TE Vfgh Erkenntnis 1985/2/27 G53/83, G57/83, G75/74, G116/84

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Veröffentlicht am 27.02.1985
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Index

10 Verfassungsrecht
10/07 Verfassungsgerichtshof, Verwaltungsgerichtshof

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsgegenstand
B-VG Art144 Abs3 idF BGBl 296/1984
VfGG §33
VfGG §87 Abs3 idF BGBl 297/1984
VwGG §46 Abs1
ZPO §146 Abs1 idF BGBl 135/1983

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Kundmachung BGBl. 197/1985 am 23. Mai 1985

Leitsatz

VwGG 1985; die Worte "ohne ihr Verschulden" in §46 Abs1 gleichheitswidrig (unterschiedliche Regelung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in §46 Abs1 im Vergleich zur gemäß §33 iVm. §35 Abs1 VerfGG vom VfGH anzuwendenden Neuregelung des §146 Abs1 ZPO idF BGBl. 135/1983

Spruch

Die Worte "ohne ihr Verschulden" in §46 Abs1 des VwGG 1985, BGBl. Nr. 10, werden als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 31. Jänner 1986 in Kraft.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Für das Verfahren vor dem VwGH regelt §46 Abs1 des - als VwGG 1985, BGBl. 10, wiederverlautbarten - VwGG 1965, BGBl. 2, (ua.) die materiellen Voraussetzungen, unter denen eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen ist. Die entsprechende Regelung in den der Zivilprozeßordnung unterliegenden Verfahrensbereichen enthält ihr §146 Abs1, dessen zweiter Satz durch die Zivilverfahrens-Nov. 1983, BGBl. 135, angefügt wurde. Diese - hier gegenübergestellten - Gesetzesvorschriften haben folgenden Wortlaut:

§46 Abs1 VwGG 1985:

(1) Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist einer Partei, die im Verfahren vor dem VwGH eine Frist versäumt hat und dadurch einen Rechtsnachteil erleidet, auf Antrag zu bewilligen, wenn sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis ohne ihr Verschulden verhindert war, die Frist einzuhalten.

§146 Abs1 ZPO:

(1) Wenn eine Partei durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis - so dadurch, daß sie von einer Zustellung ohne ihr Verschulden keine Kenntnis erlangt hat - am rechtzeitigen Erscheinen bei einer Tagsatzung oder an der rechtzeitigen Vornahme einer befristeten Prozeßhandlung verhindert wurde, und die dadurch verursachte Versäumung für die Partei den Rechtsnachteil des Ausschlusses von der vorzunehmenden Prozeßhandlung zur Folge hatte, so ist dieser Partei, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt, auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen. Daß der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt.

2. Der VwGH hat in vier Beschwerdesachen über Wiedereinsetzungsanträge zu entscheiden, von denen drei wegen Versäumung der zur Behebung von Mängeln der Beschwerde gesetzten Frist und der vierte wegen Versäumung der Frist zur Beschwerdeerhebung eingebracht wurden. Aus Anlaß dieser Wiedereinsetzungsanträge stellt der VwGH (zu A26/83, A28/83, A42/83 und A7, 8, 9/84) unter Berufung auf Art140 Abs1 B-VG die (hier unter G53/83, G57/83, G75/84 und G116/84 protokollierten) Anträge, die Worte "ohne ihr Verschulden" in §46 Abs1 VwGG 1965 (nunmehr §46 Abs1 VwGG 1985) als verfassungswidrig aufzuheben. Der antragstellende Gerichtshof legt seine verfassungsrechtlichen Bedenken folgendermaßen dar:

"§46 Abs1 VwGG 1965 verlangt zufolge der Worte 'ohne ihr Verschulden' schlechterdings völlige Freiheit von jeglichem Verschulden.

'Verschulden' im Sinne des §46 Abs1 VwGG 1965 bedeutet die Verletzung 'eines solchen Grades des Fleißes und der Aufmerksamkeit ..., welche bei gewöhnlichen Fähigkeiten angewendet werden kann' (§1297 ABGB). Ob die Fahrlässigkeit leicht oder schwer ist (§1294 ABGB), ist irrelevant (siehe den hg. Beschluß vom 20. Mai 1981, Zlen. 81/03/0066, 0067, 0103, 0104).

Da in den der Zivilprozeßordnung unterliegenden Verfahrensbereichen und insbesondere im Beschwerdeverfahren nach Art144 B-VG - somit in einem Verfahren, welches denselben Prüfungsgegenstand aufweist wie das Verfahren des VwGH zur Prüfung von Bescheiden und grundsätzlich auch von Maßnahmen der Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person - ein minderer Grad des Versehens dann, wenn die Frist zur Einbringung des Wiedereinsetzungsantrages nach dem 30. April 1983 zu laufen begonnen hat, die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht hindert, da hingegen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren gleichwohl auch in jenen Fällen, in denen die Frist zur Einbringung des Wiedereinsetzungsantrages nach dem 30. April 1983 zu laufen begonnen hat, zufolge der in §46 Abs1 VwGG 1965 enthaltenen Worte 'ohne ihr Verschulden' selbst bei einem minderen Grad des Versehens die Bewilligung der Wiedereinsetzung ausgeschlossen ist, hat der VwGH Bedenken dahin, daß die Worte 'ohne ihr Verschulden' in §46 Abs1 gegen den verfassungsgesetzlichen Gleichheitsgrundsatz verstoßen."

3. Die Bundesregierung erstattete zu den Gesetzesprüfungsanträgen Äußerungen, in denen sie begehrt, die angefochtene Gesetzesbestimmung nicht als verfassungswidrig aufzuheben. Sie nimmt - auf das Wesentlichste zusammengefaßt - den Standpunkt ein, daß §146 ZPO und §46 Abs1 VwGG 1965 nicht verglichen werden könnten und die dem VfGH zur Entscheidung vorgelegte Rechtsfrage außerhalb des Anwendungsbereiches des Gleichheitsgrundsatzes liege.

II. Der VfGH hat über die - zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen - Gesetzesprüfungsanträge erwogen:

1. Es sind keine Umstände hervorgekommen, die gegen die Annahme des VwGH sprechen, daß er die angefochtene Gesetzesstelle bei seinen Entscheidungen über die Wiedereinsetzungsanträge anzuwenden hätte. Die Prüfungsanträge sind, da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, zulässig.

2. Die Anträge erweisen sich im Ergebnis auch als begründet.

a) Der VfGH hält die vom VwGH geäußerte Bedenken zwar insoweit nicht für berechtigt, als der antragstellende Gerichtshof eine in den Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wesentlich differenzierende Regelung zwischen den der Zivilprozeßordnung unterliegenden Verfahrensbereichen einerseits und dem verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren andererseits überhaupt für unzulässig hält. Gegen ein solches - abzulehnendes - Verständnis des auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitsgebotes ist der VfGH erst jüngst in seinem Erk. G75/83 vom 27. Juni 1984 aufgetreten. Er hat dort - zu einem vom VwGH gestellten Gesetzesprüfungsantrag, der sich auf eine Bestimmung über die Wiederaufnahme des Verfahrens im Bereich des dem Beamtendienstrechtsgesetzes 1979 unterliegenden Disziplinarrechtes bezog - folgendes dargelegt, das sinngemäß auch für die vorliegenden Gesetzesprüfungsfälle zutrifft:

"Der VfGH vertritt - in diesem Punkt in Übereinstimmung mit dem VwGH - die Auffassung, daß das Gleichheitsgebot des Art7 Abs1 B-VG den Bundesgesetzgeber nicht zur Schaffung eines inhaltlich übereinstimmenden Disziplinarrechts für alle öffentlich-rechtlich Bediensteten, mit anderen Worten: zur Vereinheitlichung des Disziplinarrechts etwa für Richter (RDG), Heeresangehörige (HDG) und Bedienstete unter dem Regime des BDG zwingt. Vielmehr steht es dem - hier innerhalb seines rechtspolitischen Gestaltungsspielraums handelnden - Normsetzer offen, sich in den gedachten Bereichen für durchaus eigenständige Ordnungssysteme zu entscheiden, die den Erfordernissen und Besonderheiten unterschiedlicher Gruppen des Bundespersonals adäquat Rechnung tragen, sofern nur die strittigen Disziplinargesetze in sich - dh. jeweils nur für sich betrachtet - gleichheitsgemäß gestaltet sind (vgl. zB VfGH 6. März 1984 G10/83). In Vergleich zueinander sind diese (Disziplinar-)Regelungen unter dem Aspekt des Art7 Abs1 B-VG bloß insoweit zu bringen, als dem Gesetzgeber - in bestimmten Fragen - aus ganz besonderen Gründen auszuschließende Abweichungen (exzeptionellen Gewichts) verweht bleiben. Der VwGH wendet nun weder ein, daß die bekämpfte Gesetzesvorschrift im Verhältnis zu anderen - dieselbe Personengruppe erfassenden - Bestimmungen des BDG 1979 gleichheitswidrig sei, noch macht er dem Bundesgesetzgeber eine sich aus speziellen Erwägungen verbietende Sonderregelung zum Vorwurf ..."

b) Gerechtfertigte Bedenken hegt der VwGH jedoch insofern, als er die unterschiedliche Regelung zwischen dem verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren (in dem kraft §35 Abs1 iVm. §33 VerfGG ua. der Abs1 im §146 ZPO sinngemäß anzuwenden ist) und dem Beschwerdeverfahren vor dem VwGH als gleichheitswidrig kritisiert.

Hiezu ist folgendes festzuhalten:

Art144 Abs3 B-VG sieht für den Fall der abweisenden Entscheidung des VfGH in einer Beschwerdesache (und unter der Voraussetzung, daß nicht nach Art133 B-VG die Zuständigkeit des VwGH ausgeschlossen ist) auf Antrag des Bf. die Abtretung der Beschwerde an den VwGH (die in der Literatur (Oberndorfer, Die österreichische Verwaltungsgerichtsbarkeit, S 46) sogenannte Sukzessivbeschwerde an den VwGH) vor. Bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. BGBl. 296/1984 und der VerfGG-Nov. BGBl. 297/1984 (jeweils mit 1. August 1984) war der Antrag auf Beschwerdeabtretung gleichzeitig mit der VfGH-Beschwerde zu stellen (§87 Abs3 VerfGG idF der Nov. BGBl. 353/1981), nach der nunmehr geltenden Rechtslage (Art144 Abs3 B-VG und §87 Abs3 VerfGG idF der Nov. vom Jahre 1984) kann der Antrag auf Beschwerdeabtretung auch noch (innerhalb von zwei Wochen) nach der (abweisenden Sach-)Entscheidung des VfGH gestellt werden. Jedenfalls ab dieser Neuregelung sind die zeitlichen Voraussetzungen für die Erhebung einer Sukzessivbeschwerde an den VwGH (mit anderen Worten: die Rechtzeitigkeit der Beschwerdeerhebung als Prozeßvoraussetzung des verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens) von denen der Einbringung der Beschwerde beim VfGH gelöst; es kommt nicht etwa auf die Rechtzeitigkeit der beim VfGH eingebrachten Beschwerde, auf eine von ihm getroffene Entscheidung über einen wegen Versäumung der Beschwerdefrist erhobenen Wiedereinsetzungsantrag, auf die Rechtzeitigkeit des nach der (abweisenden) Sachentscheidung des VfGH eingebrachten Antrages auf Beschwerdeabtretung an den VwGH und ähnliche Umstände an, sondern ausschließlich darauf, daß der VfGH die Beschwerdeabtretung an den VwGH tatsächlich ausspricht. Aus dieser Sicht (nämlich wegen der eben dargestellten, verfassungsrechtlich vorgegebenen und prozeßtechnischen vom einfachen Gesetzgeber aktualisierten Verzahnung der beiden auf einem einzigen Schriftsatz beruhenden Rechtsbehelfe) entfaltet der Ausspruch des VfGH auf Beschwerdeabtretung an den vwGH für diesen Bindung im Bereich der soeben erwähnten, zeitlich und sachlich in das verfassungsgerichtliche Beschwerdeverfahren eingebetteten Prozeßvoraussetzung.

Geht man von dieser Ansicht aus und zieht weiters in Betracht, daß es dem Adressaten eines anfechtbaren Bescheides (oder dem durch einen Akt unmittelbar verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt Betroffenen) im allgemeinen freisteht, VfGH-Beschwerde mit gleichzeitigem oder späterem Begehren auf Beschwerdeabtretung an den VwGH oder jedoch unmittelbar Beschwerde an den VwGH zu erheben, so findet sich in der Tat kein einsichtiger Grund dafür, weshalb im letzteren Fall die sachlichen Erfordernisse einer wegen Versäumung der Beschwerdefrist begehrten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand strenger sein sollten als im ersteren. Daraus folgt, daß die in Prüfung gezogene Gesetzesbestimmung dem Gleichheitsgebot widerspricht, welches dem Gesetzgeber insbesondere die Schaffung anderer als sachlich begründbarer Differenzierungen verwehrt (zB VfSlg. 8938/1980).

c) Die Worte "ohne ihr Verschulden" in §46 Abs1 des VwGG 1985, BGBl. 10, waren sohin als verfassungswidrig aufzuheben.

3. Dem Antrag der Bundesregierung entsprechend wurde für das Inkrafttreten der Aufhebung eine Frist von einem Jahr bestimmt, um die gesetzgeberischen Maßnahmen zur gänzlichen Beseitigung der Verfassungswidrigkeit zu ermöglichen.

Der Ausspruch, daß frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten, stützt sich auf Art140 Abs6 B-VG. Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung ist im Art140 Abs5 B-VG begründet.

Schlagworte

VfGH / Wiedereinsetzung, VfGH / Abtretung, VfGH / Fristen, Verwaltungsgerichtshof, Wiedereinsetzung, Bindung (des VwGH an VfGH), VfGH / Prüfungsgegenstand, Wiederverlautbarung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1985:G53.1983

Dokumentnummer

JFT_10149773_83G00053_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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