Index
10 VerfassungsrechtNorm
B-VG Art144 Abs1 / PrüfungsmaßstabLeitsatz
StGG Art8; Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; vertretbare Annahme der Ordnungsstörung iS des ArtIX Abs1 Z1 EGVG; Festnahme in §35 litc VStG gedeckt; keine Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit; keine Abtretung an den VwGH MRK Art3; nach - gesetzlich gedeckter - Festnahme Abführung des Bf. in die Verwaltungshaft ohne hinreichenden Grund nur mit Unterhose und T-Shirt bekleidet; Verstoß gegen Art3Spruch
I. Der Bf. C B ist dadurch, daß er am 16. Juni 1983 von Organen der Bundespolizeidirektion Wien von Wien ... in das Bezirkspolizeikommissariat Wien I., Deutschmeisterplatz 3, verbracht wurde, obwohl er nur mit Unterhose und T-Shirt bekleidet war, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, nicht einer erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden (Art3 MRK), verletzt worden.
II. Die Bf. sind durch die am 16. Juni 1983 von Organen der Bundespolizeidirektion Wien durchgeführte Verhaftung und anschließende Anhaltung in Verwaltungshaft weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.
III. Die Beschwerde der N W wird zur Gänze, die Beschwerde des C B in dem unter II. bezeichneten Umfang abgewiesen.
IV. Die Anträge der Bf., die Beschwerden an den VwGH abzutreten, werden abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. a) In den auf Art144 B-VG gestützten Beschwerden wird vorgebracht, daß der Bf. und die Bf. in der Nacht vom 15. auf den 16. Juni 1983 in einer im vierten Stock des Hauses Wien ... gelegenen Wohnung, die der Bf. von ihrem Vater zur Verfügung gestellt worden sei, gegen Mitternacht in Streit geraten seien. Der Bf. hätte kurz davor ein Duschbad genommen und sei - da es noch relativ warm gewesen sei - lediglich mit Unterhose und einem T-Shirt bekleidet gewesen. Die Fenster hätten während des Streites teilweise offengestanden, sodaß dieser sicher auf der Straße - wenngleich nicht übermäßig laut - vernehmbar gewesen sei.
Noch während des Streites hätten die Bf. bemerkt, daß zwei Sicherheitswachebeamte und fünf Beamte der Spezialeinheit "Cobra" versuchten, das Tor zum Haus, in dem sich die Bf. befanden, zu öffnen. Die Bf. seien einigermaßen schuldbewußt gewesen, diesen Vorfall ausgelöst zu haben; der Bf. sei "wie er war" zum Haustor hinuntergeeilt. Dort hätte er den Hausmeister angetroffen, der bemüht gewesen sei, das Tor von innen zu öffnen, was anfänglich nicht möglich gewesen sei, da es klemmte. Mittlerweile hätte sich auch die Bf. in den Hausflur begeben. Nachdem es gelungen war, das Tor zu öffnen, hätte einer der intervenierenden Polizeibeamten gefragt, ob es die Bf. gewesen seien, die geschrieen hätten. Beide hätten dies sofort bejaht, aber darauf hingewiesen, daß der Streit beendet sei. Darauf hätte der Polizeibeamte erwidert, daß dies 100 S wegen Ruhestörung kosten würde. Da die Bf. diesen Betrag nicht bei sich gehabt hätten, hätte die Bf. angeboten, in einem schräg gegenüberliegenden Cafe nachsehen zu wollen, ob Freunde anwesend seien, von denen sie diesen Betrag hätte borgen können. Dies sei ihr aber verwehrt worden. Ebenso sei ihr verwehrt worden, sich aus ihrer Wohnung einen Ausweis zu beschaffen; dem Bf. sei, obwohl er darum ersucht habe, untersagt worden, sich eine Hose anzuziehen. Vielmehr seien die Bf. abgeführt, auf das Polizeikommissariat Deutschmeisterplatz verbracht und dort in Zellen gesperrt worden. Trotz mehrmaligen Drängens sei es ihnen erst gegen 8 Uhr morgens erlaubt worden, sich mit dem Vater der Bf. und der Mutter des Bf. telefonisch in Verbindung zu setzen. Letztere sei um 9 Uhr auf dem Kommissariat erschienen und hätte die Bf. identifiziert. Sodann sei ihnen ein Protokoll vorgelegt worden, in dem der Vorfall insofern unrichtig dargestellt war, als außer dem Streit noch protokolliert worden sei, die Bf. hätten die einschreitenden Polizeibeamten mit Schimpfwörtern bedacht. Die Bf. hätten daraufhin klargestellt, die ihnen unterstellten Schimpfwörter nicht gebraucht zu haben, das Protokoll aber unterzeichnet, da ihnen nur unter dieser Bedingung eine Enthaftung in Aussicht gestellt worden sei. Aus demselben Grund hätten sie auch Verzicht auf ein Rechtsmittel gegen die über sie verhängten Geldstrafen geleistet.
b) Durch die erfolgte Festnahme erachten sich die Bf. in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt. Die Festnahme sei gesetzwidrig erfolgt; der einzige Festnahmegrund hätte, da keine Abmahnung erfolgt sei und sie auch in keinem (nach dem hier in Betracht kommenden ArtVIII EGVG 1950) strafbaren Verhalten verharrt hätten, nach der heranzuziehenden Rechtsgrundlage - §35 VStG 1950 - lediglich darin bestehen können, daß ihre Identität nicht sofort feststellbar gewesen sei. Da diese aber durch in der Wohnung vorhandene Ausweispapiere hätte belegt werden können, hätte sich die Verwaltungsbehörde nur zum Schein auf §35 lita VStG 1950 gestützt.
c) Weiters fühlen sich die Bf. in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, keiner erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung unterzogen zu werden, verletzt. Die Bf. erblickt die unmenschliche Behandlung jedenfalls darin, daß man sie zur Nachtzeit auf das Kommissariat zwang, obwohl ihre Identität leicht feststellbar gewesen wäre; eine Erniedrigung läge in der Verbringung in den Polizeiarrest, obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen seien. Der Bf. sieht sich in seiner Menschenwürde dadurch beeinträchtigt, daß ihm das Anlegen einer Überhose verwehrt wurde.
d) Die Bf. beantragen, der VfGH möge kostenpflichtig feststellen, daß sie durch die vorgenommenen Festnahmen in "ihren verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten" verletzt wurden. Im Falle der Nichtstattgabe beantragen sie die Abtretung der Beschwerden an den VwGH.
2. a) Die bel. Beh. - vertreten durch die Finanzprokuratur - erstattete eine Gegenschrift, in der sie den Sachverhalt wie folgt schilderte:
In der Nacht vom 15. zum 16. Juni 1983 habe Insp. R P während zweier
Turnusse (von 19 bis 22 Uhr und von 1 bis 4 Uhr) Überwachungsdienst
beim Stadttempel der Mosaischen Kultusgemeinde in Wien ... zu
verrichten gehabt. Das erste Mal seien ihm die später Festgenommenen
aufgefallen, als sie das in Wien ... etablierte Lokal "W S" laut
streitend verlassen hätten. Kurz darauf seien die beiden wieder in das Lokal zurückgekehrt. Gegen 2 Uhr hätten sie dann das Lokal wieder verlassen, wobei sie abermals in einem lautstark geführten Streit verfangen gewesen seien. Worum es hiebei gegangen sei, habe der Beamte zwar nicht wahrgenommen, doch habe er den Eindruck gehabt, daß sich die beiden in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand befunden hätten, daß offenbar die Frau besonders erregt gewesen sei, da sie zeitweilig urlautartige Schreie von sich gegeben habe und daß der Mann eher bestrebt gewesen sei, auf sie beruhigend einzuwirken. Die beiden seien in das vis-a-vis gelegene Haus gegangen, worauf es vorerst ruhig gewesen sei. Bald danach sei jedoch aus einem geöffneten Fenster im 4. Stock dieses Hauses - der Raum dahinter sei erleuchtet gewesen - neuerlich der dem Beamten mittlerweile vertraute Lärm des offenbar weiterhin andauernden Streites gedrungen; zeitweilig seien auch Geräusche zu vernehmen gewesen, als ob jemand Ohrfeigen erhalten hätte. Plötzlich habe die Frau, sodaß es der Beamte unten habe verstehen können, gerufen: "schlag mich doch" und gleich darauf habe Insp. P einen dumpfen Schlag gehört; anschließend sei es völlig ruhig gewesen. Da er nun befürchtet habe, daß die Frau ernsthaft verletzt worden sei, habe er über Funk um Entsendung entsprechender Kräfte ersucht. Dementsprechend hätten die Besatzungen der Funkwagen "Anton 2", bestehend aus den Inspektoren O K und P S, "Sektor 1" und "Sektor 3" entsprechende Einsatzaufträge erhalten.
Als erste sei die Besatzung des Funkwagens "Anton 2" in der S-Gasse eingetroffen. Die Beamten hätten Kontakt mit Insp. P aufgenommen, der ihnen den Sachverhalt geschildert habe. Gleichzeitig seien aber auch sie auf die aus dem Fenster im 4. Stock dringenden Schreie des inzwischen wieder aufgeflammten Streites aufmerksam geworden. Mittlerweile seien auch andere Personen - teils Passanten, teils Gäste aus dem Lokal - hinzugetreten. Außerdem seien nun auch die Besatzungen der beiden "Sektorenwagen" in Einsatzuniform eingetroffen, sodaß insgesamt sieben Sicherheitswachebeamte anwesend gewesen seien. Insp. P sei weiterhin auf seinem Posten geblieben, während die übrigen Beamten nun versucht hätten, in das Haus zu gelangen. Das gänzlich aus Holz bestehende Haustor sei jedoch versperrt gewesen. Sie hätten daher die dort angebrachte Klingel in der Absicht betätigt, den Hausbesorger zu wecken, damit er ihnen Einlaß gewähre. Nach etwa 3 Minuten seien auf der anderen Seite des Tores Schritte zu vernehmen gewesen, und anschließend sei versucht worden, das Tor zu öffnen. Die Beamten hätten sich nun als Polizisten zu erkennen gegeben, worauf ihnen eine männliche Stimme versichert habe, daß alsbald geöffnet werde. Dennoch sei dies während eines etwa 5 Minuten dauernden Zeitraumes nicht gelungen. Da mittlerweile der Streit wieder abgeflaut gewesen sei, sei das Paar, vermutlich durch die von der Straße dringenden Geräusche, auf die im Gang befindliche Amtshandlung aufmerksam geworden. Plötzlich habe das Paar aus dem Fenster geblickt, und der Mann habe gefragt, ob die Beamten in das Haus gelangen wollten, was diese bejaht hätten, worauf er mitgeteilt habe, daß er herunterkommen würde. Tatsächlich hätten die Beamten kurze Zeit später die Stimme dieses Mannes gehört, aber auch jene der Frau, die sofort und ziemlich lautstark ihren Unmut darüber Luft gemacht habe, daß sich die Beamten, unberechtigt, wie sie meinte, in ihre privaten Angelegenheiten eingemischt hätten. Hiebei habe sie auch Schimpfworte gebraucht. Schließlich sei es den drei Personen doch gelungen, das Tor zu öffnen. Die Beamten hätten sich nun zwei Männern und einer Frau konfrontiert gesehen, wobei einer der Männer, offenbar der Hausbesorger, sich in keiner Weise geäußert habe, der andere, der nur mit einem T-Shirt und einer kurzen Hose bekleidet gewesen sei, versucht habe, beruhigend auf die Frau einzuwirken. Diese jedoch habe die Beamten überhaupt nicht zu Wort kommen lassen, sondern habe weitergeschimpft, wobei sie immerzu ihrer Ansicht Ausdruck verliehen habe, daß sie und der Mann streiten könnten, soviel sie wollten, das ginge die Polizeibeamten gar nichts an. Sie sei daher von Insp. K abgemahnt worden, ihr lautes und ordnungsstörendes Verhalten einzustellen und ruhig mit ihm zu reden. Diese Abmahnung habe nun den Mann veranlaßt, sich mit der Zurechtgewiesenen zu solidarisieren, und auch er habe begonnen, die Beamten zu beschimpfen, und habe verlangt, von ihnen in Ruhe gelassen zu werden. Insp. K habe daher auch ihn aufgefordert, sein Verhalten einzustellen. Dessenungeachtet hätten beide weitergeschimpft, sodaß sie von dem Beamten neuerlich abgemahnt hätten werden müssen, wobei er ihnen diesmal, für den Fall der Fortsetzung, die Festnahme angedroht habe. Da auch dies fruchtlos geblieben sei, habe Insp. K hinsichtlich beider Personen die Festnahme ausgesprochen. Als die beiden nun bemerkt hätten, was passiert war, hätten sie versucht, die Amtshandlung herabzuspielen, indem sie darauf hingewiesen hätten, daß doch eigentlich gar nichts geschehen sei und daß sich die Beamten schließlich in ihre Angelegenheiten eingemischt hätten. Diese hätten sich jedoch auf keine weiteren Diskussionen eingelassen, sondern hätten sie, indem je zwei Beamte sie an den Oberarmen erfaßt hätten, zu den Fahrzeugen eskortiert und dem Bezirkspolizeikommissariat Innere Stadt überstellt. Im Kommissariat eingetroffen, habe Insp. K dem Wachkommandanten, Grlnsp. J S, über den Vorfall Bericht erstattet und anschließend anhand der Angaben der beiden Festgenommenen deren vorläufige Identifizierung vorgenommen. Mittlerweile habe Grlnsp. S mit dem zuständigen rechtskundigen Beamten des Zentraljournaldienstes, OR Dr. R Z, telefonisch Kontakt aufgenommen und ihm den Sachverhalt geschildert; der Behördenvertreter habe daraufhin die Abgabe in den Arrest verfügt. Beide Festgenommenen seien demgemäß in das Arrestlokal des Bezirkspolizeikommissariates gebracht worden.
Aufgrund der von Insp. K erstatteten Anzeige habe das Bezirkspolizeikommissariat Innere Stadt gegen beide Bf. ein Verwaltungsstrafverfahren wegen Verdachtes der Übertretung des ArtVIII, beide Tatbestände, EGVG 1950 und wegen Verdachtes der Übertretung des ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 eingeleitet. Zunächst sei die routinemäßige Priorierung erfolgt, wobei die Bf. durch ihren Vater und der Bf. durch seine Mutter endgültig identifiziert worden sei. Die Priorierung sei mit Einlangen der Auskunft aus dem Strafregister um 9.35 Uhr abgeschlossen gewesen. Daraufhin habe der Journaldienst versehende Beamte des rechtskundigen Dienstes eine Verwaltungsstrafverhandlung durchgeführt und über die Beschuldigten wegen Übertretung des ArtVIII EGVG 1950 (zwei Tatbestände) Geldstrafen in der Gesamthöhe von je 400 S, ersatzweise 24 Stunden Arrest, wegen Übertretung des ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 eine Geldstrafe von 400 S, ersatzweise 20 Stunden Arrest, verhängt. Die Bestraften hätten in beiden Fällen einen Berufungsverzicht abgegeben, sodaß die Bescheide in Rechtskraft erwachsen seien. Anschließend seien die Bestraften um 10.20 Uhr aus der Haft entlassen worden.
b) Die bel. Beh. beantragt, die Beschwerden kostenpflichtig abzuweisen. Sie führt im wesentlichen aus, daß die Bf. gemäß §35 litc VStG 1950 zu Recht festgenommen worden seien. Sie hätten durch einen lautstark geführten Streit ungebührlicherweise störenden Lärm erregt und die Ordnung an einem öffentlichen Ort gestört; dieses ordnungsstörende und lärmerregende Betragen habe die Bf., nachdem sie zum Haustor gekommen war, und der Bf. nach Zurechtweisung und Abmahnung der Bf. wiederholt. Überdies hätten sie dann die Polizeibeamten mit unflätigen Ausdrücken beschimpft und ihr Gesamtverhalten auch nach neuerlicher Abmahnung nicht eingestellt. Die Bf. hätten somit ein Verhalten gesetzt, das vertretbar als Störung der Ordnung, Erregung ungebührlicher Weise störenden Lärmes und Anstandsverletzung qualifiziert habe werden können, wobei sie von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes auf frischer Tat betreten worden seien, dieses Verhalten ungeachtet mehrmaliger Abmahnung fortgesetzt hätten und daher rechtmäßig festgenommen worden seien.
Von einer unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung der Bf. könne nicht die Rede sein. Die Bf. habe diesbezüglich auch gar nichts vorgebracht, was geeignet wäre anzunehmen, daß sie erniedrigend behandelt worden sei. Im Fall des Bf. sei es für die einschreitenden Beamten nicht erkennbar gewesen, daß der Bf. lediglich mit Unterwäsche bekleidet war; er habe darauf auch nicht hingewiesen und kein Verlangen geäußert, sich vollständig bekleiden zu dürfen.
II. Der VfGH hat erwogen:
1. Der VfGH hat Beweis erhoben durch die Einvernahme der Zeugen Insp.
O K und Insp. R P sowie der Bf. N W und C B als Parteien im Rechtshilfewege sowie durch Einsichtnahme in die Akten Pst 12.638 bis 12.641/83 der Bundespolizeidirektion Wien. Die Einvernahme des Hausbesorgers J R konnte nicht mehr erfolgen, da dieser zum Zeitpunkt der Rechtshilfetagsatzung bereits verstorben war.
2. Der VfGH nimmt aufgrund des Parteienvorbringens und der durchgeführten Beweisaufnahme folgenden entscheidungswesentlichen Sachverhalt als erwiesen an:
In den frühen Morgenstunden des 16. Juni 1983 (gegen 2 Uhr) waren die Bf. in einem lautstarken Streit verfangen, den sie in einer Wohnung im vierten Stock des Hauses S-Gasse Wien bei geöffneten Fenstern führten. Insp. R P, der beim Stadttempel der Mosaischen Kultusgemeinde in Wien Überwachungsdienst hatte, wurde auf die lautstark geführte Auseinandersetzung aufmerksam. Als er das Geräusch eines dumpfen Schlages vernahm, befürchtete er, daß jemand ernsthaft verletzt worden sein könnte, und ersuchte über Funk um Entsendung entsprechender Polizeikräfte.
Bald darauf trafen insgesamt sechs Sicherheitswachebeamte am Einsatzort ein. Diese versuchten, nachdem sie Kontakt zu Insp. P aufgenommen hatten, in das Haus, aus dessen Fenster im vierten Stock der Streit deutlich vernehmbar war, zu gelangen. Dies gelang nicht, da das Tor versperrt war. Deshalb weckten die Beamten den Hausbesorger, damit dieser ihnen Einlaß gewähre. Nach wenigen Minuten versuchte der Hausbesorger, das Tor von innen zu öffnen, was zunächst mißlang, da es klemmte.
Mittlerweile wurde der Bf. auf den Polizeieinsatz aufmerksam und fragte aus dem geöffneten Fenster, ob er zum Tor hinunterkommen sollte. Da dies von den Polizeibeamten bejaht wurde, eilte der Bf. - mit Leibchen und Unterhose bekleidet - zum Tor. Die Bf. folgte ihm. Schließlich gelang es, das Tor zu öffnen.
Im Zuge der weiteren Amtshandlung hat zunächst die Bf. und dann auch der Bf. die einschreitenden Polizeibeamten lautstark beschimpft und ihnen insbesondere bedeutet, daß sie sich nicht einzumischen hätten. Das Verhalten der Bf. bewirkte, daß mehrere Passanten stehenblieben und den Vorfall beobachteten. Sowohl die Bf. als auch der Bf. wurden von Insp. K mehrmals ermahnt, ruhig zu sein. Da die Bf. ihr Verhalten trotzdem nicht änderten, wurden sie - gegen 2.30 Uhr - festgenommen und in das Polizeikommissariat Wien I, Deutschmeisterplatz, verbracht.
Dort wurden sie bis zum frühen Vormittag festgehalten und nach endgültiger Identifizierung und Durchführung von Verwaltungsstrafverfahren gegen 10.30 Uhr entlassen.
3. Diese Feststellungen stützen sich teilweise auf die übereinstimmenden Aussagen der Bf. und der Zeugen Insp. K und Insp.
P. In der Frage des Verhaltens der Bf. den Polizeibeamten gegenüber während der Amtshandlung folgte der VfGH den glaubhaften Darstellungen der bel. Beh. Den Ausführungen in den Beschwerden zu diesem Thema war deshalb nicht zu folgen, weil sie im Widerspruch zu den von der Bf. während der Einvernahme gemachten Aussagen stehen:
während in den Beschwerden der Sachverhalt so dargestellt wird, daß die Festnahme offenbar deshalb ausgesprochen wurde, weil die Bf. die ausgesprochene Organstrafverfügung nicht bezahlen konnten, gibt die Bf. anläßlich ihrer Einvernahme zu, zum fraglichen Zeitpunkt sehr erregt gewesen zu sein und sich lautstark gegen den Polizeieinsatz gewendet zu haben. Dieses Verhalten wurde auch vom Bf. anläßlich seiner Einvernahme bestätigt. Im übrigen gab die Bf. auch an, sich aufgrund ihrer Erregtheit an manches nicht genau erinnern zu können. Soweit die Bf. energisch bestreiten, die von den Polizeibeamten angegebenen Schimpfwörter verwendet zu haben, kann es dahingestellt bleiben, ob einzelne angeführte Ausdrücke tatsächlich gefallen sind.
In der Frage der Bekleidung des Bf. folgte der VfGH dessen Angaben; der Darstellung in der Gegenschrift war deshalb nicht zu folgen, weil die Polizeibeamten anläßlich ihrer Einvernahme ausdrücklich bestätigten, daß der Bf. lediglich Unterwäsche trug.
Weitere Feststellungen sind, wie sich zeigen wird, aus rechtlichen Erwägungen entbehrlich.
III. 1. Die Festnehmung der Bf. durch Organe der Bundespolizeidirektion Wien, ihre Verbringung in das Polizeikommissariat Wien I, Deutschmeisterplatz, und ihre Verwahrung dort sind in Ausübung verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt ergangene Verwaltungsakte, die nach Art144 B-VG beim VfGH bekämpft werden können.
Die Beschwerden sind zulässig.
2. Der festgestellte Sachverhalt ist unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit wie folgt zu beurteilen:
Nach §4 des Gesetzes vom 27. Oktober 1862, RGBl. 87, zum Schutze der persönlichen Freiheit dürfen die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen. Hiezu zählt auch die Bestimmung des §35 VStG 1950, auf die sich die bel. Beh. beruft. Die Bf. wären sohin durch die Festnehmung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit nur verletzt worden, wenn die Festnehmung nicht in dieser Gesetzesvorschrift begründet wäre (vgl. zB VfSlg. 9368/1982, 9266/1981, 9208/1981, 8654/1979, 8580/1979, 10229/1984). Nach der litc des §35 VStG dürfen auf frischer Tat betretene Personen zum Zwecke ihrer Vorführung vor die Behörde festgenommen werden, wenn sie trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharren oder sie zu wiederholen suchen.
Die Festnehmung einer Person nach dieser Bestimmung setzt demnach voraus, daß die Person "auf frischer Tat betreten wird". Das Sicherheitswacheorgan muß also selbst ein Verhalten unmittelbar wahrnehmen, das es zumindest vertretbarerweise als eine als Verwaltungsübertretung strafbare Tat qualifizieren kann (vgl. auch hiezu zB VfSlg. 9368/1982, 9208/1981).
Nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 in geltender Fassung begeht eine Verwaltungsübertretung, wer durch ein Verhalten, das Ärgernis zu erregen geeignet ist, die Ordnung an öffentlichen Orten stört.
Das Tatbild dieser Verwaltungsübertretung ist nach der Rechtsprechung des VfGH (VfSlg. 8145/1977, 8146/1977, 8580/1979, 9860/1983) und des VwGH (VwSlg. 2263 A/1951, 6581 A/1965, 7815 A/1970) durch zwei Elemente gekennzeichnet: Der Täter muß einmal ein Verhalten zeigen, das geeignet ist, bei einem normal empfindenden Menschen Ärgernis zu erregen; zum zweiten muß durch dieses Verhalten die Ordnung an einem öffentlichen Ort gestört, also ein Zustand hergestellt worden sein, welcher der Ordnung widerspricht, wie sie an einem öffentlichen Ort gefordert werden muß.
Die Sicherheitswachebeamten wurden von den Bf. anläßlich einer Amtshandlung in Wien, S-Gasse, die knapp nach 2 Uhr früh stattgefunden hat, in eine lautstarke Auseinandersetzung verwickelt. Das Verhalten der Bf. bewirkte, daß mehrere Passanten stehenblieben und den Vorfall beobachteten.
Bei dieser Sachlage konnten die anwesenden Sicherheitswachebeamten zumindest vertretbarerweise annehmen, die Bf. hätten eine Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 idF der Nov. BGBl. 232/1977 begangen. Da die Bf. trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrten, war der Festnahmegrund der litc des §35 VStG 1950 gegeben. Die Festnahme erfolgte sohin aus den angeführten Gründen gesetzmäßig. Bei diesem Ergebnis braucht nicht darauf eingegangen zu werden, ob sie auch noch aus anderen Gründen gerechtfertigt werden könnte (VfSlg. 8045/1977).
Da das Verfahren auch keine Anhaltspunkte ergeben hat, daß die im Anschluß an die Festnahme der Bf. erfolgte Anhaltung bis gegen 10.30 Uhr des 16. Juni rechtswidrig gewesen wäre (vgl. dazu VfSlg. 9368/1981), wurden die Bf. durch die erfolgte Festnahme und die darauf folgende Anhaltung in Verwaltungshaft nicht in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt.
2. Die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (MRK), BGBl. 210/1958, die gemäß dem Bundesverfassungsgesetz BGBl. 59/1964 im Verfassungsrang steht, bestimmt in ihrem Art3, daß niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf.
Eine Festnahme und Anhaltung, mag sie auch unter Einsatz der nötigen Körperkraft erfolgen, verletzt nicht schon allein die Verfassungsbestimmung des Art3 MRK; vielmehr verstoßen derartige physische Zwangsakte gegen das im Art3 MRK statuierte Verbot "erniedrigender und unmenschlicher Behandlung" nur dann, wenn qualifizierend hinzutritt, daß ihnen eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Mißachtung des Betroffenen als Person zu eigen ist (VfSlg. 9983/1984 und die dort zitierte weitere Vorjudikatur; 10378/1985).
Eine Verletzung der Bf. in ihren nach Art3 MRK gewährleisteten Rechten hat nicht stattgefunden. Im Verfahren ist nicht hervorgekommen, daß sie über die Festnahme und Anhaltung hinaus einer Behandlung unterzogen worden wäre, die zu einer Verletzung dieser Rechte geführt hätte.
Die Bf. wurde in ihren durch Art3 MRK gewährleisteten Rechten somit nicht verletzt.
Dagegen treffen die angeführten Voraussetzungen beim Bf. hinsichtlich seiner Verbringung in Verwaltungshaft, nur mit Unterhose und T-Shirt bekleidet, zu. Nach der gegebenen Sachlage lag kein hinreichender Grund dazu vor, den Bf. nach der von den Organen ausgesprochenen Festnehmung nur mit Unterhose und T-Shirt bekleidet in die Verwaltungshaft abzuführen. Vielmehr wäre es leicht möglich gewesen, dem Bf. Gelegenheit zu geben, sich vor der Verbringung in Verwaltungshaft in einer dem Ort und der Zeit entsprechenden Weise zu bekleiden. Dadurch, daß der Bf. ohne zwingenden Grund nur mit Unterhose und T-Shirt bekleidet in Verwaltungshaft verbracht wurde, war er einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt.
Der Bf. ist hiedurch in seinem Recht, entsprechend Art3 MRK nicht einer erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.
3. Der Beschwerde des C B war aus den unter 2. angeführten Gründen in dem unter I. des Spruches umschriebenen Umfang wegen Verletzung des durch Art3 MRK gewährleisteten Rechtes Folge zu geben.
Da eine Verletzung der Bf. in einem anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht nicht stattgefunden hat, aber auch kein Anhaltspunkt dafür besteht, daß die Bf. infolge Anwendung einer gesetzwidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt wurden, war die Beschwerde der N W zur Gänze, die des C B in dem unter II. des Spruches umschriebenen Umfang als unbegründet abzuweisen.
4. Die Bf. N W sieht in ihrer Festnahme und darauf folgenden Anhaltung allein schon eine erniedrigende Behandlung gemäß Art3 MRK. Einen darüber hinausgehenden Sachverhalt, der eine erniedrigende Behandlung dartun könnte, macht sie nicht geltend. Da der VfGH jedoch unter dem Blickwinkel des Rechtes auf persönliche Freiheit die Gesetzmäßigkeit einer Verhaftung und Anhaltung schlechthin zu prüfen hat, wird mit der Behauptung, in gesetzwidriger Weise festgenommen und angehalten worden zu sein, in Wahrheit ausschließlich die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit geltend gemacht. Eine Abtretung der Beschwerde der N W an den VwGH kommt daher nicht in Betracht (vgl. VfSlg. 9368/1982, 10229/1984); weswegen der darauf gerichtete Antrag der Bf. - ebenso wie der des Bf. im Umfang der Abweisung seiner Beschwerde - abzuweisen war.
Schlagworte
Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Festnehmung, VfGH / Abtretung, VfGH / KostenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1986:B470.1983Dokumentnummer
JFT_10139681_83B00470_00