Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Hon.-Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Robert Maggale (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Annemarie N*****, vertreten durch Mag. Johann Juster, Rechtsanwalt in Zwettl, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 21. Februar 2008, GZ 10 Rs 197/07z-31, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revision der klagenden Partei wird zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Die am 18. 3. 1956 geborene Klägerin war zuletzt von 11. 2. 1997 bis 15. 5. 2004 als Verkäuferin und Filialleiterin in einer Filiale der S***** GmbH in einem Einkaufscenter beschäftigt.
Der Aufgabenbereich der Klägerin bestand darin, die Produkte des Unternehmens (Wurst und Speck) den in den Laden kommenden Kunden anzubieten und zu verkaufen und von den Kunden den Kaufpreis zu kassieren. Dabei waren von ihr im Geschäft auch kleine Kostproben vorzubereiten und Wurst und Speck aufzuschneiden. Außerdem musste sie die Geschäftsräumlichkeiten gemeinsam mit den anderen Mitarbeitern reinigen.
Neben diesen Aufgaben oblagen der Klägerin auch die typischen Aufgaben einer Filialleiterin eines Ladens im Einzelhandel. Ihr waren zwei Teilzeitkräfte unterstellt. Insbesondere musste sie den Dienstplan für sich selbst und die anderen Mitarbeiterinnen dieser Filiale erstellen, den Stand der Waren kontrollieren sowie aufgrund dieser Erhebungen Nachbestellungen von Waren durchführen. Weiters oblag es ihr auch, Abrechnungen zu erstellen (Führung des Kassabuches, Feststellung des Umsatzes).
Mit der ihr verbliebenen Leistungsfähigkeit kann die Klägerin ihre bisherige Tätigkeit als Verkäuferin und Filialleiterin nicht mehr verrichten. In Betracht kommen noch diverse Bürotätigkeiten im kaufmännischen Bereich, die allgemein in die Beschäftigungsgruppe 2 des Kollektivvertrags für Lehrlinge und Angestellte in Handelsbetrieben eingestuft werden. Sie wäre etwa einsetzbar für Angestelltentätigkeiten, deren wesentlicher Aufgabenbereich die Bearbeitung von Bestell- und Lieferscheinen, die kaufmännische Lagerhaltung oder die telefonische Kundenberatung ist. Dabei könnte sie auch ihre erworbenen Kenntnisse verwerten. Diese am Arbeitsmarkt in ausreichender Zahl vorkommenden Berufstätigkeiten stellen keine hohen körperlichen Anforderungen.
Durch Tagespendeln kann die Klägerin, bei der Wochenpendeln und Übersiedeln ausgeschlossen ist, zumindest noch 40 derartiger Arbeitsplätze von ihrem derzeitigen Wohnort in G***** erreichen. Das Erstgericht wies das auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension ab 1. 8. 2006 gerichtete Klagebegehren ab. Die Verweisung einer in Beschäftigungsgruppe 3 des Kollektivvertrags für die Handelsangestellten tätig gewesenen Angestellten auf Tätigkeiten in der Beschäftigungsgruppe 2 stelle keinen unzumutbaren sozialen Abstieg dar.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen und bestätigte die Rechtsansicht des Erstgerichts. Eine Verweisung der Klägerin auf einfache Bürotätigkeiten im kaufmännischen Bereich beinhalte keinen unzumutbaren sozialen Abstieg. Die Tätigkeiten entsprächen der nächstniedrigeren Verwendungsgruppe des Kollektivvertrages für die Handelsangestellten; die Klägerin könne bei diesen Tätigkeiten auch ihre erworbenen Kenntnisse verwerten. Dass die Tätigkeit mit einer gewissen Einbuße an Entgelt verbunden sei, mache die Verweisung nicht unzulässig. Dies gelte auch für den Umstand, dass die Klägerin zuletzt als Filialleiterin tätig gewesen sei. Zwar sei in der Entscheidung 10 ObS 51/87 die Verweisung eines angestellten Filialeiters und Vorgesetzten zweier Dienstnehmer auf einfache kaufmännische Arbeiten der Verwendungsgruppe 2 als unzumutbarer sozialer Abstieg qualifiziert worden; der dieser Entscheidung zugrunde liegende Sachverhalt unterscheide sich von dem vorliegenden jedoch vor allem dadurch, dass der dortige Kläger vor seiner Angestelltentätigkeit mehrere Jahre als selbständiger Erwerbstätiger einen derselben Branche angehörenden Betrieb seiner Ehegattin weitergeführt gehabt habe, in dem er bereits jahrzehntelang mittätig gewesen sei. Weiters habe es sich um die Frage einer Verweisung auf die Tätigkeit eines Fakturisten mit einfacher Verrechnung oder einer bloßen Hilfskraft in Büro, Betrieb, Lager und Versand gedreht: Diese Tätigkeiten stellten nach allgemeiner Anschauung untergeordnete Tätigkeiten dar, die in den Augen der Öffentlichkeit ein niedrigeres Ansehen genössen.
Auf die Klägerin treffe dies nicht zu. Sie sei zwar zuletzt über einen längeren Zeitraum neben ihrer Tätigkeit als Verkäuferin auch als Filialleiterin tätig gewesen und als solche unter anderem auch für die Dienstplanerstellung zweier ihr unterstellter Teilzeitkräfte zuständig gewesen; daneben sei sie aber vor allem mit dem Verkauf von Wurst und Speck, dem Aufschneiden entsprechender Kostproben und auch mit der Reinigung der Geschäftsräumlichkeiten befasst gewesen. Betrachte man die Tätigkeit der Klägerin in ihrer Gesamtheit, so sei nicht ersichtlich, warum eine in nicht unerheblichem Ausmaß auch mit einfachen körperlichen Arbeiten verbundene Tätigkeit in den Augen der Öffentlichkeit insgesamt ein höheres Ansehen genießen sollte als eine reine Bürotätigkeit beispielsweise im Rahmen der telefonischen Kundenberatung oder der kaufmännischen Lagerhaltung. Die Tätigkeit einer Bürokraft genieße grundsätzlich kein geringeres Sozialprestige als die bisherige Tätigkeit der Klägerin als Verkäuferin und Filialleiterin, zumal sie auch als Büroangestellte ihre Fähigkeiten verwerten und etwa typischerweise ihre Arbeitszeit im Rahmen einer Gleitzeitvereinbarung selbständig einteilen könnte. Auch unter Berücksichtigung des Verlustes der Vorgesetztenfunktion (die vor allem die Diensteinteilung umfasst habe) sei die Rechtsansicht des Erstgerichts, die Verweisungstätigkeiten seien nicht mit einem unzumutbaren sozialen Abstieg verbunden, zutreffend. Ungeachtet des Umstands, dass die Frage, ob eine Verweisung einen unzumutbaren sozialen Abstieg bewirke oder nicht, einzelfallbezogen zu beurteilen sei, sei die Revision zulässig, weil das Berufungsgericht einerseits von einer - vereinzelt gebliebenen und bereits älteren - Entscheidung des Höchstgerichts zur Verweisbarkeit eines Filialleiters abgewichen sei und andererseits das Rechtsproblem auch andere Personen und vergleichbare Fälle berühren könnte.
Rechtliche Beurteilung
Entgegen diesem Ausspruch des Berufungsgerichts ist die Revision nicht zulässig.
In ihrem Rechtsmittel stellt die Klägerin in den Vordergrund, dass die Tätigkeit einer Filialleiterin - trotz der damit verbundenen untergeordneten Tätigkeiten - in den Augen der Öffentlichkeit ein wesentlich höheres Ansehen genieße als die für sie noch in Betracht kommenden einfachen Verweisungstätigkeiten der Beschäftigungsgruppe 2, insbesondere weil mit einer Verweisung der Verlust der Vorgesetztenstellung verbunden sei. Außerdem seien die angeführten Verweisungsberufe funktionell der von ihr zuletzt ausgeübten Tätigkeit nicht gleichartig (weil sie nur Teiltätigkeiten der von ihr bisher ausgeübten qualifizierten Tätigkeit mit hierarchischer Vorgesetztenfunktion darstellten) und mit einem Entgeltverlust verbunden seien.
Damit wird keine erhebliche Rechtsfrage aufgezeigt. In der Revision wird nicht in Zweifel gezogen, dass die von der Klägerin zuletzt ausgeübte Berufstätigkeit und die möglichen Verweisungsberufe derselben Berufsgruppe angehören, könnte doch die Klägerin nach den Feststellungen die von ihr erworbenen Fähigkeiten in den Verweisungsberufen verwerten. Nach dem Revisionsvorbringen stellen die Verweisungsberufe „Teiltätigkeiten" der bisherigen Tätigkeit dar. Auch der Oberste Gerichtshof hat zuletzt wieder bestätigt, dass in die Berufsgruppe einer der kollektivvertraglichen Beschäftigungsgruppe 3 zugehörigen Einzelhandelskauffrau beispielsweise auch einfache Bürotätigkeiten einzureihen sind, die ihrer Wertigkeit nach der Beschäftigungsgruppe 2 angehören (10 ObS 55/08y). In der Entscheidung 10 ObS 95/07d hat der Oberste Gerichtshof die Verweisbarkeit eines in die kollektivvertragliche Beschäftigungsgruppe 2 oder 3 einzureihenden Außendienstmitarbeiters auf der Beschäftigungsgruppe 2 zugehörende einfache Angestelltentätigkeiten im Postein- und -auslauf bejaht (ebenso 10 ObS 93/06h).
Die Vorinstanzen haben bereits darauf hingewiesen, dass ein Angestellter innerhalb seiner Berufsgruppe nur auf Berufe verwiesen werden darf, die für ihn nicht mit einem unzumutbaren sozialen Abstieg verbunden sind. Dabei kommt es auf den sozialen Wert an, den die Allgemeinheit der Ausbildung und den Kenntnissen und Fähigkeiten des Versicherten beimisst. Maßgeblich sind die Stellung in der Betriebshierarchie, die damit verbundene Verantwortung für den Betriebsablauf und das hieraus resultierende Ansehen, das eine
bestimmte Tätigkeit in den Augen der Umwelt genießt (10 ObS 117/95 =
SSV-NF 9/58; 10 ObS 19/04y = SSV-NF 18/10; RIS-Justiz RS0085599
[T10]). Unzumutbar ist der soziale Abstieg vor allem dann, wenn die Verweisungstätigkeit in den Augen der Umwelt ein wesentlich geringeres Ansehen genießt (10 ObS 233/00p = SSV-NF 14/129). Die Einstufung einer Tätigkeit in einem Kollektivvertrag kann dafür ein Indiz bilden und zur Beurteilung des sozialen Wertes herangezogen werden. In diesem Sinn wird in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass die Verweisung von Angestellten auf Tätigkeiten der nächstniedrigeren Beschäftigungs- oder Verwendungsgruppe eines Kollektivvertrags in der Regel mit keinem unzumutbaren sozialen Abstieg verbunden ist, auch wenn es sich dabei um Arbeiten mit weniger Eigenverantwortung handelt. Gewisse Einbußen an Entlohnung und sozialem Prestige muss ein Versicherter hinnehmen (10 ObS 239/98i = SSV-NF 12/123; RIS-Justiz RS0084890; RS0085599). In die Beschäftigungsgruppe 3 des Kollektivvertrags für Angestellte und Lehrlinge in Handelsbetrieben fallen „Angestellte, die auf Anweisung schwierige Tätigkeiten selbstständig ausführen". Dazu zählen beispielsweise Filialleiter, soweit sie nicht in eine höhere Berufsgruppe einzustufen sind. In die Berufsgruppe 4 fallen „Angestellte mit selbstständiger Tätigkeit"; dazu zählen beispielsweise Filialleiter, die selbständig über Waren, Lagerhaltung und sonstige Betriebsmittel Verfügungen treffen, die Warenpräsentation und/oder verkaufsfördernde Maßnahmen durchführen, zur selbständigen Preisgestaltung oder zur Preisgestaltung im Rahmen allgemeiner Richtlinien berechtigt sind und für die Abrechnung vereinnahmter Geldbeträge Sorge tragen.
Die Klägerin ist unbestrittenermaßen in ihrer zuletzt ausgeübten Funktion als Leiterin einer kleinen Filiale eines Fleischhandelsbetriebs in die Beschäftigungsgruppe 3 des genannten Kollektivvertrags einzureihen. Mit den in dieser Beschäftigungsgruppe enthaltenen Tätigkeiten ist bereits ein gewisses Maß an Selbständigkeit und Verantwortung enthalten, wie sie auch eine Filialleiterin aufweisen muss. Die Vorgesetztenfunktion darf in diesem Zusammenhang dann nicht nochmals hervorgehoben werden, sondern ist bereits in den Anforderungen für die Beschäftigungsgruppe 3 vertypt.
In diesem Sinn steht die angefochtene Entscheidung, die die Verweisbarkeit der Klägerin auf Beschäftigungen der Beschäftigungsgruppe 2 ungeachtet des Verlusts der Vorgesetztenfunktion bejaht, mit der höchstgerichtlichen Judikatur in Einklang. Das Berufungsgericht hat bereits ausführlich dargelegt, dass der der Entscheidung 10 ObS 51/87 (SVSlg 33.370) zugrunde liegende Sachverhalt nicht mit dem vorliegenden vergleichbar ist. Auch in der Entscheidung 10 ObS 239/98i = SSV-NF 12/123 wurde die grundsätzliche Verweisbarkeit eines in die Beschäftigungsgruppe 3 einzureihenden Filialleiters auf (einfache) Tätigkeiten der Beschäftigungsgruppe 2 nicht in Zweifel gezogen.
Die Revision der Klägerin ist demnach als unzulässig zurückzuweisen.
Anmerkung
E8780410ObS73.08wSchlagworte
Kennung XPUBLDiese Entscheidung wurde veröffentlicht inARD 5898/4/2008 = zuvo 2008/86 S 127 (Neumayr, tabellarischeÜbersicht) - zuvo 2008,127 (Neumayr, tabellarische Übersicht) =ZAS-Judikatur 2008/159 = infas 2008,216/S45 - infas 2008 S45 = SSV-NF22/43XPUBLENDEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2008:010OBS00073.08W.0610.000Zuletzt aktualisiert am
27.01.2010