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32 SteuerrechtNorm
B-VG Art18 Abs1Leitsatz
Verstoß des in der Bundesabgabenordnung normierten Verböserungsverbotes hinsichtlich der Einschränkung der Bindung der Abgabenbehörde an die Rechtsauslegung der Höchstgerichte bzw von bestimmten Erlässen gegen das Rechtsstaatsprinzip und das Legalitätsprinzip; Schaffung in der Bundesverfassung nicht vorgesehener Rechtsquellentypen; keine weitere Anwendbarkeit der Bestimmung auch in offenen FällenRechtssatz
Präjudizialität des in Prüfung gezogenen §117 BAO sowohl in dem von Amts wegen eingeleiteten Prüfungsverfahren B581/03 als auch in den aufgrund von Anträgen des Verwaltungsgerichtshofes anhängigen Verfahren.
Der Gerichtshof folgt insbesondere nicht der Auffassung der belangten Behörde (hier: der Unabhängige Finanzsenat), sie wäre im Hinblick auf ihre in der Verfassungsbestimmung des §271 BAO verankerte Weisungsfreiheit zur Anwendung des §117 BAO nicht verpflichtet gewesen. Selbst wenn §117 BAO die verfassungsrechtlich angeordnete Weisungsfreiheit des Unabhängigen Finanzsenates in unzulässiger Weise beschränken sollte, änderte dies nichts daran, daß diese Behörde (im übrigen ebenso wie der Verwaltungsgerichtshof oder der Verfassungsgerichtshof selbst) die Vorschrift, solange sie dem Rechtsbestand angehört, anzuwenden hätte.
Denkmögliche Anwendung der Bestimmung auch in den Verfahren vor dem VwGH.
Aufhebung des §117 BAO idF BGBl I 97/2002.
Die in Prüfung gezogene, eine untrennbare Einheit bildende Vorschrift verstößt gegen das dem B-VG zugrunde liegende rechtsstaatliche Prinzip: §117 BAO schützt nicht (bloß) das Vertrauen in die Bestandskraft eines (allenfalls objektiv rechtswidrigen) individuellen Verwaltungsaktes, sondern legt im Ergebnis ministeriellen Enunziationen, die nicht die Form der Verordnung aufweisen, und im Einzelfall ergehenden Erkenntnissen von Höchstgerichten den Rang verbindlicher genereller Normen bei und schafft damit Rechtsquellentypen, die in der Bundesverfassung nicht vorgesehen sind. Die Vorschrift durchbricht ferner die in Art18 B-VG angeordnete Bindung der Verwaltung an das Gesetz, ohne daß hiefür eine verfassungsgesetzliche Deckung vorhanden wäre. Sie ist schließlich mit den von der Bundesverfassung den Gerichtshöfen öffentlichen Rechts übertragenen Aufgaben nicht vereinbar.
Den Gesetzesmaterialien zufolge soll die Regelung das Vertrauen der Partei in eine bestimmte Rechtsauslegung schützen und dadurch der Rechtssicherheit dienen. Nun ist es in der Tat Aufgabe des einfachen Gesetzgebers, einen im Verfahren allenfalls auftretenden Konflikt zwischen den Prinzipien der Rechtsrichtigkeit (Gesetzmäßigkeit) und der Rechtssicherheit oder Rechtsbeständigkeit zu lösen. Der Gesetzgeber hält sich dabei aber nicht mehr im Rahmen des Rechtsquellenkataloges der geltenden Verfassung, wenn er zu diesem Zweck in Erlässen des BM für Finanzen (hier: Richtlinien zur Einkommensteuer und zur Kapitalertragsteuer) oder in Erkenntnissen eines Gerichtshofes des öffentlichen Rechts vertretene Rechtsauslegungen als solche für generell verbindlich erklärt.
Keine weitere Anwendbarkeit der aufgehobenen Bestimmung iSd Art140 Abs7 B-VG, keine Fristsetzung.
Im Hinblick auf die rechtsstaatlichen Einwände, die gegen die aufgehobene Vorschrift bestehen, sah der Gerichtshof sich nicht veranlaßt, dem Antrag der Bundesregierung auf Fristsetzung zu entsprechen. Eine gleichmäßige, dem Legalitätsprinzip entsprechende Rechtsanwendung scheint vielmehr nur dann gewährleistet zu sein, wenn die Vorschrift auch in offenen Fällen nicht mehr anwendbar ist.
(Anlaßfall B581/03, B v 03.03.05, Ablehnung der Beschwerdebehandlung).
Entscheidungstexte
Schlagworte
Bindung (der Verwaltungsbehörden an VfGH), Bindung (der Verwaltungsbehörden an VwGH), Finanzverfahren, Rechtsquellensystem, Rechtsstaatsprinzip, Vertrauensschutz, VfGH / Anlaßverfahren, VfGH / Fristsetzung, VfGH / PräjudizialitätEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2004:G95.2004Dokumentnummer
JFR_09958798_04G00095_01