereinkommens über den Übergang der Zuständigkeit für Familienangehörige vom 30. Oktober 2000 auf Hilfe zum Leben durch ihre in Österreich lebende Schwester angewiesen wäre. Im Hinblick auf ihren in Belgien lebenden Bruder könnte sie nämlich auch dort, wenn nötig, Unterstützung erlangen.
Gegen diesen Bescheid erhob die Erstbeschwerdeführerin im eigenen und im Namen der Zweitbeschwerdeführerin Berufung, in der sie der Annahme, sie könne von ihrem Bruder in Belgien Unterstützung bekommen, entgegen trat und ausführte, auf Grund der Vorwürfe gegenüber ihrem Vater komme es in Belgien laufend zu Auseinandersetzungen zwischen ihrem Bruder und anderen Flüchtlingen aus Ruanda. Ihr Bruder müsse sich "ständig vor jener Gruppe verstecken, weil sie ihn für das Verhalten unseres Vaters verantwortlich machen". Wenn die Erstbeschwerdeführerin und ihre Tochter nach Belgien müssten und sich beim Bruder der Erstbeschwerdeführerin aufhalten müssten, so wäre ihr Leben in großer Gefahr. Weiters gebe es in Belgien Verwandte des Vaters ihrer Tochter, die ihre Tochter beschneiden lassen wollten. Nur in Österreich könne die Erstbeschwerdeführerin ihre Tochter vor dieser menschenunwürdigen Behandlung schützen. Eine Abschiebung nach Belgien würde sie und ihre Tochter in eine ausweglose Situation bringen. Sie beantrage die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung und die Durchführung eines ergänzenden Ermittlungsverfahrens.
Mit dem angefochtenen, ohne weiteres Ermittlungsverfahren erlassenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ab. Sie stellte als "entscheidungswesentlich" nur fest, wann und wie die Erstbeschwerdeführerin (gemeint: zusammen mit der Zweitbeschwerdeführerin) nach Österreich gelangt sei, und dass sie am 22. Oktober 2002 "gegenständlichen Asylantrag" gestellt habe. Diese Feststellungen stützte die belangte Behörde auf die glaubwürdigen Angaben der Erstbeschwerdeführerin bei der Ersteinvernahme sowie auf den erstinstanzlichen Akt. Hieran schloss sich - nach allgemein gehaltenen Ausführungen über den Inhalt der anzuwendenden Rechtsvorschriften - eine Verweisung auf die Zusammenfassung der "bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen" und der "darauf gestützte(n) Beurteilung der Rechtsfolge" im erstinstanzlichen Bescheid. Die belangte Behörde schließe sich den "diesbezüglichen" Ausführungen des Bundesasylamtes an und erkläre sie zum Bestandteil des Berufungsbescheides. Den Berufungsausführungen werde entgegen gehalten, dass es sich bei Belgien - so wie bei Österreich - um einen Rechtsstaat mit funktionierendem Polizeiapparat und durchsetzbarer Rechtsordnung handle und es daher möglich sei, sich im Fall der Bedrohung jedweder Art sowie bei beabsichtigter Körperverletzung, wie Beschneidung, zwecks Abhilfe an die staatlichen Behörden zu wenden. In Belgien lebende Verwandte des Vaters des Kindes könnten übrigens auch jederzeit nach Österreich reisen, um etwaige Beschneidungsabsichten zu verwirklichen. Die für den belgischen Staat getroffenen Feststellungen gälten "in puncto Rechtssystem" ebenso für Österreich. Es liege somit die negative Prozessvoraussetzung der völkervertraglichen Zuständigkeit eines anderen Staates vor. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe "gemäß Art. II Abs. 2 Z 43a EGVG unterbleiben" können.
Über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:
Die Beschwerdeführerinnen lassen die Beurteilung der belangten Behörde im Grunde des Art. 5 Abs. 2 des Dubliner Übereinkommens, wonach Belgien für die Prüfung des Asylantrages zuständig sei, unbekämpft. Die Beschwerdeausführungen zielen zusammengefasst auf einen Selbsteintritt Österreichs nach Art. 3 Abs. 4 des Dubliner Übereinkommens u.a. im Hinblick auf das Familienleben der Beschwerdeführerinnen in Österreich ab.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 23. Jänner 2003, Zl. 2000/01/0498, in Anlehnung an die im Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 8. März 2001, G 117/00 u.a., VfSlg. 16.122, vertretene Ansicht ausgeführt, er halte an seinen Rechtssätzen, wonach § 5 AsylG keiner verfassungskonformen Auslegung im Sinn einer Bedachtnahme auf Art. 3 und 8 EMRK zugänglich sei und dem Asylbewerber (Antragsteller) kein subjektiv-öffentliches Recht auf Eintritt eines nach dem Wortlaut des Dubliner Übereinkommens unzuständigen Mitgliedstaates (Österreich) in die Prüfung des Asylantrages zustehe, nicht fest, sondern schließe sich der (dort näher wiedergegebenen) Ansicht des Verfassungsgerichtshofes an. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen (vgl. seither zu Art. 8 EMRK auch die Erkenntnisse vom 18. Februar 2003, Zl. 2001/01/0116, sowie - das Zusammenleben mit Geschwistern betreffend - vom 12. Juni 2003, Zl. 2001/20/0520; zu Art. 3 EMRK neben dem zuletzt genannten die Erkenntnisse vom 18. Februar 2003, Zl. 2000/01/0386 und Zl. 99/01/0446, vom 20. März 2003, Zl. 2001/20/0288, vom 12. Juni 2003, Zl. 2001/20/0407, und vom 3. Juli 2003, Zl. 2002/20/0199).
Im vorliegenden Fall hat es die belangte Behörde - der das erwähnte Erkenntnis eines verstärkten Senates noch nicht bekannt sein konnte - unterlassen, gemäß den Ausführungen in dessen Entscheidungsgründen unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK zu prüfen, ob mit der Zurückweisung der Asylanträge und der Ausweisung der Beschwerdeführerinnen nach Belgien ein Eingriff in ihr Familienleben mit der Schwester der Erstbeschwerdeführerin in Österreich verbunden und dieser Eingriff zur Wahrung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK bezeichneten Interessen, soweit sich die Umsetzung des Dubliner Übereinkommens zu ihnen in Beziehung setzen lässt, notwendig und verhältnismäßig sei. In der zuletzt genannten Hinsicht wäre insoweit, als die Beschwerdeführerinnen auf die Möglichkeit familiärer Unterstützung durch den in Belgien lebenden Bruder der Erstbeschwerdeführerin verwiesen werden sollten, auf die in der Berufung behaupteten Umstände - im Besondern darüber, dass sich der Bruder der Erstbeschwerdeführerin vor Nachstellungen ihm wegen seines Vaters feindlich gesinnter Landsleute verstecken müsse - einzugehen gewesen. In Bezug auf die allenfalls zu erwartenden Lebensbedingungen hätte es dabei besonders auch der Bedachtnahme auf das kleinkindliche Alter der Zweitbeschwerdeführerin bedurft.
Davon abgesehen hätte sich die belangte Behörde auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 EMRK, d.h. losgelöst von der Frage eines Familienlebens mit der Schwester der Erstbeschwerdeführerin, mit den Behauptungen über die Ermordung der Tante der Erstbeschwerdeführerin in Belgien und über die den Beschwerdeführerinnen von politischen Feinden des Vaters der Erstbeschwerdeführerin und von Verwandten des Vaters der Zweitbeschwerdeführerin dort drohenden Gefahren im Rahmen der beantragten, auf Grund des Gesamtvorbringens keinesfalls entbehrlichen und daher zu Unrecht unterbliebenen Berufungsverhandlung auseinander setzen müssen.
Da die belangte Behörde insbesondere die Notwendigkeit, auf Fragen des Art. 8 EMRK - über die kursorische Erwähnung im erstinstanzlichen Bescheid hinaus - einzugehen, nicht erkannt hat, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333.
Wien, am 3. Dezember 2003
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2003:2003010136.X00Im RIS seit
08.01.2004