TE Vwgh Erkenntnis 2007/4/17 2006/19/0915

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Veröffentlicht am 17.04.2007
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Index

19/05 Menschenrechte;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 1997 §1 Z6 idF 2003/I/101;
AsylG 1997 §10 Abs5;
AsylG 1997 §5;
MRK Art8;

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):2006/19/0916 2006/19/0918 2006/19/0917

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höß sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Dr. Pollak und die Hofräte Dr. N. Bachler und MMag. Maislinger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerden 1.) der K S, 2.) des A S, 3.) des B S und 4.) der A S, vertreten durch Mag. Dr. Martin Enthofer, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Promenade 16/II, gegen die Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates jeweils vom 11. Jänner 2006, Zlen. 266.329/0- XI/34/05 (ad 1.), 266.332/0-XI/34/05 (ad 2.), 266.333/0-XI/34/05 (ad 3.) und 236.330/0-XI/34/05 (ad 4.), betreffend §§ 5, 5a Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den Beschwerdeführern Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 991,20, insgesamt somit EUR 3.964,80, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführer sind Mitglieder einer Familie (die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der minderjährigen Zweitbis Viertbeschwerdeführer), und Staatsangehörige der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit. Sie reisten gemeinsam mit der schon volljährigen Tochter der Erstbeschwerdeführerin bzw. Schwester der Zweit- bis Viertbeschwerdeführer S. S. im Juli 2005 in das Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein und stellten am 26. Juli 2005 in Polen jeweils Asylanträge. Ohne die Entscheidung über diese Anträge abzuwarten, reisten sie am 30. September 2005 in das Bundesgebiet ein und brachten noch am selben Tag (weitere) Asylanträge ein, die das Bundesasylamt - nach Konsultationen mit den zuständigen polnischen Behörden - mit Bescheiden jeweils vom 21. November 2005 gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 1997 (AsylG) als unzulässig zurückwies. Gleichzeitig stellte es fest, für die Prüfung der Anträge sei gemäß Art. 13 iVm Art. 16 Abs. 1 lit c der "Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates" (im Folgenden: Dublin-Verordnung) Polen zuständig, und wies die Beschwerdeführer gemäß § 5a Abs. 1 iVm § 5a Abs. 4 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen aus.

Die dagegen erhobenen Berufungen wies die belangte Behörde mit den angefochtenen Bescheiden "gemäß §§ 5 Abs. 1 und 5a Abs. 1 AsylG" ab (eine im Ergebnis gleichlautende Entscheidung der belangten Behörde erging auch im Verfahren der oben erwähnten volljährigen Tochter der Erstbeschwerdeführerin bzw. Schwester der Zweit- bis Viertbeschwerdeführer S. S.).

Dagegen richten sich die vorliegenden, wegen ihres sachlichen und persönlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Beschwerden, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Mit Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2006/19/0919, wurde der die (volljährige) Tochter der Erstbeschwerdeführerin bzw. Schwester der Zweit- bis Viertbeschwerdeführer S. S. betreffende Bescheid der belangten Behörde wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben. Tragend für diese Entscheidung war, dass eine mögliche Traumatisierung der dortigen Beschwerdeführerin (im Sinne des § 24b Abs. 1 AsylG) in Verkennung der Rechtslage mangelhaft abgeklärt worden war. Zur näheren Begründung wird gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf das zitierte Erkenntnis verwiesen.

Auf Grund ihrer Volljährigkeit zählt S. S. nicht zu den "Familienangehörigen" im Sinne des § 1 Z 6 AsylG (in der Fassung der AsylG-Novelle 2003, BGBl. I Nr. 101) und fällt damit auch nicht unter die für das Familienverfahren getroffene Regelung des § 10 Abs. 5 AsylG. Es entspricht jedoch der ständigen Rechtsprechung der Höchstgerichte, dass die Asylbehörden - über die obgenannte gesetzliche Regelung hinaus - bei Entscheidungen nach § 5 AsylG auch Art. 8 EMRK zu berücksichtigen haben (vgl. dazu v.a. die zum Verhältnis von erwachsenen Kindern zu ihren Eltern ergangenen hg. Erkenntnisse jeweils vom 26. Jänner 2006, Zlen. 2002/20/0423 und 2002/20/0235, die zwar zur Rechtslage vor der AsylG-Novelle 2003 ergangen sind, deren diesbezügliche Erwägungen aber auch für den hier anzuwendenden Fall maßgeblich sind; zur Übertragbarkeit der Altjudikatur bei Auslegung des § 5 AsylG idF der AsylG-Novelle 2003 vgl. etwa schon das hg. Erkenntnis vom 30. Juni 2005, Zl. 2005/20/0082).

Ob durch Trennung der Familie im vorliegenden Fall ein Eingriff in die durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte der Beschwerdeführer erfolgen würde (für ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis spräche fallbezogen schon der Umstand, dass die volljährige Tochter der Erstbeschwerdeführerin nach den Ergebnissen des bisherigen Verfahrens an einer "geistigen Retardierung" leiden könnte, und die Erstbeschwerdeführerin mit Beschluss des Bezirksgerichtes Baden vom 8. November 2005 zur einstweiligen Sachwalterin der S. S. bestellt worden ist), weshalb die Ausübung des Selbsteintrittsrechtes gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung geboten wäre, hat die belangte Behörde ausgehend von ihrer unzutreffenden Annahme, ein Eingriff in das Familienleben liege schon deshalb nicht vor, weil sämtliche Familienmitglieder gemeinsam nach Polen ausgewiesen würden, nicht geprüft.

Die angefochtenen Bescheide waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333.

Wien, am 17. April 2007

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2007:2006190915.X00

Im RIS seit

29.08.2007

Zuletzt aktualisiert am

17.05.2009
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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