TE OGH 1992/6/16 10ObS130/92 (10ObS131/92, 10ObS132/92)

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Veröffentlicht am 16.06.1992
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Robert Letz (Arbeitgeber) und Alfred Klair (Arbeitnehmer) in den verbundenen Sozialrechtssachen der klagenden Parteien 1. Regina S*****, Hausfrau, 2. mj. Susanne S*****, geb. am ***** und 3. mj. Stefanie S*****, geb. am *****, alle wohnhaft in *****, vertreten durch Dr. Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei ALLGEMEINE UNFALLVERSICHERUNGSANSTALT, 1200 Wien, Adalbert

Stifter-Straße 65-67, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Witwenrente, Bestattungskostenbeitrag und Waisenrenten, infolge Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 10. März 1992, GZ 13 Rs 138-140/91-13, womit infolge Berufung der klagenden Parteien das Urteil des Kreisgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 27. August 1991, GZ 25 Cgs 41/91-9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Kläger haben die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Erstklägerin ist die Witwe, die Zweit- und die Drittklägerin sind die mj. Kinder des am 5. November 1990 bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückten Versicherten Helmut S*****. Mit den Bescheiden vom 13. Februar 1991 lehnte die beklagte Allgemeine Unfallversicherungsanstalt die Ansprüche der Klägerinnen auf Bestattungskostenteilersatz, Witwenrente und Waisenrenten mit der Begründung ab, daß der zum Tod des Versicherten führende Unfall kein unter Versicherungsschutz stehender Arbeitsunfall gewesen sei.

In ihren dagegen erhobenen Klagen brachten die Klägerinnen vor, daß der Versicherte einem Arbeitsunfall zum Opfer gefallen sei. Er sei bei einem Unternehmen in M***** als Vertreter beschäftigt gewesen, habe am Unfallstag gegen 7 Uhr früh den Betrieb aufgesucht, dort etwas im Büro erledigt und sei ca. 10 Minuten später wieder weggefahren, um Kunden zu besuchen. Gegen 7.55 Uhr sei er dann auf der Westautobahn tödlich verunglückt. Da er in seinem Einsatzgebiet unterwegs gewesen sei, liege ein Arbeitsunfall vor.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Der Versicherte hätte in Wahrheit die Absicht gehabt, seinen bei einem früheren Unfall beschädigten Personenkraftwagen in eine Reparaturwerkstätte nach Linz zu bringen. Da das Fahrzeug zum Unfallszeitpunkt betriebs- und fahrbereit gewesen sei, handle es sich bei der Überführung des Fahrzeuges in die Werkstätte um eine nicht unter Versicherungsschutz stehende eigenwirtschaftliche Tätigkeit.

Das Erstgericht wies die Klagebegehren ab. Es stellte folgenden Sachverhalt fest:

Helmut S***** war seit 5. Juni 1990 bei der Firma S***** KG in M***** als Außendienstmitarbeiter beschäftigt. Seine hauptsächliche Aufgabe war es, Kunden zu werben, zu einzelnen Kunden und Baustellen zu fahren, Baupläne zu holen und an Hand dieser Pläne im Büro Angebote zu errechnen. Die weitaus überwiegende Zeit seiner Tätigkeit war er im Außendienst, praktisch jeden Tag. Hauptsächlich hatte er Baustellenadressen nördlich der Bundesstraße 1 zu betreuen, wobei es jedoch nicht auf die Wohnadressen der jeweiligen Bauherren ankam, so daß er auch Bauherren mit Wohnadressen südlich der Bundesstraße 1 aufsuchen konnte. Am 4. November 1990 sagte er zu seiner Ehegattin (der Erstklägerin), es könnte sein, daß er am folgenden Tag sein Auto in die Werkstätte bringen werde. Er benützte für seine Dienstfahrten immer seinen privaten Personenkraftwagen, wofür ihm Kilometergeld und Diäten zustanden. Bereits vor einiger Zeit war sein PKW bei einem Unfall beschädigt worden. Die Unfallschäden wurden bei einem Linzer Unternehmen repariert, ohne daß die Lackierarbeiten abgeschlossen wurden. Er entschloß sich daher, das Fahrzeug nach seinem Urlaub zu dieser Firma zu bringen; darauf bezog sich seine Ankündigung gegenüber der Erstklägerin, daß er möglicherweise den PKW in die Werkstatt bringen werde. Am 5. November 1990 erschien er gegen 7 Uhr früh im Büro der Fa. S***** KG in M***** und gab einer Angestellten einige Anweisungen für Auslieferungen. Dabei sagte er zu ihr, er wolle "wegen der Zehe ins Krankenhaus fahren". Es wurde nicht darüber gesprochen, ob er in ein Krankenhaus in Wels oder in Linz fahren wolle und auch nichts darüber, wohin er sonst an diesem Tag noch fahren wollte. Von einer geplanten Autoreparatur war in der Firma nichts bekannt. Die Angestellte schloß, daß er gleich ins Krankenhaus fahren wollte. In der Firma existieren keine Aufzeichnungen darüber, wo er am Unfallstag tatsächlich hinfahren wollte. Er konnte sich seine Arbeitszeit im wesentlichen frei einteilen. Gegen 7.55 Uhr ereignete sich auf der Westautobahn im Bereich des Puckinger Berges auf der Wiener Richtungsfahrbahn ein Verkehrsunfall, bei dem der Versicherte tödlich verletzt wurde. Es kann nicht festgestellt werden, wohin er zum Zeitpunkt des Unfalls fahren wollte und welchem Zweck diese Fahrt diente.

Diesen Sachverhalt beurteilte das Erstgericht rechtlich dahin, daß ein unter Versicherungsschutz stehender Arbeitsunfall nur dann vorliege, wenn sich der Unfall im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung ereignet habe. Diese Voraussetzungen seien hier nicht gegeben, da nicht feststellbar sei, wohin der Versicherte zum Zeitpunkt des Unfalls habe fahren wollen und welchem Zweck diese Fahrt gedient habe. Die Beweislast für das Vorliegen der einen Arbeitsunfall begründenden Umstände treffe in Sozialrechtssachen den Kläger. Den Klägerinnen sei dieser Beweis nicht gelungen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerinnen nicht Folge.

Es hielt die Beweisrüge nicht für geeignet, Bedenken an der Richtigkeit der vom Erstgericht getroffenen negativen Feststellung zu erwirken. Das Beweisverfahren habe keine zuverlässigen Anhaltspunkte dafür ergeben, wohin der Versicherte zum Unfallszeitpunkt fahren wollte und welchem Zweck diese Fahrt diente. Im Betrieb habe er angegeben, er werde in ein Krankenhaus fahren; seiner Frau habe er mitgeteilt, es könne sein, daß er das Auto in die Werkstatt bringen werde. Daß er sich auf dem Weg ins Spital befunden habe, sei nicht festgestellt worden. Die vom Erstgericht zur Begründung herangezogene Entscheidung des Obersten Gerichtshofes SSV-NF 4/50 sei in allen wesentlichen Sachverhaltselementen mit dem hier zu entscheidenden Fall vergleichbar. Ob der Verunfallte ein selbständig Erwerbstätiger oder ein angestellter Gebietsvertreter sei, sei ohne rechtliche Relevanz. Der Anscheinsbeweis sei überall dort ausgeschlossen, wo der Ablauf des Geschehens durch den individuellen Willensentschluß eines Menschen bestimmt werden könne. Eine Verschiebung der Beweislast komme nur dann in Frage, wenn ein für jedermann in gleicher Weise bestehender Beweisnotstand gegeben sei und wenn objektiv typische, also auf allgemein gültigen Erfahrungssätzen beruhende Geschehensabläufe für den Anspruchswerber sprechen. Im vorliegenden Fall habe es allein vom Willen des Versicherten abgehängt, aus welchem Grund und nach welcher Tätigkeit er den zum Unfall führenden Weg zurückgelegt habe, wobei er nach den Feststellungen konkret die Möglichkeit gehabt habe, auch während seiner Arbeitszeit privaten Interessen dienende Wege zu unternehmen. Es liege auch kein allgemein, also für jedermann in gleicher Weise bestehender Beweisnotstand vor, weil sich der Zweck eines Weges, den ein tödlich Verunglückter vor dem Unfall zurücklege, sehr oft eindeutig klären lasse. Eine Verschiebung der Beweislast zugunsten der Klägerinnen im Sinne eines Anscheinsbeweises komme deshalb nicht in Betracht. Den Klägerinnen sei der Beweis, daß sich der Unfall im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung oder auf einem damit zusammenhängenden Weg (Arztweg) ereignet habe, nicht gelungen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Klägerinnen ist nicht berechtigt.

Die Klägerinnen führen in ihrer Rechtsrüge aus, der Versicherte habe am Unfallstag seine Arbeit bereits angetreten gehabt, so daß keinerlei Anlaß vorgelegen haben könnte anzunehmen, die bevorstehende Fahrt werde einem privaten Zweck dienen. Im übrigen habe er im Betrieb angegeben, er werde wegen seiner Zehe in ein Krankenhaus fahren. Allem Anschein nach müsse davon ausgegangen werden, daß der Versicherte eine Fahrt angetreten habe, die als dienstlich anzusehen sei. Er habe auch stets im nachhinein seinen Arbeitgeber darüber aufgeklärt, welche einzelnen Fahrten durchgeführt worden seien. Wenn jemand durch die tödliche Verletzung daran gehindert werde, eben nachher diese Ausführungen zu machen, sei sicherlich von einem Beweisnotstand zu sprechen, der für jedermann in gleicher Weise bei einer solchen Situation vorliege. Es sei daher vom Vorliegen eines Arbeitsunfalles auszugehen.

Diesen Ausführungen ist nicht zu folgen. Wie der Oberste Gerichtshof bereits in der von den Vorinstanzen zitierten vergleichbaren Entscheidung SSV-NF 4/50 ausgeführt hat, kann dem Klagebegehren nach den allgemeinen Regeln über die Beweislast, die - von hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen abgesehen - auch in Sozialrechtssachen anzuwenden sind, nur stattgegeben werden, wenn die anspruchsbegründenden Tatsachen festgestellt sind. Dazu gehören hier aber alle jene Umstände, aus denen abgeleitet werden kann, daß sich der Unfall des Versicherten gemäß § 175 Abs. 1 ASVG im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung oder daß er sich gemäß den nachfolgenden Abs. 2 Z 1 auf einem mit dieser Beschäftigung zusammenhängenden Weg zwischen den dort näher angeführten Orten ereignete. Es genügt also nicht, daß solche Umstände wahrscheinlich sind, sondern es hätte festgestellt werden müssen, daß sie gegeben waren. Die Aussage des Erstgerichtes, daß diese Feststellung nicht möglich sei, fallen in den Tatsachenbereich (JBl. 1981, 206; ZVR 1982/16; SSV-NF 4/50; SSV-NF 5/112), weshalb der Oberste Gerichtshof, der nicht Tatsacheninstanz ist, hievon auszugehen hat. Dies führt aber dazu, daß der Revision nicht Folge zu geben ist, weil die für die Annahme eines Arbeitsunfalls gemäß § 175 ASVG erforderlichen Tatsachen nicht festgestellt wurden.

Den in der genannten Entscheidung SSV-NF 4/50 enthaltenen Ausführungen des erkennenden Senates zum Anscheinsbeweis hat allerdings Kuderna (Behauptungs- und Beweislast im Verfahren in Sozialrechtssachen, Festschrift Walter Schwarz 595 ff, 613 bei FN 59) entgegengehalten, es sei eine typische Folge eines aus einem tödlich verlaufenen Unfall abgeleiteten sozialrechtlichen Anspruchs, daß Hinterbliebene (wie die Klägerinnen) in derartigen Fällen in Beweisnotstand geraten, weil die einzige Person, die hierüber Angaben machen könnte, tot ist. Es entspreche im übrigen einem allgemeinen Erfahrungssatz, daß bei Feststellung eines üblichen Tagesablaufs dessen Einzelheiten auf den fraglichen gleichartigen Zeitraum, der für den Anspruch maßgeblich sei, übertragen werden könnten, falls nicht konkrete Anhaltspunkte für einen abweichenden Verlauf feststünden. Die Feststellung der Wahrscheinlichkeit sei daher in jedem Fall ausreichend. Diese Einwände schlagen aber im vorliegenden Fall nicht durch.

Wie der erkennende Senat in seiner Entscheidung SSV-NF 5/140 ausgesprochen hat, besteht die Modifizierung bei der Anwendung des Anscheinsbeweises in Sozialrechtssachen gegenüber jenem Teil des Schrifttums und der Rechtsprechung, der schon jede ernstlich in Betracht zu ziehende Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufes als zur Entkräftung des Anscheinsbeweises ausreichend ansieht, darin, daß im Sinn der gebotenen sozialen Rechtsanwendung der Anscheinsbeweis nur dann entkräftet ist, wenn dieser Möglichkeit zumindest die gleiche Wahrscheinlichkeit zukommt. Die Modifizierung besteht gegenüber den vom Verhandlungsgrundsatz beherrschten Verfahren außerdem darin, daß zufolge § 87 Abs. 1 ASGG die Beweisführungslast für die zu beweisenden Tatsachen nicht eine einzelne Partei trifft, sondern daß das Gericht die Beweise von Amts wegen aufzunehmen hat. Die genannte Entscheidung betraf zwar die Frage der Ursache eines Arbeitsunfalles für die Körperschädigung, doch können die dort dargelegten Grundsätze auch hier angewendet werden. Dies führt freilich zu keinem anderen Ergebnis. Selbst wenn man nämlich davon ausginge, daß die Voraussetzungen für das Vorliegen eines Arbeitsunfalles wahrscheinlich wären, so müßte mit gleicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, daß die Fahrt des Klägers eigenwirtschaftlichen Belangen diente. Daß dies wahrscheinlich ist, ergibt sich einerseits aus den Äußerungen des Versicherten gegenüber seiner Ehefrau, daß er das Auto in die Werkstatt bringen werde, andererseits aus der im Betrieb hinterlassenen Ankündigung, er werde "wegen der Zehe in ein Krankhaus fahren". Hingegen wurden keine Umstände festgestellt, die dafür sprechen könnten, daß der Versicherte einen in Fahrtrichtung gelegenen Kunden aufsuchen werde. Daß die Fahrt zur Behebung eines vor längerer Zeit aufgetretenen Lackschadens am privaten Fahrzeug nicht unter Versicherungsschutz steht, bedarf keiner näheren Erörterung und ist im vorliegenden Fall auch nicht strittig. Den Klagen würde es allerdings auch nicht zum Erfolg verhelfen, wenn festgestellt worden wäre, daß sich der Versicherte auf dem Weg in ein Krankenhaus befunden habe. Nach § 175 Abs. 2 Z 2 ASVG in der am Unfallstag geltenden Fassung war Voraussetzung, daß sich der Unfall auf einem Weg von der Arbeitsstätte zu einer vor dem Verlassen dieser Stätte dort bekanntgegebenen ärztlichen Untersuchungsstelle (freiberuflich tätiger Arzt, Ambulatorium, Krankenanstalt) ereignet hat. In der nunmehr geltenden (noch deutlicheren) Fassung dieser Gesetzesstelle wird verlangt, daß dem Dienstgeber die Stätte der Untersuchung bzw. Behandlung bekanntgegeben wurde. Die vor dem Verlassen der Arbeitsstätte verlangte Verständigung über den genauen Ort der Untersuchung oder Behandlung hat in erster Linie den Zweck, den Versicherungsträger durch eine auf diese Weise genau im vorhinein festgelegte Wegstrecke vor mißbräuchlicher Inanspruchnahme zu schützen (SSV-NF 5/139). Nach den Feststellungen hat der Versicherte aber nicht einmal gesagt, ob er in ein Krankenhaus in Wels oder in Linz fahren wollte. Ein Wegeunfall nach § 175 Abs. 2 Z 2 ASVG scheidet daher aus diesem Grunde aus.

Zusammenfassend ergibt sich, daß der vorliegende Fall mit dem der Entscheidung SSV 4/50 durchaus vergleichbar ist, weil es dem Versicherten ähnlich wie einem selbständigen Gewerbetreibenden möglich war, auch während seiner Arbeitszeit privaten Interessen dienende Wege zu unternehmen, was damit zusammenhing, daß er im Außendienst arbeitete und sich seine Arbeitszeit im wesentlichen frei einteilen konnte.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs. 1 Z 1 lit. b ASGG.

Anmerkung

E29448

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1992:010OBS00130.92.0616.000

Dokumentnummer

JJT_19920616_OGH0002_010OBS00130_9200000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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