TE OGH 1991/11/12 10ObS302/91

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Veröffentlicht am 12.11.1991
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Herbert Vesely (Arbeitgeber) und Reinhard Horner (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Emmerich M*****, Pensionist, ***** vertreten durch Dr.Gerd Hartung, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr.Vera Kremslehner, Dr.Josef Milchram und Dr.Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 24.Juni 1991, GZ 34 Rs 51/91-42, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 10.September 1990, GZ 21 Cgs 145/88-35, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 29.12.1928 geborene Kläger war als Figurenretoucheur bei einer Porzellanmanufaktur beschäftigt. Am 17.12.1987 stürzte er auf dem Weg zur Arbeitsstätte und erlitt dabei einen knöchernen Abriß der Ellenhackenspitze links. Er befand sich zunächst bis zum 17.1.1988 und dann vom 17.2. bis 4.4.1988 im Krankenstand. Als Folge einer in frühester Kindheit erlittenen Meningitis besteht beim Kläger beidseitige Taubheit. Seit 1.1.1989 bezieht der Kläger nach Vollendung des 60.Lebensjahres die Alterspension.

Mit Bescheid vom 6.10.1988 lehnte die beklagte Allgemeine Unfallversicherungsanstalt die Gewährung einer Rente aus Anlaß des Arbeitsunfalles vom 17.12.1987 ab, weil eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in rentenbegründendem Ausmaß nicht vorliege.

Das Erstgericht wies das dagegen erhobene Klagebegehren auf Gewährung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß ab Antragstellung ab. Es stellte fest, daß unter Berücksichtigung sowohl der chirurgischen als auch der neurologischen Einschränkungen zusammenfassend eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von insgesamt 10 vH seit dem 5.4.1988 vorliege. Eine Beeinflussung des Vorschadens (beidseitige Taubheit) oder eine Potenzierung durch die Folgen des Arbeitsunfalles sei nicht eingetreten. Die Vorschädigung würde theoretisch eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 70 vH bedingen.

In rechtlicher Hinsicht verneinte das Erstgericht einen Rentenanspruch, weil eine rentenbegründende Minderung der Erwerbsfähigkeit von zumindest 20 vH ab dem 5.4.1988 nicht vorliege. Daran ändere nichts, daß der Kläger unfallunabhängig durch eine beidseitige Taubheit vorgeschädigt sei, weil die Unfallfolgen in keiner Weise diese Vorschädigung funktionell berührten oder gar potenzierten.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es verneinte das Vorliegen der gerügten Verfahrensmängel und übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen als Ergebnis unbedenklicher Beweiswürdigung. Der Kläger habe sich bis 4.4.1988 unfallbedingt im Krankenstand befunden und auch Krankengeld bezogen. Gemäß § 204 ASVG falle die Versehrtenrente grundsätzlich mit dem Tag nach Wegfall des Krankengeldes an. Somit sei der Anfallstag der 5.4.1988, zu welchem jedoch keine Minderung der Erwerbsfähigkeit im rentenbegründenden Ausmaß mehr bestehe. Die Vorschädigung der Taubstummheit wäre nur dann rechtlich von Bedeutung, wenn zwischen ihr und dem durch den Arbeitsunfall verursachten Körperschaden eine funktionelle Wechselwirkung bestehe, was jedoch nicht der Fall sei. Einer von der Lehre vertretenen Ansicht, wonach bei einer Vorschädigung von der individuellen restlichen Erwerbsfähigkeit auszugehen sei, könne nicht gefolgt werden.

Gegen dieses Urteil richtet sich die auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache gestützte Revision des Klägers mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen im Sinne einer Klagsstattgebung abzuändern oder aufzuheben.

Die beklagte Partei beantragte, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Auszugehen ist davon, daß die vollständige Taubheit (oder auch Taubstummheit) des Klägers auf eine frühkindliche Erkrankung zurückgeht und daß weiters die Gesundheitsstörungen am linken Arm Folge des Arbeitsunfalles vom 17.2.1987 sind. Strittig ist im vorliegenden Fall das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit, insbesondere mit Rücksicht auf die genannte Vorschädigung.

Wie der erkennende Senat in seiner Entscheidung SSV-NF 2/104 dargelegt hat, ist eine weder durch einen Arbeitsunfall noch durch eine Berufskrankheit bedingte Vorschädigung nur dann rechtlich von Bedeutung, wenn zwischen ihr und dem durch den Arbeitsunfall (oder die Berufskrankheit) verursachten Körperschaden eine funktionelle Wechselwirkung besteht. Dies gilt etwa für alle paarigen Gliedmaßen und Organe, für Organsysteme, die zueinander in funktioneller Abhängigkeit stehen oder sonst Funktionsausfälle an anderer Stelle zu ergänzen oder zu kompensieren vermögen (vgl dazu Brackmann, Handbuch der SV 72. Nachtrag 480g I). Auch bei Vorschäden an denselben Gliedmaßen oder demselben Organ können sich die Funktionsstörungen aus Vorschäden und Unfallschäden überschneiden. Eine Vorschädigung kann aber dann keine Berücksichtigung finden, wenn sie keine wesentliche Bedeutung für die Unfallfolgen und deren Einfluß auf die Erwerbsfähigkeit hatte.

Zwischen der Vorschädigung des Klägers (ob Taubheit oder Taubstummheit ist rechtlich ohne Belang) und der unfallbedingten geringfügigen Schädigung des linken Armes besteht keine funktionelle Wechselbeziehung oder Abhängigkeit, die eine stärkere Beeinträchtigung des unfallbedingten Leidens mit sich bringen würde. Ein Abgehen von der Voraussetzung, daß zwischen Vorschädigung und Unfallschaden ein besonders qualifizierter Zusammenhang und wesentlich verstärkte Unfallfolgen vorliegen müssen, um bei der Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit Berücksichtigung zu finden, würde bedeuten, daß jede bestehende (schicksalhafte) Vorminderung der Erwerbsfähigkeit wegen körperlicher oder geistiger Leiden durch die Versicherungsträger abzugelten wäre, wenn ein Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit hinzutreten (SSV-NF 2/104; ebenso bereits Oberlandesgericht Wien SSV 24/5). Im Falle des Klägers würde selbst ein ganz geringfügiger Arbeitsunfall ausreichen, ihm mit Rücksicht auf die Vorschädigungen einen Anspruch auf Versehrtenrente zu gewähren. Eine solche weitgehende Auslegung lassen die gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere jene des § 203 ASVG nicht zu. Die Revisionsausführungen bieten keinen Anlaß, von der bisherigen Rechtsprechung abzugehen.

Die Vorinstanzen haben unter zutreffender Ausklammerung der Erwerbsminderung durch die Vorschädigung auf Grund von ärztlichen Sachverständigengutachten eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von nur 10 vH angenommen. Folgt das Gericht einem medizinischen Sachverständigengutachten und legt es dessen Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit seinen Feststellungen zugrunde, so stellt dies einen Akt der irrevisiblen Beweiswürdigung dar (SSV-NF 3/19 ua). Diese sogenannte medizinsiche Minderung der Erwerbsfähigkeit bildet im allgemeinen auch die Grundlage für deren rechtliche Einschätzung, wenn - wie im vorliegenden Fall - ein Abweichen hievon unter besonderen Umständen nicht geboten ist (SSV-NF 1/64 = SZ 60/262 = JBl 1988, 259; SSV-NF 3/128 uva). Entgegen der Ansicht des Revisionswerbers ist damit auf die eingeschränkten Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt ausreichend Bedacht genommen. Besondere Umstände, die ein Abweichen von der medizinischen Einschätzung gebieten würden, liegen auch schon deshalb nicht vor, weil der Kläger offenkundig seinen bisherigen Beruf weiterhin ausüben könnte, würde er nicht seit 1.1.1989 die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer beziehen.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch an den unterlegenen Kläger nach Billigkeit wurden nicht geltend gemacht und sind nach der Aktenlage auch nicht ersichtlich.

Anmerkung

E27833

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1991:010OBS00302.91.1112.000

Dokumentnummer

JJT_19911112_OGH0002_010OBS00302_9100000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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