TE Vfgh Erkenntnis 1985/6/10 B445/82

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Veröffentlicht am 10.06.1985
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

StGG Art8
EGVG ArtVIII idF BGBl 232/1977
EGVG ArtIX Abs1 Z1 idF BGBl 232/1977
EGVG ArtIX Abs1 Z2 idF BGBl 232/1977
VStG §35 litc

Leitsatz

Art8 StGG; Art5 MRK; Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; rechtswidrige Festnahme und anschließende Anhaltung; unvertretbare Annahme des "Verharrens in der strafbaren Handlung" iS des §35 litc VStG - kein Rückgriff auf frühere Vorkommnisse als Festnahmevoraussetzung

Spruch

Der Bf. ist dadurch, daß er am 22. Juli 1982 um 19.30 Uhr von Organen der Bundespolizeidirektion Wien festgenommen und anschließend bis zirka 22.00 Uhr in Haft angehalten wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. Der Bf. begehrt in seiner unter Berufung auf Art144 Abs1 B-VG an den VfGH gerichteten Beschwerde die kostenpflichtige Feststellung, daß er durch (der Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. zuzurechnende) Amtshandlungen, nämlich seine Festnahme am 22. Juli 1982 um 19.30 Uhr und seine darauffolgende Verwahrung bis zirka 22.00 Uhr, demnach durch Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG sowie Art5 MRK) verletzt worden sei.

1.2. Die - durch die Finanzprokuratur vertretene - Bundespolizeidirektion Wien legte als bel. Beh. die Administrativakten vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

2.1. Der VfGH erhob Beweis durch Einvernahme der Zeugen Inspektor G M, Inspektor P H, der E G und des J W, des Bf. als Partei im Rechtshilfeweg sowie durch Einsichtnahme in den Akt der Bundespolizeidirektion Wien Pst. 11939-L/82 G.I. - 2-2100/383-82/D und SW-2-2100/822/1.

2.2. Hieraus ergibt sich folgendes:

2.2.1. In der durch Inspektor M erstatteten Anzeige gegen den Bf. wird - auf das wesentliche zusammengefaßt - ausgeführt:

Am 22. Juli 1982 sei die Funkstreife B/3 um 19.15 Uhr zum H-Kino nach Wien, T-Straße, beordert worden, um eine Intervention wegen "Lärmerregung" durchzuführen. Beim Eintreffen sei festgestellt worden, daß die Türen des Vorführraumes zum Kino offen standen. Der Bf. (er ist im Kino als Billeteur beschäftigt) sei über das Vorliegen von Beanstandungen wegen Lärmerregung informiert worden, worauf er ungehalten zu schreien begonnen habe, wobei er mit beiden Armen wild gestikulierend vor dem Gesicht des Meldungslegers Inspektor M "herumfuchtelte". Der Bf. sei von M aufgefordert worden, sein lärmendes Verhalten einzustellen, da sonst Anzeige erstattet werden müßte. Der Bf. habe jedoch weiter geschrieen und sei deshalb neuerlich abgemahnt worden. Aufgrund seines ungestümen und lärmenden Verhaltens hätten sich zahlreiche Passanten in der Kinopassage angesammelt. Plötzlich habe der Bf. zu dem aus einem Fenster schauenden Filmvorführer gerufen: "Kollege, hast das gesehen, der hat mi gschlagen". Der Filmvorführer habe jedoch nur lächelnd den Kopf geschüttelt. Da der Bf. auch in der Folge trotz mehrmaliger Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt sei, sei er gemäß §35 litc VStG 1950 festgenommen und dem Polizeikommissariat 2 zur weiteren Amtshandlung überstellt worden. Durch das Verhalten des Bf. sei bei zahlreichen Passanten Ärgernis erregt und die Ordnung an einem öffentlichen Ort gestört sowie der Tatbestand des ungestümen Benehmens gesetzt worden.

Bezüglich der Lärmerregung aus dem Vorführraum des Kinos sei keine Anzeige erstattet worden, da eine solche von der Besatzung des Funkstreifenwagens nicht wahrnehmbar gewesen sei.

2.2.2. Der Bf. stellt den Sachverhalt in mehrfacher Hinsicht abweichend dar:

Nach dem Einlangen der Funkstreife habe er - zu den Beanstandungen wegen störender Lärmerregung und dem Offenstehen der Türe zum Vorführraum von Inspektor M angesprochen - in der Annahme, daß die Anzeige von einer Hauspartei erstattet worden sei, erwidert, daß jemand, der sich gestört fühle, sein Fenster geschlossen halten könne, wobei er mit einer Hand nach oben zur Fensterfront gezeigt habe. Die Diskussion sei von beiden Seiten wohl mit erhobener Stimme, aber keineswegs schreiend geführt worden. Als der Bf. dem Meldungsleger widersprochen hätte, habe ihm dieser mit einer Hand einen leichten Schlag auf den Hinterkopf gegeben und dazu gesagt: "Is was, Depperter, wannst schreist, bist festgenommen". Er habe daraufhin den Operateur, der mittlerweile in die Türöffnung getreten sei, gefragt, ob er den Schlag gesehen hätte, was dieser jedoch verneint habe. Hierauf sei der Bf. in das Kino gegangen, wo er der Kinokassierin den Vorfall erzählt habe. In der Zwischenzeit habe der Meldungsleger, der in der Kinopassage geblieben sei, den Kinooperateur gefragt, ob der Bf. "immer deppert" sei. Der Bf. sei in der Folge wieder in die Passage gekommen, um vom Meldungsleger zwecks Erstattung einer Dienstaufsichtsbeschwerde die Dienstnummer zu verlangen. Der Sicherheitswachebeamte habe darauf erwidert: "Was is, Depperter" und habe seine Festnahme ausgesprochen. Er sei dann in das Bezirkspolizeikommissariat Leopoldstadt überstellt und nach seiner Vernehmung gegen 22.00 Uhr entlassen worden.

2.2.3.1. Das vom VfGH im Rechtshilfeweg durchgeführte Beweisverfahren ergibt folgende entscheidungswesentliche Feststellungen:

Bei der Intervention der Funkstreifenbesatzung fand zunächst eine erregte Auseinandersetzung zwischen dem Bf. und dem Meldungsleger Inspektor M statt, die dazu führte, daß Passanten auf den Vorfall aufmerksam wurden. Inspektor M drohte dem Bf. wegen seines Verhaltens die Anzeige an. Der Bf. entfernte sich hierauf in das Kino, wo er sich bei der Kassierin über das Verhalten des Meldungslegers beschwerte und Rat einholte, ob er die Dienstnummer des Sicherheitsbeamten verlangen könne, was die Kassierin bejahte. Inspektor M sprach während desselben Zeitraumes mit dem Kinooperateur, der ihm erklärte, warum er die Tür zum Vorführraum offengehalten hatte und ihn ersuchte, sich selbst davon zu überzeugen, wie heiß es drinnen sei. Dieser Aufforderung kam Inspektor M auch tatsächlich nach und begab sich anschließend wieder in die Kinopassage. Auch der Bf. kam in der Folge in die Passage zurück, wo er vom Meldungsleger mit lauter Stimme die Dienstnummer begehrte, worauf Inspektor M die Festnahme des Bf. aussprach. In weiterer Folge wurde der Bf. auf das Polizeikommissariat überstellt, wo er einvernommen und bis 22.00 Uhr festgehalten wurde. Dort wurde dem Bf. auch die Dienstnummer des Meldungslegers bekanntgegeben.

2.2.3.2. Diese Beweisergebnisse stützen sich auf die - insofern - in allen wesentlichen Punkten übereinstimmenden Einvernahmen. Von weiteren Feststellungen konnte, weil nicht entscheidungsrelevant (s. die nachfolgenden Ausführungen), Abstand genommen werden.

3. Der VfGH hat erwogen:

3.1.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung einer Person zutrifft (vgl. VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977, 9919/1983).

3.1.2. Folglich ist die Beschwerde, da ein Instanzenzug hier nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, zulässig.

3.2.1.1. Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 MRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung":

Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, bestimmt in seinem §4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.

3.2.1.2. §35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz (vgl. zB VfSlg. 7252/1974), doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten (Anwendungs-)Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird. Sie muß sich also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Handlung zuschulden kommen lassen und bei Begehung dieser Tat angetroffen werden, wobei die erste dieser beiden Voraussetzungen schon dann erfüllt ist, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund annehmen konnte (s. VfSlg. 4143/1962, 7309/1974).

Gemäß §35 litc VStG ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Bedingungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann statthaft, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.

Dieser hier allein in Frage kommende Festnehmungsgrund setzt somit voraus, daß das die Festnahme aussprechende Sicherheitsorgan mit gutem Grund - und damit vertretbar - zur Auffassung gelangen durfte, daß der Bf. (wie zur Anzeige gebracht) Übertretungen nach ArtVIII zweiter Fall und ArtIX Abs1 Z1 und 2 EGVG 1950 idF der Nov. BGBl. 232/1977 verübt habe. Die für eine Festnehmung geforderte weitere Voraussetzung, daß der Betretene entweder im strafbaren Verhalten "verharrt" oder es "zu wiederholen sucht", verlangt aber weiters, daß das Verhalten, das unmittelbar zur Festnehmung führt, in gleicher Weise zu beurteilen ist und - auch für sich gesehen - vertretbarerweise die Auffassung erlaubt, daß ein strafbares Verhalten, wie es zum Anlaß der Abmahnung genommen wurde, vorliegt.

3.2.2.1. Nach ArtVIII zweiter Begehungsfall EGVG 1950 idgF begeht eine Verwaltungsübertretung, wer ungebührlicherweise störenden Lärm erregt. Das Tatbild dieser Verwaltungsübertretung ist nach der Rechtsprechung des VfGH (VfSlg. 8654/1979) und des VwGH (VwGH 19. April 1982 Z 81/10/0104) dadurch gekennzeichnet, daß (störender) Lärm dann "ungebührlicherweise" erregt wird, wenn das inkriminierte Verhalten jene Rücksichtnahme vermissen läßt, welche die Umwelt regelmäßig verlangen kann.

Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH (vgl. etwa das Erk. vom 13. Feber 1984 Z 82/10/0178 oder 9. Juli 1984 Z 84/10/0080) ist das Tatbild der Ordnungsstörung nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 idgF dadurch gekennzeichnet, daß der Täter ein Verhalten setzt, das objektiv geeignet ist, Ärgernis zu erregen und daß durch dieses Verhalten die Ordnung an einem öffentlichen Ort gestört wird, was dann der Fall ist, wenn eine Handlung geeignet ist, bei anderen, unbefangenen Menschen die lebhafte Empfindung des Unerlaubten und Schändlichen hervorzurufen.

Nach ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950 idgF begeht schließlich eine Verwaltungsübertretung, wer "sich ungeachtet vorausgegangener Abmahnung gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht oder gegenüber einer Militärwache, während sich diese Personen in rechtmäßiger Ausübung des Amtes oder Dienstes befinden, ungestüm benimmt". Der VfGH vertritt in ständiger Rechtsprechung (zB VfSlg. 9229/1981, in letzter Zeit 20. September 1984 B427/82) - in Übereinstimmung mit der Judikatur des VwGH (vgl. VwSlg. 2263(A)/1951; VwGH 1. März 1979 Z 873/78) - die Auffassung, daß unter "ungestümem Benehmen" ein sowohl in der Sprache als auch in der Gestik der gebotenen Ruhe entbehrendes, mit ungewöhnlicher Heftigkeit verbundenes Verhalten anzusehen ist (s. auch VfSlg. 7464/1974).

3.2.2.2. Angesichts der hier maßgeblichen Sach- (2.2.3.1.) und Rechtslage (3.2.1.2. und 3.2.2.1.) konnte der die Festnehmung des Bf. aussprechende Inspektor M nicht mit gutem Grund davon ausgehen, daß der Bf., nachdem dieser aus dem Kinoraum wieder in die Passage zurückgekehrt war, eine Verwaltungsübertretung nach einer der in

3.2.2.1. umschriebenen Tatbestände begangen habe, also in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt wäre. Anlaß für die Festnahme war, daß der Bf. in lautem Ton (ohne Dazutreten qualifizierender Umstände) die Dienstnummer des Sicherheitsorgans verlangte. In diesem Vorgehen kann, nach sachlichen Gesichtspunkten betrachtet, kein gerechtfertigtes Verhalten des Polizeibeamten erblickt werden. Der Rückgriff auf frühere Vorkommnisse als Festnahmevoraussetzung kommt nicht in Betracht, da diese Verhaltensweisen jedenfalls eingestellt waren. Damit muß nicht festgestellt werden, ob in einem vorhergehenden Zeitpunkt eine Abmahnung stattgefunden hat. Denn selbst wenn sie stattgefunden hätte, fehlte es im Zeitpunkt der Festnahme an der Tatbestandsvoraussetzung des Verharrens in der strafbaren Handlung.

3.3. Die Festnahme war daher rechtswidrig.

Daraus folgt, daß der Bf. durch die bekämpften Amtshandlungen insgesamt - das sind seine Festnahme und nachfolgende Anhaltung - im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG) verletzt wurde.

Schlagworte

Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Festnehmung, Ordnungsstörung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1985:B445.1982

Dokumentnummer

JFT_10149390_82B00445_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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