TE Vfgh Erkenntnis 2001/9/25 B113/00

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Veröffentlicht am 25.09.2001
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Index

27 Rechtspflege
27/01 Rechtsanwälte

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
B-VG Art83 Abs2
StGG Art5
EMRK Art6 Abs1 / Strafrecht
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
EMRK Art6 Abs3 litd
AußStrG §68
DSt 1990 §1 Abs1
Geo (Geschäftsordnung für die Gerichte I) und II. Instanz, §169, §170
RAO §9

Leitsatz

Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch Verhängung einer Disziplinarstrafe über einen Rechtsanwalt wegen Entnahme eines Originaltestamentes aus einem Verlassenschaftsakt; keine schwerwiegenden Vollzugsfehler, keine Willkür, keine denkunmögliche Gesetzesanwendung; keine überlange Verfahrensdauer, keine verfassungswidrige Ablehnung eines Beweisantrages

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.1. Mit Bescheid vom 1. Juli 1998 erkannte der Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer Wien den Beschwerdeführer für schuldig, am 21. November 1995 dadurch das Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes begangen zu haben, daß er "entgegen dem Verbot des Richters des Bezirksgerichtes Reutte und der zuständigen Rechtshilferichterin des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien das Originaltestament dem Verlassenschaftsakt 1 A96/95f des Bezirksgerichtes Reutte/Tirol, betreffend die Verlassenschaft H. M., entnommen und erst über gerichtliche Aufforderung am 4.12.1995 zurückgestellt" hat. Über den Beschwerdeführer wurde deswegen eine Geldbuße in Höhe von S 30.000,- verhängt.

Diesem Erkenntnis legte der Disziplinarrat folgende Feststellungen zugrunde:

"H. M. ist am 25.4.1995 verstorben; das Verlassenschaftsverfahren nach ihr wird zu 1 A96/95f des Bezirksgerichtes Reutte/Tirol geführt.

H. M. hinterließ drei Söhne und zwar Dipl. Ing. Dr. B. M., W. M., sowie R. M.

Dipl. Ing. Dr. B. M. und W. M. wurden im Verlassenschaftsverfahren durch den Disziplinarbeschuldigten vertreten.

Im Verlassenschaftsverfahren wurde ein handschriftliches Testament der H. M., datiert vom 3.12.1981 vorgelegt, in welchem sie ihren Sohn R. M. zum Alleinerben einsetzt und ihre beiden Söhne Dipl. Ing. Dr. B. M. und W. M. auf den Pflichtteil setzt.

Das handschriftliche Testament von H. M. vom 3.12.1981 entspricht nach dem äußeren Anschein den gesetzlichen Erfordernissen eines gültigen Testamentes. Das handschriftliche Testament wurde im Verlassenschaftsverfahren kundgemacht.

Mit Schriftsatz ON 5 im Verlassenschaftsverfahren 1 A96/95f haben die vom Disziplinarbeschuldigten vertretenen Söhne der H. M., Dipl. Ing. Dr. B. M. und W. M., unter der Behauptung das Testament weise Anhaltspunkte auf, die die Echtheit ernstlich bestreiten lassen und es handle sich bei diesem Testament um keinen gültigen Erbrechtstitel, so daß sich Dipl. Ing. Dr. B. M. und W. M. ausdrücklich vorbehielten das Testament zu bestreiten, die bedingte Erbserklärung aufgrund des Gesetzes abgegeben.

Mit Beschluß ON 7 vom 18.8.1995 hat das Bezirksgericht Reutte/Tirol die aufgrund des Gesetzes bedingt abgegebenen Erbserklärungen jeweils zu 1/3 des Nachlasses angenommen.

R. M. hat aufgrund des Testamentes die bedingte Erbserklärung zum gesamten Nachlaß abgegeben; mit Beschluß des Bezirksgerichtes Reutte/Tirol ON 26 vom 9.10.1995 wurde die von R. M. abgegebene Erbserklärung aus dem Titel des Testamentes zum gesamten Nachlaß zu Gericht angenommen und den erblasserischen Söhnen Dipl. Ing. Dr. B. M. und W. M. die Klägerrolle bezüglich einer Erbrechtsklage zugewiesen, wobei eine Frist von 3 Monaten zwecks Einbringung der Erbrechtsklage eingeräumt wurde. Der Beschluß wurde an den Disziplinarbeschuldigten am 25.10.1995 zugestellt.

Bereits vor Zustellung dieses Beschlusses hat der Disziplinarbeschuldigte (Schriftsatz 12.09.1995) einen Antrag auf Aktenübersendung an das Bezirksgericht Innere Stadt Wien gestellt. Aufgrund dieses Antrages wurde der Akt an das Bezirksgericht Innere Stadt Wien übersandt und der Disziplinarbeschuldigte am 7.11.1995 vom Einlangen des Aktes verständigt.

Der Disziplinarbeschuldigte hat sich auftrags seiner Mandanten mit dem in die Liste des Oberlandesgerichtes Wien als Sachverständigen für Schriftvergleich eingetragenen Dr. C. G. in Verbindung gesetzt um abzuklären, was für die Erstellung eines Privatgutachtens erforderlich wäre. Der Disziplinarbeschuldigte erhielt die Verständigung, daß hiefür das Originalschriftstück erforderlich sei.

Die Erstellung des Privatsachverständigengutachtens war vom Disziplinarbeschuldigten für seine Mandanten beabsichtigt um die vorhandenen Zweifel an der Echtheit des Testamentes zu klären.

Nachdem der Disziplinarbeschuldigte die Verständigung, daß der Akt in Wien eingelangt ist, vom Bezirksgericht Innere Stadt Wien erhalten hat, hat er sich mit dem zuständigen Richter des Bezirksgerichtes Reutte/Tirol, Dr. K. M., in Verbindung gesetzt, und ihm mitgeteilt, daß er zur Erstellung eines Privatgutachtens für seine Mandanten das Originaltestament benötigen würde. Der zuständige Richter Dr. K. M. hat gegenüber dem Disziplinarbeschuldigten die Ausfolgung des Testamentes bzw. die Übersendung des Verlassenschaftsaktes an den vom Disziplinarbeschuldigten in Aussicht genommenen Privatgutachter abgelehnt.

Der Disziplinarbeschuldigte hat mit Schriftsatz vom 7.11.1995 die Ausfolgung des Aktes an den Privatgutachter beantragt.

Da Rechtsmittel gegen Beschlüsse im Verlassenschaftsverfahren eingebracht wurden, wurde der Akt vom Bezirksgericht Reutte zur Vorlage an das Rechtshilfegericht (gemeint wohl: Rechtsmittelgericht) zurückgefordert. Von dieser Tatsache hatte der Disziplinarbeschuldigte Kenntnis. Er sprach bei der zuständigen Rechtshilferichterin des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien, Dr. M. Z., vor und ersuchte um Ausfolgung des Originaltestamentes. Dies im Wissen, daß die Ausfolgung bereits vom zuständigen Richter Dr. K. M. ihm gegenüber telefonisch abgelehnt worden ist.

Dr. M. Z. hat den zuständigen Richter des Bezirksgerichtes Reutte telefonisch kontaktiert, von diesem seine ablehnende Haltung erfahren und dem Disziplinarbeschuldigten mitgeteilt, daß sie in der Sache selbst nicht entscheiden könne und an Aufträge des Verlassenschaftsgerichtes gebunden sei.

Der Disziplinarbeschuldigte kontaktierte in der Folge nochmals den zuständigen Richter des Bezirksgerichtes Reutte, Dr. K. M., und versuchte ihn unter Darlegung seiner Argumente umzustimmen, doch verweigerte Dr. K. M. abermals die Ausfolgung des Originaltestamentes bzw. die Übersendung des Aktes an den vom Disziplinarbeschuldigten ins Auge gefaßten Privatgutachter.

Der Disziplinarbeschuldigte hat in der Folge am 21.11.1995 bei der zuständigen Rechtshilferichterin, Dr. M. Z., in Wien vorgesprochen, ihr zur Kenntnis gebracht, daß der Richter des Bezirksgerichtes Reutte die Ausfolgung des Testamentes im Original an ihn ablehne und versuchte von ihr zu erreichen, daß sie ihre Zustimmung erteile, daß das Originaltestament an den Disziplinarbeschuldigten ausgefolgt werde. Eine Zustimmung hat der Disziplinarbeschuldigte von ihr nicht erhalten. Er begab sich aber trotzdem in die Geschäftsabteilung des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien, entnahm dem Verlassenschaftsakt das Originaltestament, erlegte in den Verlassenschaftsakt eine Kopie und bestätigte die Entnahme des Originaltestaments im Verlassenschaftsakt.

Nachdem der zuständige Richter des Bezirksgerichtes Reutte von der Vorgangsweise des Disziplinarbeschuldigten Kenntnis erhalten hat, wurde mit Note vom 1.12.1995 der Disziplinarbeschuldigte zur Rückstellung des Testamentes an das Bezirksgericht Innere Stadt Wien aufgefordert. Diese Note wurde dem Disziplinarbeschuldigten am 4.12.1995 zugestellt und erfolgte am 4.12.1995 die Rückstellung des Testamentes."

Der Disziplinarrat stützte seine Feststellungen auf den Inhalt des Verlassenschaftsaktes und auf die Angaben des Beschwerdeführers.

1.2. In der gegen dieses Erkenntnis an die Oberste Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (in der Folge: OBDK) erhobenen Berufung bekämpfte der Beschwerdeführer im wesentlichen die Feststellungen des Disziplinarrates, insbesondere die Feststellung, wonach die Rechtshilferichterin und die Kanzleibedienstete ihm die Entnahme des Testamentes untersagt hätten. Er beantragte die Einvernahme der Rechtshilferichterin Dr. M. Z., der Kanzleibediensteten beim BG Innere Stadt Wien H. S. sowie seines damaligen Mandanten Dipl. Ing. Dr. B. M.

1.3. Die OBDK erkannte über die Berufung - nach Ergänzung des Beweisverfahrens im Rahmen einer öffentlichen mündlichen Berufungsverhandlung durch Einvernahme der Kanzleibediensteten H. S. und der Richterin Dr. M. Z. - mit Erkenntnis vom 13. September 1999.

Der Beschwerdeführer stellte im Rahmen der mündlichen Verhandlung erneut den Antrag auf "zeugenschaftliche Vernehmung des Dipl. Ing. Dr. B. M." zum Beweis dafür, daß der Beschwerdeführer den Zeugen "unmittelbar nach Empfangnahme des Testamentes telefonisch kontaktiert und ihm mitgeteilt hat, daß er das Testament mit Zustimmung der Kanzleikraft dem Akt entnommen und an dessen Stelle eine Kopie in den Akt gelegt hat".

Vor Verkündung des Erkenntnisses wies die OBDK diesen Beweisantrag mit der Begründung ab, daß "der als Zeuge beantragte Dipl. Ing. Dr. B. M. nach dem eigenen Vorbringen des Disziplinarbeschuldigten keine unmittelbaren Wahrnehmungen gemacht hat".

Die OBDK übernahm die wesentlichen Feststellungen des Disziplinarrates und führte in ihrer Begründung ergänzend aus:

"... Die ODBK hat sohin das Beweisverfahren durch Vernehmung des Disziplinarbeschuldigten sowie der Zeuginnen Dr. M. Z. und H. S. wiederholt bzw. ergänzt. Die Kommission stellt darnach fest, daß der Disziplinarbeschuldigte das Originaltestament ohne Zustimmung der Richterin Dr. M. Z. und ohne Zustimmung der Kanzleiangestellten H. S. dem Gerichtsakt entnommen hat.

Zu dieser Feststellung kam die Kommission aufgrund des persönlichen Eindruckes, welchen sie von den vernommenen Personen gewinnen konnte. Die Kommission ist überzeugt, daß die Zeugin H. S., wenn sie dem Disziplinarbeschuldigten die Entnahme des Originaltestamentes aus dem Gerichtsakt gestattet hätte, einen schriftlichen Vermerk über diesen Vorgang angefertigt und auch den Gerichtsakt nicht vor Wiedereinlangen des Originaltestamentes (Anm: an das BG Reutte) zurückgeschickt hätte. Daher ist die Kommission der Auffassung, daß das Testament vom Disziplinarbeschuldigten insofern heimlich entnommen wurde, als auch die Zustimmung der Kanzleiangestellten H. S. nicht gegeben war. Dem widerspricht keineswegs die Tatsache, daß der Disziplinarbeschuldigte einen Vermerk angefertigt hat, wonach er das Testament entnommen hat. Nach Auffassung der Kommission diente dies lediglich als Rückendeckung, um nicht dem Vorwurf ausgesetzt zu sein, er hätte das Testament gar unterdrücken wollen. Die vom Disziplinarbeschuldigten in seiner Berufung gewünschten ergänzenden Feststellungen konnten somit von der Kommission nicht getroffen werden. Vielmehr ergibt sich aus den ergänzenden Feststellungen, daß der Schuldspruch des Disziplinarrates inhaltlich völlig zu Recht erfolgt ist. ..."

2. Gegen dieses als Bescheid zu wertende Erkenntnis der OBDK richtet sich die auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde.

Der Beschwerdeführer erachtet sich durch den angefochtenen Bescheid in seinem Recht auf ein faires Verfahren (Art6 EMRK), auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B-VG), auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art7 B-VG) sowie auf Unversehrtheit des Eigentums (Art1 des 1. ZP zur EMRK sowie Art5 StGG) verletzt.

Zum Sachverhalt bringt der Beschwerdeführer einleitend folgendes vor:

"Der beim Rechtshilfegericht befindliche Verlassenschaftsakt sollte (...) zur Beschlußfassung an das Bezirksgericht Reutte retourniert werden. Der Beschwerdeführer hat mit dem zuständigen Richter nochmals Kontakt aufgenommen und um kurzfristige Aushändigung des Originaltestamentes an den graphologischen Sachverständigen gebeten. Dazu wurde vom zuständigen Richter keine Zustimmung erteilt.

Um den 19.11.1995 hat der Beschwerdeführer neuerliche Akteneinsicht genommen und bei der zuständigen Rechtshilferichterin Frau Dr. M. Z. vorgesprochen und ihr das Anliegen vorgetragen. Sie hat gemeint, daß ihr die Haltung des zuständigen Richters in Reutte nicht verständlich sei und wollte sie persönlich beim Verlassenschaftsgericht Reutte Rücksprache halten.

Am 21.11.1995 hat sich der Beschwerdeführer bei der zuständigen Rechtshilferichterin über das Ergebnis der Rückfrage persönlich erkundigt. Es wurde ihm die ablehnende Haltung des Richters in Reutte mitgeteilt. Die Rechtshilferichterin hat mitgeteilt, daß sie grundsätzlich an den Auftrag des erkennenden Gerichtes gebunden sei.

Um dennoch ein graphologisches Gutachten erstellen zu können, hat der Beschwerdeführer gegenüber der Kanzleibediensteten erklärt, er werde nunmehr das Original gegen eine Kopie austauschen, um das Original kurzfristig dem Sachverständigen zur Verfügung stellen zu können. Nach telefonischer Rücksprache mit der Rechtshilferichterin wurde dem Austausch zugestimmt. Der Beschwerdeführer hat die Entnahme im Akt bestätigt."

3. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch Abstand genommen.

II. 1. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1.1. Der Beschwerdeführer bringt gegen die dem angefochtenen Bescheid zugrundeliegenden Rechtsvorschriften keine verfassungsrechtlichen Bedenken vor. Beim Verfassungsgerichtshof sind solche aus Anlaß dieses Beschwerdefalls nicht entstanden.

1.2. Der Beschwerdeführer sieht sich durch den angefochtenen Bescheid in seinem Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt. Bei der Unbedenklichkeit der angewendeten Rechtslage käme eine Verletzung des Gleichheitssatzes nur in Frage, wenn der Behörde eine willkürliche Rechtsanwendung anzulasten wäre.

Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt ua. in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch in einem Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 8808/1980 und die dort angeführte Rechtsprechung; VfSlg. 10338/1985, 11213/1987).

Die Beschwerde bekämpft im einzelnen die Richtigkeit der Tatsachenfeststellungen der belangten Behörde. So sei die Beweiswürdigung aufgrund einer ex post Betrachtung erfolgt; die einvernommenen Zeuginnen hätten sich an den Vorgang nicht mehr erinnern können. Der Umstand, daß die Kanzleibedienstete des Rechtshilfegerichts - obwohl sie laut Aktenvermerk des erkennenden Richters von diesem dazu aufgefordert worden sei - keinen Bericht über die Vorkommnisse vom 21. November 1995 erstattet habe, zeige, daß der Beschwerdeführer das Dokument mit der Zustimmung der Rechtshilferichterin und der Kanzleibediensteten entnommen habe. Das Originaltestament sei aufgrund des Antrages des Beschwerdeführers vom 12. September 1995 an das Rechtshilfegericht zur Akteneinsicht übermittelt worden. Daraus ergebe sich, daß der erkennende Richter dem Beschwerdeführer zumindest stillschweigend die Möglichkeit eingeräumt habe, das Original dem graphologischen Sachverständigen zur Verfügung zu stellen.

Diesem Vorbringen ist insgesamt zu erwidern, daß es allenfalls Verstöße gegen einfachgesetzliche Regelungen aufzeigt, aber nicht geeignet ist, einen in die Verfassungssphäre reichenden Vollzugsfehler zu erweisen. Die belangte Behörde ist in einem - aus verfassungsrechtlicher Sicht - nicht zu beanstandenden Beweisverfahren zu dem Beweisergebnis gelangt, daß der erkennende Richter die Entnahme des Originaltestamentes bis zuletzt verweigert hatte (dieser Umstand wurde vom Beschwerdeführer auch nicht bestritten) und daß auch die Rechtshilferichterin und die Kanzleibedienstete ihre Zustimmung dazu nicht erteilt hatten.

Wenn der Beschwerdeführer behauptet, daß im Verfahren der Grundsatz des Parteiengehörs verletzt worden sei, weil sich die Behörde nicht mit einem bestimmten Vorbringen auseinandergesetzt habe, ist ihm zu erwidern, daß in einer solchen Unterlassung keine Verletzung des Parteiengehörs liegt. Der Verfassungsgerichtshof kann nicht finden, daß der belangten Behörde in der Beurteilung des Berufungsvorbringens des Beschwerdeführers ein in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen wäre.

1.3. Der Beschwerdeführer wurde eines Disziplinarvergehens für schuldig erkannt, weil er - wie er selbst vorbringt - als Rechtsvertreter des Dipl. Ing Dr. B. M. und des W. M. im Verfahren über die Verlassenschaft nach H. M. aus dem Gerichtsakt das Original eines Testamentes an sich genommen hat, welches dem Gericht von der gegnerischen Partei vorgelegt wurde.

Unter dem Titel des Gleichheitssatzes (Art7 B-VG) erblickt der Beschwerdeführer eine willkürliche Vorgangsweise der OBDK auch darin, daß er bestraft wurde, obwohl er als Rechtsanwalt nach §9 RAO - auch ohne richterliche Zustimmung - berechtigt gewesen sei, das Originaltestament kurzfristig aus dem Akt zu entnehmen. Es sei nämlich keine "Weisung" des Verlassenschaftsrichters vorgelegen, als Rechtsanwalt sei er überdies nicht an richterliche Weisungen gebunden, solange keine "richterliche Entscheidung" vorliege. Eine andere Rechtsauffassung unterstelle dem §9 RAO einen verfassungswidrigen Inhalt. Die ablehnende Haltung des Richters stelle nur dessen Privatmeinung dar. Darüber hinaus habe für seinen Mandanten Gefahr im Verzug bestanden, sodaß er im Interesse seines Mandanten handeln mußte, ohne die richterliche Entscheidung über seinen Antrag auf Übersendung des Aktes an den Privatsachverständigen abzuwarten, weil er befürchtet habe, daß das Testament ansonsten in Verstoß gerate. Beim Testament der H. M. handle es sich "um eine gemeinschaftliche Urkunde, die auch im Miteigentum der Mandanten des Beschwerdeführers" stehe.

Schließlich meint er:

"Auf die Ablehnung des zuständigen Richters Dr. K. M. kommt es letztlich auch nicht an.

Der zuständige Richter Dr. K. M. hat die Ausfolgung des Verlassenschaftsaktes an den gerichtlich beeideten Sachverständigen unter Hinweis auf §170 Abs3 Geo mit Beschluß vom 1.12.1995 abgelehnt, mir zugestellt am 18.12.1995.

Weshalb nach der Rechtslage in Österreich die Ausfolgung eines Aktes gemäß §170 Abs3 Geo nicht an einen Privatsachverständigen erfolgen kann, ist unverständlich. Der Sachverständigenbegriff des §170 Geo ist mit jenem in der ZPO nicht unbedingt identisch. Dazu liegt - soweit überschaubar - eine höchstgerichtliche Rechtsprechung nicht vor (siehe auch Schally, "Rechtspolitische" und andere Gründe - bei uns und anderswo. Zum §170 Abs3 Geo der Gerichte, AnwBl 11/1990, Seite 604f).

Dem Rekurs gegen diesen erstinstanzlichen Beschluß wurde vom LG Innsbruck nicht Folge gegeben. Unverständlicherweise wurde der außerordentliche Revisionsrekurs vom OGH mit Beschluß vom 17.7.1996, 7 Ob 2180/96f, mangels der Voraussetzungen des §14 Abs1 AußStrG zurückgewiesen. Da es sich dabei um eine erhebliche Rechtsfrage handelt, hätte darüber in der Sache selbst entschieden werden müssen.

Die belangte Behörde hat dadurch dem Gesetz mit ihrer Auslegung fälschlich einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt

..."

Nach §68 AußStrG sind die Originale der über letztwillige Anordnungen errichteten Urkunden vom Gericht streng zu verwahren. Auf Verlangen sind sie den Gerichtsbeamten und Parteien, denen daran gelegen ist, vorzuweisen. Nach §219 ZPO können die Parteien in "sämtliche(n) ihre Rechtssache betreffende(n), bei Gericht befindlichen Akten (...) Einsicht nehmen und sich davon auf ihre Kosten Abschriften und Auszüge erteilen lassen". Gemäß §219 Abs3 ZPO sind "die von einer Partei dem Gerichte übergebenen Schriftstücke dieser Partei auf ihr Begehren wieder auszufolgen, wenn der Zweck der Aufbewahrung entfallen ist".

§169 der Geschäftsordnung für die Gerichte I. und II. Instanz (in der Folge: Geo) bestimmt, daß "Urkunden, die für eine Entscheidung verwertet wurden oder für sie in Betracht kommen können, (...) bis zur Rechtskraft der Entscheidung beim Akt zurückzubehalten (sind). Vorher dürfen sie der Partei, die sie vorgelegt hat, nur aus triftigen Gründen mit Genehmigung des Richters, allenfalls gegen Einlegung einer beglaubigten Abschrift, ausgefolgt werden".

In §170 Abs3 Geo heißt es: "die Akten müssen unter Aufsicht eines Gerichtsbediensteten eingesehen werden (...) Es ist unzulässig den Parteien oder ihren Vertretern Akten mitzugeben. Doch kann Sachverständigen, die dem Gericht als verläßlich bekannt sind, ein Akt für bestimmte Zeit anvertraut werden. Akten, die in nächster Zeit voraussichtlich bei Gericht nicht benötigt werden, können auf Begehren einem anderen Gerichte übersendet werden, damit sie dort eingesehen werden können. Die Übersendung bewilligt den Personen, die Partei sind, der Richter, anderen Personen der Gerichtsvorsteher oder der von ihm bestimmte Richter. ..."

Im Lichte dieser Rechtslage, deren hier maßgeblicher Inhalt damit zusammenzufassen ist, daß den Parteien und deren Vertretern im zivilgerichtlichen Verfahren niemals Akten ausgehändigt werden, daß aber der Akt (ausnahmsweise) einem dem Gericht als verläßlich bekannten Sachverständigen anvertraut werden kann, erweist sich die vom Beschwerdeführer vorgetragene Rechtsansicht, wonach ein Rechtsanwalt auch ohne richterliche Zustimmung berechtigt sei, eine im Akt erliegende (vom Prozeßgegner vorgelegte) Originalurkunde an sich zu nehmen - sei es auch um sie in der Folge einem Sachverständigen zuzuleiten - als nicht geeignet, eine willkürliche Gesetzesanwendung der belangten Behörde darzutun. Die vom Beschwerdeführer in Form einer rechtspolitischen Kritik aufgeworfene Frage, "weshalb nach der Rechtslage in Österreich die Ausfolgung eines Aktes gemäß §170 Abs3 Geo nicht an einen Privatsachverständigen erfolgen kann", vermag auf die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des bekämpften Bescheides keinen Einfluß zu üben, weil Gegenstand des Disziplinarverfahrens nicht die Aktenübermittlung an einen Privatsachverständigen, sondern die Entnahme eines Originaltestaments durch einen Rechtsanwalt war.

1.4. Dem Vorbringen, wonach der Beschwerdeführer keine Möglichkeit gehabt habe, sich zu jenem Aktenvermerk des erkennenden Richters zu äußern, der Anlaß zur Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen ihn gab, ist das Protokoll der Verhandlung vor dem Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer Wien (vom 1. Juli 1998) entgegenzuhalten, aus dem die Verlesung dieses Aktenvermerks und eine Stellungnahme des Beschwerdeführers zum Inhalt dieses Aktenvermerks hervorgeht.

Die Berufungsschrift gegen das Erkenntnis des Disziplinarrates enthält darüber hinaus wörtliche Zitate aus dem erwähnten Aktenvermerk und nimmt dazu Stellung. Vor diesem Hintergrund kann von einer Verweigerung des rechtlichen Gehörs oder von einem willkürlichen Vorgehen der Disziplinarbehörde keine Rede sein.

1.5. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt oder in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt (zB VfSlg. 9696/1983), etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert.

In seinen Ausführungen zu Art83 Abs2 B-VG macht der Beschwerdeführer zusammengefaßt lediglich geltend, die belangte Behörde habe "eine inhaltlich rechtswidrige Entscheidung getroffen und damit eine Sachentscheidung verweigert".

Art83 Abs2 B-VG gewährleistet jedoch nicht die Gesetzmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes; vielmehr wird die Zuständigkeit der Behörde durch eine unrichtige behördliche Entscheidung allein nicht berührt (VfSlg. 10379/1985).

1.6. Der Beschwerdeführer behauptet weiters eine Verletzung in seinen gemäß Art6 EMRK gewährleisteten Rechten. Das Verfahren sei aufgrund der Anzeige eines Senatsmitglieds des OGH vom 19. Juli 1996 eingeleitet worden, welche sich auf einen mit 1. Dezember 1995 datierten Aktenvermerk des Verlassenschaftsgerichts beziehe. Er sei in seinem Recht auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist verletzt, weil das Verfahren bis zur Entscheidung der OBDK (am 13. September 1999) somit über drei Jahre gedauert habe, was dazu geführt habe, daß sich die im Berufungsverfahren einvernommenen Zeuginnen nicht mehr an das wesentliche Geschehen erinnern konnten. Zum anderen habe es die belangte Behörde unterlassen, seinem Antrag auf Ladung und Einvernahme seines Mandanten Dipl. Ing. Dr. B. M. nachzukommen, wodurch er in seinem Recht gemäß Art6 Abs3 litd EMRK verletzt worden sei.

Der Verfassungsgerichtshof bleibt bei seiner Auffassung, daß das Verfahren vor den Disziplinarbehörden der Rechtsanwälte die Entscheidung über eine "strafrechtliche Anklage" im Sinne des Art6 EMRK zum Gegenstand hat (vgl. VfSlg. 11512/1987, 15495/1999, VfGH 21.6.2000, B412/98). Das Beschwerdevorbringen ist daher im Lichte der besonderen Garantien des Art6 Abs1 ("innerhalb einer angemessenen Frist") und Abs3 litd EMRK zu beurteilen.

a) Nach Art6 Abs1 EMRK besteht ein Anspruch auf Erledigung eines Strafverfahrens binnen "angemessener Frist". Der Beginn der Frist errechnet sich unter Berücksichtigung der Umstände des vorliegenden Falles jedoch nicht - wie der Beschwerdeführer offenbar vermeint - mit dem Datum des Aktenvermerks des erkennenden Richters im Verlassenschaftsverfahren (1. Dezember 1995) und auch nicht mit dem Datum der Anzeige des OGH an den Diziplinarrat der Rechtsanwaltskammer Wien (19. Juli 1996), sondern frühestens mit jenem Zeitpunkt, an dem der Beschwerdeführer- im Wege der Aufforderung zur Äußerung an den bestellten Untersuchungskommissär - Kenntnis von der (aufgrund der Anzeige) gegen ihn eingeleiteten Untersuchung erlangt hat (vgl. Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl., Rz. 138 zu Art6 EMRK und die dort zitierte Judikatur des EGMR, sowie EGMR vom 22.6.2000, Fall Coëme ua. gegen Belgien, Z32492/96, Rn. 133). Diese Aufforderung wurde ihm laut Akteninhalt am 14. August 1996 zugestellt.

Der Verfassungsgerichtshof erblickt jedoch - angesichts der Umstände des Falles - in der Dauer des Verfahrens keine Verletzung im Recht auf ein Verfahren innerhalb angemessener Frist im Sinne des Art6 Abs1 EMRK, zumal das Berufungserkenntnis der OBDK am 13. September 1999 verkündet wurde, somit nach einer Verfahrensdauer von knapp 3 Jahren.

b) Nach Art6 Abs3 litd EMRK hat jeder Angeklagte das Recht, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken. Die Bestimmung dient der Sicherstellung der Waffengleichheit im Strafverfahren, sie räumt einem Angeklagten jedoch kein grenzenloses Recht ein, Entlastungszeugen zu benennen und zu befragen (vgl. EGMR Urteil Engel ua. vom 30.4.1976, Serie A 22, Rn. 91). Die Aufnahme des angebotenen Beweises wurde mit der Begründung abgelehnt, daß der Zeuge Dipl. Ing. Dr. B. M. nach den eigenen Angaben des Disziplinarbeschuldigten keine unmittelbaren Wahrnehmungen zum Ablauf des dem Beschuldigten vorgeworfenen Verhaltens machen konnte. Der belangten Behörde, die damit ihr Ermessen zur Beurteilung der Entscheidungsrelevanz der Beweisaufnahme geübt hat, ist insofern aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht entgegenzutreten (vgl. EGMR 6.9.1995, Fall Stadler, Z23194/94, EGMR 27.11.1996, Fall Lods, Z31199/96).

Der Beschwerdeführer ist somit in seinen Rechten nach Art6 EMRK nicht verletzt.

1.7. Auch die vorgebrachte Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unversehrtheit des Eigentums liegt nicht vor.

Bei der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der Rechtsgrundlagen (siehe dazu oben Pkt. II.1.1.) des angefochtenen Bescheides würde dieser das Recht auf Unversehrtheit des Eigentums nur verletzen, wenn die Behörde das Gesetz in denkunmöglicher Weise angewendet hätte, ein Fall, der nur dann vorläge, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hätte, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre (zB VfSlg. 10370/1985, 11470/1987). Dies ist - wie oben ausgeführt wurde - nicht der Fall.

2. Ob aber der angefochtene Bescheid in jeder Hinsicht dem Gesetz entspricht, ist vom Verfassungsgerichtshof nicht zu prüfen, und zwar auch dann nicht, wenn sich die Beschwerde - wie im vorliegenden Fall - gegen die Entscheidung einer Kollegialbehörde nach Art133 Z4 B-VG richtet, die beim Verwaltungsgerichtshof nicht bekämpft werden kann (vgl. VfSlg. 8309/1978, 13762/1994, VfGH 13.6.2000, B1579/98)

3. Der Beschwerdeführer wurde somit weder in einem der in der Beschwerde vorgetragenen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte, noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt. Das Beschwerdeverfahren hat auch nicht ergeben, daß dies aus anderen, in der Beschwerde nicht dargelegten Gründen der Fall gewesen wäre.

Die Beschwerde ist daher abzuweisen.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Rechtsanwälte Disziplinarrecht, Parteiengehör, Zivilprozeß

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2001:B113.2000

Dokumentnummer

JFT_09989075_00B00113_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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